Ein Gespräch mit der Bundestagsabgeordneten Claudia Lücking-Michel„Heute muss um Kompromisse gerungen werden“

Häufig wird beklagt, der Einfluss der Kirchen auf die Politik werde immer geringer. Ob diese Diagnose überhaupt stimmt, woran die politischen Einflussmöglichkeiten gemessen werden können und welche Aufgabe diesbezüglich das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat, darüber sprachen wir mit der CDU-Bundestagsabgeordneten und ZdK-Vizepräsidentin Claudia Lücking-Michel. Die Fragen stellte Alexander Foitzik.

HK: Frau Dr. Lücking-Michel, als bekannt wurde, dass die frühere Bundesbildungsministerin Annette Schavan als Botschafterin der Bundesrepublik beim Vatikan designiert ist, kritisierten konservative Kreise innerhalb der Kirche: Die CDU-Politikerin habe nicht die Position der Kirche vertreten, etwa in der Ausei­nandersetzung um die Schwangerschaftskonfliktberatung und auch nicht bei der gesetzlichen Regelung der Stammzellforschung. Ist solche Empörung ein Einzelfall oder ist sie eher symp­tomatisch? Welche Erwartungshaltung an christliche Politiker und Politikerinnen steckt hinter solcher Kritik?

Lücking-Michel: Sie ist symptomatisch, auch wenn die Themen Schwangerenkonfliktberatung und Stammzellforschung sicherlich zu besonders intensiven gesellschaftlich-politischen Auseinandersetzungen geführt haben und Frau Schavan eine der exponiertesten Personen in diesen Debatten war. Das Grundmuster hinter solcher Kritik begegnet aber auch anderen Politikern und Politikerinnen selbst bei weit weniger dramatischen oder existenziellen politischen Fragen: Die Vorstellung nämlich, dass es zu bestimmten Sachfragen eindeutige Antworten gibt, die sich, gespeist aus einer christlichen Überzeugung, quasi automatisch ergeben und die entsprechend von allen christlichen Politikern nur eins zu eins in politisches Handeln umgesetzt werden müssen.

HK: Wie geht man als Politikerin mit solcher Kritik, einer solchen Erwartungshaltung sinnvoll um?

Lücking-Michel: Die erste große Lernaufgabe für uns besteht darin, zu sagen, ich bin Christin, ich bin von einer christlichen Überzeugung getragen, aber auch Christen können in ein und derselben Sachfrage zu unterschiedlichen Antworten kommen. Aus einer christlichen Überzeugung heraus lässt sich gegen die Atomkraft kämpfen. Andere vertreten mit der gleichen christlichen Überzeugung die Meinung, dass eine sozial gerechte Energieversorgung nicht ohne Atomkraft zu bewerkstelligen ist. Es gibt auf die Fragen unserer Zeit nicht die eine Bibelstelle, wo man nur nachschlagen und lesen muss, um zu wissen, was zu tun und zu lassen ist. Grundüber­zeugungen müssen in die Herausforderungen unserer Zeit hinein übersetzt werden, selbstverständlich verbunden mit dem jeweiligen aktuellen Sach- und Kenntnisstand. Die Jahre sind lange vorbei, in denen Bischöfe oder Kirchenleitungen erwarten konnten, dass ihre Positionen direkt von der Politik umgesetzt werden. Heute muss man um Kompromisse ringen.

HK: Dieses Ringen um Kompromisse wird aber von manchen, bestes Beispiel ist wieder die Debatte um die Schwangerschaftskonfliktberatung, gerade als Preisgabe von Überzeugungen, als Einknicken bei der eigenen Position gewertet…

