Die geistliche Familie Charles de FoucauldCharisma der Unscheinbarkeit

Unter den neuen geistlichen Gemeinschaften zählt die „Geistliche Familie von Charles de Foucauld“ zu den stillsten und unauffälligsten. Obwohl sie in allen deutschen Diözesen unter Laien und Priestern Anhänger hat, erhielt sie erst mit der Seligsprechung ihres Inspirators Charles de Foucauld am 13. November 2005 öffentliche Aufmerksamkeit.

Die weitgehende Unauffälligkeit der „Geistlichen Familie von Charles de Foucauld“ liegt nicht nur darin begründet, dass dieser Bewegung spektakuläre Aussteiger, Enthüllungsberichte und Großevents fehlen, sondern auch an ihrem Selbstverständnis: Gemäß dem Vorbild de Foucaulds suchen ihre Anhänger den „letzten Platz“, um Jesus in seinem verborgenen Leben unter den Menschen – die Zeit in Nazaret – nachzufolgen. Die Bewegung wird nicht zentral geführt, sondern versteht sich als „Geistliche Familie“ aus unterschiedlichen kirchlichen Sozialformen vom Orden bis hin zur losen Gruppe.

Eine Familie – viele Zweige

Der Name der Bewegung „Association Famille spirituelle Charles de Foucauld“ (als Dachverbund gegründet 1955) zeigt bereits an, dass sie sich aus verschiedenen, genauer 19, Gemeinschaften zusammensetzt. In Deutschland vertreten sind: „Kleine Schwestern Jesu“ (Ordensgemeinschaft, gegründet 1939 in Algerien durch Magdeleine Hutin, kleine Gemeinschaften in der Nähe der Armen; weltweit 1267 Mitglieder in 67 Ländern, in Deutschland 35); „Kleine Brüder Jesu“ (Ordensgemeinschaft, gegründet 1933 zunächst als Kloster nach der Regel de Foucaulds von 1899, ab 1945 in kleinen Gemeinschaften an den Randzonen der Industrieund Entwicklungsländer; Berufe in unteren Lohnstufen, weltweit 226 Mitglieder, davon ein Viertel Priester, fünf in Deutschland). Mit einem mehr apostolischen Akzent: „Kleine Brüder vom Evangelium“ (gegründet 1956 durch René Voillaume, weltweit 78 Mitglieder, drei in Deutschland); sodann die „Fraternität Jesus Caritas“ (gegründet 1952, seit 2000 Säkularinstitut päpstlichen Rechts, Befolgung der evangelischen Räte, weltweit rund 200 Mitglieder, neun in Deutschland), die „Frauengemeinschaft Charles de Foucauld“ (eine private Vereinigung päpstlichen Rechts, ehelos, meist allein lebend, weltweit 360, in Deutschland rund 30 Mitglieder), die „Priestergemeinschaft Jesus Caritas“ (vormals „Unio sacerdotalis“, gegründet 1951 in Lourdes, weltweit rund 3500 Mitglieder, davon etwa 450 in Deutschland, sie gilt kirchenrechtlich als „pia unio“, fromme Vereinigung). Die „Gemeinschaft Charles de Foucauld“ („Fraternité Séculière Charles de Foucauld“, gegründet 1955, Laien, auch Familien, weltweit rund 6000 Mitglieder, davon 120 in Deutschland), die „Sodalität Charles de Foucauld“ (eine „Diaspora-Gemeinschaft“, ein Netzwerk von Laien, Religiosen und Klerikern, beruft sich auf die „Union der Brüder und Schwestern des Heiligen Herzens Jesu“, welche de Foucauld 1909 selbst initiiert hatte, geführt von Jean-François Six, weltweit rund 1000 Mitglieder, acht in Deutschland); schließlich die „Evangelisch-Lutherische Gemeinschaft Charles de Foucauld“ (gegründet 1995, in der Landeskirche Hannover, zehn Mitglieder). Weil de Foucauld stets eine Kommunität gründen wollte, aber nur einen Freundeskreis, die „Sodalität“, gegründet hat, finden sich in der Bewegung beide Sozialformen, teilweise in Konkurrenz zueinander. Das Sekretariat der deutschen Gemeinschaften und die Redaktion der Zeitschrift „Mitten in der Welt“ befinden sich seit einigen Jahren in Ingolstadt, eine eigene Fachbibliothek zum Gründer und zur Bewegung, inklusive der „grauen Literatur“ wie Broschüren und Rundbriefe, wurde an der Diözesanbibliothek Münster eingerichtet.