Lücking-Michel: Die ganze Debatte um die Schwangerschaftskonfliktberatung beziehungsweise um den Paragraph 218 war das zentrale Lernfeld für die Kirche in Deutschland und bestand in der Erfahrung, dass man mit den eigenen Positionen als solchen nicht mehr mehrheitsfähig in diesem Land ist. Diejenigen, die dafür gekämpft haben, eine zweitbeste Lösung zu finden, um das Schlechtere zu verhindern, wurden angegriffen und verurteilt mit der Behauptung, dass sie von ihrer christlichen Position abgewichen wären. Damit hat man verkannt, dass Politiker und Politikerinnen trotz ihrer eigenen Position zugleich immer versuchen müssen, mit Mehrheiten das Bestmögliche herauszuholen. In der Auseinandersetzung um die Stammzellforschung hat sich das gleiche Muster wiederholt. Selbstverständlich habe auch ich im Bundestags-Wahlkampf zu verschiedenen Fragen klar Position bezogen und natürlich auch deutlich gesagt, was ich nicht will. Genauso mache ich aber jetzt die Erfahrung, dass wir innerhalb der Großen Koalition eben nicht alles bekommen, so wie ich es gerne hätte. Aber einen Vorwurf nach dem Motto „Politiker lügen alle und kümmern sich nicht darum, was sie letztes Jahr gesagt haben“, muss ich zurückweisen. Ich weiß sehr wohl noch, was ich gesagt habe und was ich für richtig halte. Abgesehen davon, dass man ja auch an der einen oder anderen Stelle dazulernen kann und vielleicht seine Meinung durch neue Erkenntnisse ändert…

HK: Verdächtigungen und Vorwürfe gegenüber Politik und Parteien gibt es dabei innerhalb der Kirche ja nicht nur unter Lebensrechtlern oder traditionalistischen Gruppen. Kommt solche Fundamentalkritik nicht gerade auch von Seiten sozial- oder auch entwicklungspolitisch engagierter, globalisierungskritischer Kreise innerhalb der Kirche, so genannter linken Christen also? Die Stichworte reichen hier von der Asyl- oder Flüchtlingspolitik bis zu Rüstungsexporten.

Lücking-Michel: Sicherlich. Die Kritik am Regierungshandeln ist von dieser Seite besonders stark, gerade in Fragen der Flüchtlingspolitik, aber auch der Entwicklungszusammenarbeit. Dabei sehe ich hier durchaus auch die Aufgabe von zivilgesellschaftlichen Gruppen, erst recht eben auch von kirchlichen Gruppen und Organisationen, mit dem Blick von außen kritische Anfragen an die Politik zu stellen. Aber bitte mit der Bereitschaft zur Unterscheidung! Um Sachfragen muss gerungen werden und auch in diesen Themenbereichen kommt man zu unterschiedlichen Positionen, gibt es Fragen, in denen eine Regierung aus verschiedenen Gründen hinter den eigenen Ansprüchen zurückbleibt. So ist es richtig, wenn beispielsweise ein Hilfswerk wie Misereor aus seiner christlich-kirchlichen Position heraus deutlich Kritik an der Regierung übt oder umgekehrt sie unterstützt, wenn jemand wie etwa Bundesentwicklungsminister Müller richtige und wichtige neue Impulse setzt.

„Die eigenen Möglichkeiten dürfen weder überschätzt noch unterschätzt werden“

HK: Muss dieses ja weit über die Kirchen hinaus verbreitete Unverständnis für die Mühen des politischen Alltags und den glanzlosen Kompromiss nicht enorm demotivierend auf alle so genannten Berufspolitiker wirken?

Lücking-Michel: Nein, im Gegenteil. Mich motiviert solche Kritik eher noch, den politischen Arbeitsalltag und die ganz konkreten Arbeitsbedingungen zu beschreiben, zu erklären und um Verständnis zu werben. Es ist eben ein Unterschied, ob ich mich in einer Oppositionsrolle befinde oder gestalten und handeln muss – und zwar nicht als Königin von Deutschland, sondern als Teil eines demokratischen Räderwerks, innerhalb dessen ich meine eigenen Möglichkeiten weder überschätzen noch unterschätzen darf. Ich mache dabei oft die Erfahrung, dass solche Erklärungsversuche durchaus gelingen und auf offene Ohren stoßen.

„Kirchliche Lehrmeinung muss erklärt und für sie Überzeugungsarbeit geleistet werden“

HK: Heißt das umgekehrt aber auch, dass es hier einen noch größeren Vermittlungs- und Kommunikationsbedarf gibt, zwischen der Berufspolitik und der Kirche beziehungsweise kirchlichen Gruppen?

Lücking-Michel: Es gibt da gut funktionierende und andere eher abgestorbene Kommunikationswege. Sehr gut hat in den letzten Jahren beispielsweise beim Thema „Mütterrente“ die Kommunikation zwischen der Politik und den katholischen Frauenverbänden und -organisationen funktioniert. Letztere haben dabei ein sehr klares Verständnis dafür gezeigt, was im Augenblick eben politisch möglich und durchsetzungsfähig ist und was nicht. Sie haben aber ebenso klar erkannt, welche Aufgaben und Rollen sie selbst als zivilgesellschaftliche Gruppen übernehmen müssen. Da lief eine gut organisierte Kommunikation in den Verbänden und hatte entsprechend Erfolg. In einem anderen Bereich, den ich von meiner Aufgabe her gut überblicke, nämlich die Entwicklungszusammenarbeit, würde ich mir wünschen, dass wieder mehr kirchliche Gruppen politisch aktiv werden und auch lernen, politisch zu argumentieren. Aber der ganze Themenbereich „Entwicklung und Frieden“ scheint auf Pfarreiebene gegenwärtig zu schlummern, beziehungsweise: er wird mit seinen hoch engagierten Akteuren immer älter. Natürlich gibt es hier die kirchlichen Fachorganisationen wie Misereor oder Caritas international, sehr starke Akteure, die in der Regel auch genau wissen, wie sie politisch agieren müssen und was möglich ist. Aber auch ihr Anliegen und Tun kommt ja nicht mehr in die kirchliche Fläche, nicht mehr an der kirchlichen Basis an.

HK: Generell wird beklagt, der Einfluss der Kirchen auf die Politik werde immer geringer. Stimmt die Diagnose? Oder ist bei dieser Klage der Blick zu stark auf Parteipolitik verengt, auf den Dialog zwischen der Kirche und staatlichen Institutionen?

Lücking-Michel: Ob die Diagnose so zutrifft oder nicht, hängt natürlich vom Vergleichspunkt ab. Wenn Sie die fünfziger Jahre nehmen, als die Bischöfe mit einem Hirtenwort Einfluss auf die Wahl nehmen konnten, stimmt sie zweifellos – aber das ist lange her. Heute sind die Einflusswege sehr vielfältig und reichen über die regelmäßigen offiziellen Gespräche mit Parteien und Politikern über das politische Engagement des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) bis hin zu vielen einzelnen Christinnen und Christen, die sich politisch an den unterschiedlichsten Stellen engagieren und mehr oder weniger erfolgreich für ihre Positionen werben. Was heute nicht mehr geht – und ich würde sagen: zum Glück! – ist, dass man kirchlicherseits bestimmte Positionen diktiert. Man muss mit Argumenten aufwarten, um Überzeugungen ringen, kirchliche Lehrmeinung muss erklärt und für sie Überzeugungsarbeit geleistet werden.

HK: Bei welchem aktuellen politischen Thema sehen Sie in absehbarer Zeit das größte Spannungspotenzial?

Lücking-Michel: Vermutlich werden das die Fragen rund um das Ende des Lebens, das Thema Sterbehilfe sein. Hier werden Christinnen und Christen in nächster Zeit in der gesellschaftlichen Debatte sehr stark gefordert werden. Auch hier sind die Zeiten vorbei, wo die Kirche einfach nur sagen konnte, das geht und das geht nicht. Wir müssen uns hier alle gegen den Wind stellen. Und vor allem erklären, warum wir etwas so sehen und nicht anders. Man muss angemessen reagieren auf die Ängste und Befürchtungen oder auch auf die Vorstellungen von Eigenständigkeit und Selbstbestimmung, die in unserer Gesellschaft weit verbreitet sind.

HK: Wie schätzen sie das Interesse an politischen Sachfragen, die Bereitschaft zu politischem Engagement überhaupt ein in den Pfarrgemeinden, unter den Durchschnittskatholiken und -katholikinnen?