Die Mitgliederzahlen sind in Europa aktuell leicht rückläufig, in Lateinamerika, Afrika und Asien steigend. In Europa stoßen vor allem junge Familien neu zur Gemeinschaft. Unter den Ordensgemeinschaften finden diejenigen den größeren Zulauf, die eher kontemplativ orientiert sind. Dennoch stehen auch sie vor dem Problem der Überalterung. Die Gemeinschaften verständigen sich über Rundbriefe und regelmäßige Versammlungen. Als gemeinsames Organ aller Zweige in Deutschland dient die Zeitschrift „Mitten in der Welt“. Sie bietet eine Mischung aus geistlichen Impulsen und Berichten aus den Gruppen.

Mit weltweit knapp 13 000 und deutschlandweit rund 700 Mitgliedern zählt die Bewegung zu den kleinen unter den Neuen Geistlichen Gemeinschaften. Zum Vergleich: die Fokolarbewegung zählt zwei Millionen weltweit beziehungsweise 100000 Mitglieder in Deutschland; der Gemeinschaft Christlichen Lebens gehören 100000 weltweit und 1700 Mitglieder in Deutschland an; das Opus Dei hat 90000 feste Mitglieder und geschätzt 300000 Sympathisanten weltweit. Dennoch ist ihre Strahlkraft auf die Kirche nicht zu unterschätzen, denn der relativ große Priesterzweig und Teile der Laiengemeinschaften – die hierzulande zusammen zwei Drittel ausmachen – wirken in Pastoral und Katechese. Anders aber als im Opus Dei oder im Fokolar gibt es keine „Foucauld-Priester“ und keinen einzigen, der hauptberuflich für die Bewegung arbeitet. In einigen Fällen haben Diözesanpriester zu Lebensgemeinschaften im Geiste de Foucaulds zusammen gefunden. Religionssoziologisch betrachtet hat diese Bewegung weitgehend auf Selbstinstitutionalisierung verzichtet, allerdings auf Kosten quantitativen Erfolgs, den sie freilich nie angestrebt hat.

Keine rechtlich bindenden Verpflichtungen

Wer zu den Gruppen stößt, hat oft schon eine längere Suche in anderen geistlichen Bewegungen hinter sich. Von den Mitgliedern wird erwartet, sich in einer Gruppe monatlich zu treffen, regelmäßig eine längere (rund eine Stunde) eucharistische Anbetung zu halten und das Hingabegebet „Mein Vater“ zu sprechen, monatlich einen „Wüstentag“ in Einsamkeit zu halten und wenigstens einmal im Leben an einer langen Besinnungszeit, dem „Nazaretmonat“, teilzunehmen. Mit einem Versprechen (zunächst zeitlich, dann endgültig) drückt ein Mitglied seine Bereitschaft aus, „sich persönlich und endgültig der Liebe des Vaters zu überlassen, sein Leben wegzugeben in einem Dienst an den Ärmsten, sich ganz zu engagieren für die Befreiung eines Volkes“ (Wegweisung, 24). Das Versprechen verwendet Formulierungen aus Gebeten de Foucaulds „Mein Vater, um Jesu und des Evangeliums willen und um allen Menschen Bruder zu werden, überlasse ich mich ganz Dir.“ In Form und Intention gehören die Versprechen der Priester- und Laiengemeinschaften in den Bereich der Hingabe (devotio), nicht zu den Weihen (consecratio) oder den Gelübden (votum), denn sie enthalten keine konkreten Aussagen (beispielsweise zur Gebetshäufigkeit oder zur Lebensform), können von den Einzelnen umformuliert werden (vgl. Rundbrief der Priestergemeinschaft Nr. 3/2005, 7) und ziehen daher keine kirchenrechtlich bindenden Verpflichtungen nach sich.

Die Bewegung befindet sich in einer Phase der Neuorientierung

Da vor wenigen Jahren, René Voillaume und Sr. Magdeleine gestorben sind, befindet sich die Bewegung in einer Phase der Neuorientierung: Die Gemeinschaften werden zueinander durchlässiger. Das klare Gefälle von radikaler Nachfolge im Orden und Nachfolge in einer losen Gemeinschaft schwächt sich ab. Das ist nur konsequent, denn das Charisma, „kontemplativ mitten in der Welt“ zu leben, trifft auf alle zu, Priester, Ordensleute und Laien, einzeln oder kommunitär lebend. So kommt es vor, dass sich Kleine Schwestern engagierte Laien einladen, um von ihnen zu lernen, und nicht nur – wie bisher – umgekehrt.