Lücking-Michel: Ich weiß nicht, ob man in diesem Bereich sinnvoll vom Durchschnittskatholiken oder der Durchschnittsgemeinde sprechen kann. Wenn wir etwa auf die Entwicklungszusammenarbeit schauen, gab es sicherlich Phasen, in denen kirchliche Positionen politisierter waren, die Politik getränkter mit klareren Positionen. Aber ich glaube, man sollte hier eher vom Durchschnittsbürger sprechen und sich fragen, ob sich die Katholiken überhaupt von diesem abheben. Ich glaube das nicht. Wir haben hier kein besonderes Problem in der Kirche. Insgesamt muss hierzulande wieder mehr darum gerungen werden, dass allen klar ist, dass eine gute Demokratie auch gute Demokraten braucht. Alle sind gefragt, nach ihren Möglichkeiten und an ihren Orten ihren Beitrag zu leisten.

HK: Besteht dabei nicht grundsätzlich die Gefahr, dass man das politische Engagement der Kirchen viel zu stark an offiziellen Verlautbarungen und Erklärungen der Bischöfe misst und etwa das Engagement einzelner Gruppen in den unterschiedlichsten Sachproblemen übersieht?

Lücking-Michel: Beide Ebenen müssen doch zusammenwirken. Gerade in ihren Wahlkreisen erleben Berufspolitiker, wie viel ehrenamtliches Engagement es gibt, wie viele Ehrenamtliche aber auch in größeren Zusammenhängen aktiv sind: Die sind im Ortsausschuss, in der Pfarrgemeinde und im CDU-Ortsverband vernetzt und wollen etwas für die Menschen in ihrem Stadtteil bewirken, für die Situation vor Ort. Das ist politisches Handeln mit einem klaren Bezug zu dem, was sie bewegen wollen. Und nehmen Sie doch nur das Beispiel Flüchtlingspolitik. Das eine ist, hier in Berlin zu erklären: Wenn Deutschland nur 10 000 Flüchtlinge aus Syrien aufnimmt, ist das blamabel und deshalb erhöhen wir die Zahl, prüfen auch noch andere Einreisemöglichkeiten. Aber: Das alles wird nicht funktionieren, wenn nicht vor Ort, dort, wo die ersten Container für die Flüchtlinge aufgestellt werden, Leute auch positiv auf ihre Mitbürger zugehen und sie davon überzeugen, dass es keine Katastrophe ist, wenn in der Nachbarschaft ein Flüchtlingsheim entsteht.

„Religionszugehörigkeit oder Kirchenmitgliedschaft sind ein guter Anknüpfungspunkt“

HK: Die politischen Einflussmöglichkeiten der Kirchen werden auch daran gemessen, wie viele sozusagen bekennende Christen und Christinnen es in Regierungen und Parlamenten auf Bundes- und Landesebene gibt. Deren Zahl nimmt weiter ab, auch wenn hier in Berlin die oberste Etage mit vor allem bekennenden Protestanten und Protestantinnen gut besetzt ist…

Lücking-Michel: Auch in dieser Frage können wir die Situation im Bundestag und in der Regierung heute nicht mit der in den fünfziger Jahren vergleichen. Als erstes müssen wir schauen, wie sich die Gesellschaft insgesamt verändert hat. Dabei zeigt sich, dass proportional der Anteil derer, die als Christen in der Politik aktiv sind, gar nicht gesunken ist, vermutlich sogar noch stärker wurde. Zum Beispiel ist im Bundestag das ZdK gut, der Katholische Deutsche Frauenbund mit 14 Mitgliedern sogar sehr gut vertreten, auch wenn wir in der Regierung im Augenblick mehr Protestanten haben als Katholiken. Wenn man insgesamt schaut, dass alle Minister der aktuellen Regierung ihren Amtseid mit der Gottesformel gesprochen haben, gibt es wirklich wenig Grund zu sagen, die christliche Motivation unter den Berufspolitikern spiele keine Rolle mehr.

HK: Was steckt den überhaupt dahinter, wenn ich anfange, die Christinnen und Christen in der Politik allgemein oder konkret im Bundestag und der Regierung zu zählen? Arbeiten Christen und Christinnen besser zusammen? Was bedeutet das weltanschauliche Bekenntnis im politischen Alltag? Gerade auch für jemand, der wie Sie neu dazukommt?