Verstärkt wird diese Tendenz durch die Situation in Deutschland, wo viele Laien, meist Hauptamtliche im Kirchendienst, Mitglieder in Gruppen sind, die sich zur Priestergemeinschaft zählen. Das hat in den letzten Jahren für Diskussionen gesorgt, weil ungeklärt war, ob diese auch bei der Wahl der Delegierten mitwirken dürfen. Sollten Laien nicht der Laiengemeinschaft beitreten? Andererseits sind Pastoralassistenten oder Religionslehrer professionelle Theologen oft mit einem reichen Gebetsleben. Hatte nicht de Foucauld selber seine Union quer zu allen geistlichen Ständen konzipiert? Der Weltrat der Priestergemeinschaft hat vor einigen Jahren Laien ein passives Wahlrecht zugestanden. Manche der Gruppen haben zusammengefunden, um dem eigenen pastoralen Betrieb auch ein spirituelles Fundament zu geben. Die „geistliche Familie“ legt sich hierfür besonders nahe, denn sie bietet kontemplative Elemente wie auch die Reflexion der Praxis und einen Blick über den Horizont pfarrgemeindlicher Mittelschichten hinaus auf die materiell und geistig Armen. So konkurrieren und mischen sich in vielen Gruppen zwei Motive: das Interesse an de Foucauld sowie das Bedürfnis nach einer frommen und zugleich engagierten Gemeinschaft. Einer Umfrage unter den Gemeinschaften zufolge treten in den letzten Jahren verstärkt Binnenthemen in den Vordergrund, allen voran das neu erwachte Interesse an der Person und Biographie de Foucaulds. Immer stärker bildet er eine Klammer für die verschiedenen Gemeinschaften.

Es gehört zum Selbstverständnis der Bewegung, dass sich eine Außenwirkung von selbst, nur zentripetal ergeben soll. Da Großereignisse, sowohl auf regionaler Ebene (wie beispielsweise die Mariapoli der Fokolare) wie auf nationaler Ebene fehlen, erzeugt die Bewegung kaum Öffentlichkeit. Auch anlässlich der Seligsprechung de Foucaulds gab es keine zentrale Veranstaltung, bei der sich die Bewegung als ganze gegenseitig wahrnehmen konnte. Die internationalen Treffen finden für jede Teilgemeinschaft eigens statt. Das Fehlen einer corporate identity ist durchaus gewollt, entspricht es doch dem Charisma der Unauffälligkeit. Werbung findet nicht statt, sie ereignet sich allein durch Mundpropaganda.

Um das geistliche Profil dieser Bewegung von innen zu beschreiben, muss man einen Blick auf das Leben einer Gruppe werfen. Während in anderen geistlichen Bewegungen die Gruppen übergreifende Impulse aufnehmen (etwa das monatliche „Wort des Lebens“ bei den Fokolaren), werden in der „geistlichen Familie“ die Treffen ganz von den Mitgliedern gestaltet. Daher ergibt sich jeweils ein anderer Verlauf. Als feste Elemente gelten aber überall: nach dem Hl.-Geist-Hymnus die Lebensbetrachtung (revision de vie), das Schriftgespräch und die eucharistische Anbetung. Zuweilen wird noch eine „Wüstenzeit“ hinzugefügt. Jedes dieser Elemente ist aus anderen Frömmigkeitsrichtungen bekannt, erst das Ensemble der vier Teile macht das Profil der „Charles de Foucauld“-Bewegung aus: die doppelte Spannung aus Bibelbetrachtung und stiller Anbetung sowie aus gemeinsamer revision und einsamer Wüste. Auch die regionalen und nationalen Zusammenkünfte werden mit Hilfe dieser Elemente strukturiert: Mit dem Hymnus Veni creator spritus werden die Treffen eröffnet. De Foucauld hatte von den Brüdern und Schwestern seiner Unio verlangt, ihn oft zu sprechen, um sich mit allen Menschen zu verbinden, tragen doch auch die „Glaubenslosen“ ein unaussprechliches Seufzen des Geistes in sich.