Lücking-Michel: Wenn ich auf Christinnen und Christen treffe, ist es in vielen Sachfragen einfacher, auch naheliegender, eine Grundoption zu formulieren. Aber natürlich ist das oft auch ebenso gut mit Kollegen und Kolleginnen möglich, die nicht explizit das Schild Christ und Christin tragen. Und man kommt persönlich nicht automatisch deswegen mit jemandem gut aus, weil in seinem Profil des Bundestagshandbuchs „katholisch“ steht. Aber natürlich ist die Religionszugehörigkeit oder eine Kirchenmitgliedschaft erst einmal ein guter Anknüpfungspunkt, wenn ich jemanden neu kennenlerne und mit ihm – oder mit ihr – gemeinsam Politik gestalten will.

HK: Stößt umgekehrt auch auf Vorbehalte, wem das Etikett „Kirchenfrau“ anhaftet und wenn man dann auch noch zu allem Überfluss als promovierte katholische Theologin ins politische Berlin kommt?

Lücking-Michel: Hier erlebe ich manchmal, dass, wenn man als katholische „Kirchenfrau“ gilt, alle weiteren innerkirchlichen Differenzierungen keine Rolle spielen. Also dass man etwa innerhalb des ZdK für eine bestimmte, womöglich durchaus kirchenkritische Position steht. Eine Unterscheidung nach bestimmten innerkirchlichen Lagern nehmen die wenigsten vor. In meinem Wahlkreis in Bonn fanden es einige beruhigend, dass da eine Kirchenfrau, eine Theologin für die CDU antritt, andere haben das dagegen sehr kritisch gesehen. Ich wurde selbst mit dem Vorwurf konfrontiert, der verlängerte Arm Kardinal Meisners zu sein. Da hatte jemand offensichtlich wenig Einblick, aber seine Sorge bestand.

„Was nicht organisiert ist, ist gesellschaftlich nicht existent“

HK: Sie waren lange Jahre erst Referentin, dann Generalsekretärin des Cusanuswerks, der Studienförderung der Deutschen Bischofskonferenz. Damit waren Sie sozusagen mitverantwortlich für die Förderung einer katholischen Elite. Wie steht es denn bei diesen jungen Studierenden um die Bereitschaft, sich politisch zu engagieren? Früher galten ja beispielsweise die katholischen Verbände als das klassische Rekrutierungsfeld für katholische Politikerinnen und Politiker.

Lücking-Michel: Die Cusanerinnen und Cusaner sind ein gutes Beispiel: Sie sind überdurchschnittlich hoch motiviert, sich zu engagieren, auch für politische Themen. Aber eher selten und vermutlich sogar unterdurchschnittlich in ihrer Altersgruppe sind sie bereit, sich in die klassischen Parteistrukturen zu begeben. Im Gegenteil: Sie sind sehr interessiert an politischen Fragen, engagiert in Eine-Welt-Gruppen, in der Hochschulpolitik, in anderen vorpolitischen Organisationen. Sie beteiligen sich dabei aber vor allem an Projekten, Einzelaktionen. Ein länger dauerndes Engagement, womöglich eine feste Mitgliedschaft, ist für viele von ihnen kaum attraktiv. Politische Parteien werden von den meisten mit spitzen Fingern angefasst.

HK: Damit zeigen sie sich doch nur als Kinder ihrer Zeit…

Lücking-Michel: Natürlich, und ich selbst habe ja auch keine typische Parteienkarriere hinter mir, etwa von der „Schüler Union“ über den „Ring Christlich-Demokratischer Studenten“ zum Vorsitz im Kreisverband. Ich habe durchaus eine Weile gebraucht, mich für eine Partei zu entscheiden, weil ich auch lange gebraucht habe zu akzeptieren, dass es die eine Partei eben nicht gibt, bei der alles passt, von den Inhalten bis zur Organisationsstruktur. Auch hier gilt, dass man für sich einen Kompromiss finden muss. Aber ebenso richtig ist: Wenn man sich nicht organisiert, kann man auch keine nachhaltige Wirkung mit seinem Engagement erzielen. Oder wie es der Gründer des Cusanuswerks, Bernhard Hanssler, formuliert hat: Was nicht organisiert ist, ist gesellschaftlich nicht existent.

„Auch im ZdK sind viele unterschiedliche politische Positionen vertreten“

HK: Wie ließe sich also beispielsweise unter Studierenden für ein auch parteipolitisches Engagement werben?

Lücking-Michel: Indem man deutlich macht, dass wir alle zusammen Verantwortung für unsere Gesellschaft tragen. Nur auf den Zuschauerrängen sitzen und auf die Politiker und deren Handeln schauen, reicht eben nicht. Wir brauchen diejenigen, die sich in die Pflicht nehmen lassen und selber in die Arena runtersteigen. Wie das eigene Handeln dann konkret wird, das kann so vielfältig sein, wie die Menschen sind. Es muss wahrlich nicht jeder in eine Partei eintreten. Aber umgekehrt sollte man auch die Option eines parteipolitischen Engagements bitte nicht von vornherein ausschließen! Die Arbeit als Politikerin bringt noch einmal ganz eigene Gestaltungsmöglichkeiten mit sich; die habe ich anderswo nicht.

HK: Sie sind Vizepräsidentin des ZdK. Die engen Verbindungen, die früher zwischen den katholischen Verbänden und gerade der CDU bestanden haben und die damit auch das ZdK und sein politisches Engagement prägten, bestehen heute in dieser Form nicht mehr. Was bedeutet diese Entwicklung für das Laiengremium und seine politische Arbeit, aber auch für sein Standing in der deutschen Öffentlichkeit?

Lücking-Michel: Das ist sozusagen die Frage, die das ZdK dauerhaft beschäftigt, auf die wir im Präsidium ein Hauptaugenmerk richten. Mit Blick auf die engen Verbindungen, die zwischen ZdK und CDU früher bestanden, würde ich sagen: Zum Glück gibt es da heute keine Automatismen mehr. Denn wenn die Mitgliedschaft im ZdK keine selbstverständliche Mitgliedschaft bei der CDU mehr bedeutet, heißt das ja auch, dass man sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit als SPD-Mitglied oder Mitglied einer anderen Partei beim ZdK engagieren kann. Das ZdK ist viel breiter und offener geworden, weil man sieht, dass es in den verschiedenen Parteien überall engagierte Christinnen und Christen gibt. Es kommt darauf an, dass wir aus dem breiten politischen Spektrum Vertreter im ZdK haben. Und es ist für die Wirkmächtigkeit natürlich gut, wenn darunter auch einige Prominente sind. Ein anderes Hauptaugenmerk liegt daher auf der Suche nach Politikerinnen und Politikern, die zwar eingebunden sind durch ihre Ämter und Funktionen und einen öffentlichen Namen haben, die aber trotzdem die Bedeutung des ZdKs erkennen und bereit sind, sich hier einzubringen.

HK: Ist es für solche Leute überhaupt noch eine Option, ins ZdK zu gehen und sich als Mitglied zu engagieren?

Lücking-Michel: Immer wieder hört man diese Anfrage, ob es sie noch gibt. Aber die gegenwärtige Vollversammlung ist in dieser Hinsicht so gut aufgestellt wie schon lange nicht mehr, mit beispielsweise drei Ministerpräsidenten. Es gibt auch einen natürlichen Generationenwechsel. Große politische Leitfiguren im ZdK wie etwa Hans Maier, Bernhard Vogel, Erwin Teufel, Hanna Renate Laurien oder Annette Schavan sind leider nicht mehr dabei. Aber es kommen ja andere nach.

HK: Immer wieder ist dabei auch aus den eigenen Reihen der Vorwurf zu hören, das ZdK habe sich durch sein intensives innerkirchliches Engagement sozusagen auch selbst entpolitisiert. Schwächt die Beschäftigung mit innerkirchlichen Fragen nicht zwangsläufig das politische Engagement?