„Nazaret ist überall“

De Foucauld hatte die revision de vie nie kommunitär üben können, empfiehlt aber in einem „directoire“ (Wegweisung für geplante Gemeinschaften), man solle sich gegenseitig auf dem Weg zu Heiligkeit anspornen. Die Lebensbetrachtung wurde aus anderen Spiritualitäten (CAJ, ignatianisch) übernommen. In der revision de vie werden Ereignisse und Erfahrungen in den Biographien der Teilnehmer einander berichtet und im Licht des Evangeliums gedeutet. Sie ermöglicht es, den Alltag der vergangenen Wochen in das gemeinsame Treffen zu holen. Manche Gruppen entschließen sich zu weiter reichenden revisions über den gesamten Lebens- und Glaubensweg. Weil sich gegenseitige Bestärkung oder Korrektur in dieser Phase nahe legen und so ein Hang zur Therapierung besteht, verzichten die Gruppen auf Kommentare. Erst im Laufe der Jahre und im Rückblick auf viele revisions enthüllt sich der eigene Lebensweg als eine kontinuierliche geistliche Erzählung. Nazaret steht für die Nachfolge Christi in der Form der Imitation des verborgenen Lebens Jesu. Mit eigenen Händen arbeiten, bescheiden leben, unerkannt bleiben, mit den Armen sein. Einige Kleine Brüder in Deutschland nehmen das verborgene Leben so ernst, dass sie nicht einmal in der Pfarrei als Ordensleute erkennbar auftauchen. In Ergänzung zum üblichen karitativen Ideal, für die Armen da zu sein, besteht das nazarenische Ideal darin, mit ihnen zu sein. Daher tauschen oder kombinieren einige Mitglieder den kirchlichen Beruf mit einem säkularen.

De Foucauld hat sein Nazaret-Ideal von Palästina mit nach Algerien genommen, wo er durch seine alltägliche Lebensführung das Evangelium verkünden wollte. Mit dem Hinweis auf sein Charisma der Verborgenheit weigert er sich mehrmals, seine sprachwissenschaftlichen Werke unter seinem Namen zu veröffentlichen. Aber aus seiner Klausur wird ein Haus der Gastfreundlichkeit. Reisenden, Nomaden, Kranken wird es bald zum Stützpunkt. Das kontemplative Projekt verbindet sich mit einem diakonischen. In einer letzten Zuspitzung verlegt er sein „Gästehaus“ in den Süden Algeriens, in die Sahara, weil er dort die Ärmsten vermutet.

Obwohl er erfährt, dass sich keiner von den Tuareg zum Christentum bekehrt, bleibt er unter ihnen wohnen. Sie sollen an seinem Verhalten, nicht durch seine Predigt zu Jesus finden: „Nazaret ist überall, wo man mit Jesus in Demut, Armut und Stille arbeitet.“ Die Gemeinschaften der „geistlichen Familie“ berufen sich immer wieder auf dieses Vorbild, unter den Menschen zu leben. Damit bleiben sie zugleich in der Nähe Gottes, der „sich unter uns gemischt hat, um uns zu retten“ (de Foucauld). Die Berichte aus den Gemeinschaften von Kleinen Schwestern funkeln vor Einfachheit und Klarheit. Sie bestehen aus Erzählungen, wie sie Leben und Arbeiten und Sterben mit Menschen in Südtunesien oder Grönland oder Hamburg teilen. Dieses Engagement wird nicht in der Sprache der sozioökonomischen Kritik beschrieben, sondern als Auftrag des Auferstandenen „Geht voraus nach Galiläa“. Galiläa steht für den Alltag aus Arbeit und Vorgängen, die das Leben „klein hacken“. Dort gilt es, den Auferstandenen wieder zu treffen.

Mit „Wüste“ sind Stillezeiten oder ganze Tage gemeint, die die Mitglieder alleine an einsamen Orten in Beten und Schweigen verbringen. De Foucauld hat sein letztes Lebensjahrzehnt in der Wüste verbracht. Zunächst suchte er die Stille, um – wie die Wüstenväter – seine Aufmerksamkeit ungeteilt Gott widmen zu können. Neben der Besinnung erlebt Charles aber die schiere Not seiner Umgebung: Hunger, Krankheit, Unterentwicklung. De Foucauld fordert Hilfsgüter an, um den Nomaden zu helfen, er baut