Lücking-Michel: Es ist gerade der amtierende ZdK-Präsident Alois Glück, der nicht müde wird, geradezu mantrahaft den Anspruch des ZdK zu bekräftigen, dass wir einen öffentlichen Auftrag haben, wir uns um außerkirchliche Themen kümmern und gesellschaftlich Position beziehen müssen. Das ist unsere Aufgabe als Laien. Allerdings haben wir in den letzten Jahren, vor allem seit 2010, viele krisenhafte Situationen in der Kirche erlebt und in solchen Krisen ist auch das ZdK besonders gefragt. Natürlich wäre es fatal, wenn wir uns auf innerkirchliche Fragen verengen wollten. Es wäre aber ebenso fatal, wenn wir uns aus dem innerkirchlichen Bereich herausdrängen lassen würden, nach dem Motto „Wenn Ihr Euch draußen in der Welt engagiert, macht Ihr hier drinnen in der Kirche nichts kaputt“. Laien haben Verantwortung für die Welt und die Kirche. Wir sind nicht der Bundespfarrgemeinderat, aber wir werden uns auch nicht das Wort verbieten lassen zu innerkirchlichen Problemen.

HK: Nun äußert sich das ZdK ja zu vielen politischen Fragen und gesellschaftlichen Herausforderungen mit einer Menge von Erklärungen und Positionspapieren. In vielen von diesen ist alles „richtig“, aber auch sehr ausgewogen. Müsste das ZdK nicht doch, um auch öffentlich besser Gehör zu finden, profilierter auftreten. Und umgekehrt: Ist das überhaupt möglich?

Lücking-Michel: In manchen Fragen wäre eine profiliertere Wortmeldung schon möglich. In anderen Fragen spiegeln diese Erklärungen eben einen Kompromiss wider, weil auch im ZdK viele unterschiedliche Positionen vertreten sind. Wem aber innerhalb des ZdK selbst die eigenen Erklärungen zu wenig profiliert sind, dem kann ich nur sagen: Das hängt zu einem guten Stück davon ab, wie unsere Mitglieder auch bereit sind, sich einzubringen. Meine Erfahrung zeigt: Eine gute und intensive Debatte bringt trotz aller Meinungsvielfalt eine profilierte Stellungnahme hervor.

HK: Als jüngst die beiden großen Kirchen gemeinsam eine Fortsetzung ihres Wirtschafts- und Sozialwortes veröffentlichten, zeigte sich wieder einmal das Dilemma, in dem die Kirchen mit ihren politischen Wortmeldungen gefangen sind. Wenn es zu konkret wird, heißt es, die Kirchen sind doch gar nicht kompetent und sollten lieber bei ihren Leisten bleiben. Im anderen Fall lautet der Vorwurf Leisetreterei gegenüber der offiziellen Politik, gegenüber staatlichen Institutionen.

Lücking-Michel: Beide Vorwürfe werden ja je nach politischer Option erhoben. Wenn es einen stört, was die Kirchen sagen, heißt es: Konzentriert Euch auf Euer Kerngeschäft. Und im anderen Fall wird gefordert, dass sie sich doch profilierter äußern sollen. Zunächst aber bedeutet Kerngeschäft der Kirche eben nicht nur beten, sondern Nächstenliebe zu üben, und hierfür gibt es viele Wege und eben auch den, politisch profiliert aufzutreten. Dass dies geht, zeigt Papst Franziskus mit seinen oft sehr markanten Äußerungen.

HK: Was soll oder kann die deutsche Ortskirche hier von Franziskus lernen?

Lücking-Michel: Wir können lernen, dass wir nicht umhin kommen, an manchen Stellen klare politische Aussagen zu treffen. Es reicht dabei aber nicht zu fordern, die Bischöfe sollen sich klar und deutlich äußern. Hier ist jeder und jede Einzelne gefragt.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

Herder Korrespondenz-Newsletter

Ja, ich möchte den kostenlosen Herder Korrespondenz-Newsletter abonnieren und willige in die Verwendung meiner Kontaktdaten zum Zweck des E-Mail-Marketings durch den Verlag Herder ein. Den Newsletter oder die E-Mail-Werbung kann ich jederzeit abbestellen.
Ich bin einverstanden, dass mein personenbezogenes Nutzungsverhalten in Newsletter und E-Mail-Werbung erfasst und ausgewertet wird, um die Inhalte besser auf meine Interessen auszurichten. Über einen Link in Newsletter oder E-Mail kann ich diese Funktion jederzeit ausschalten.
Weiterführende Informationen finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen.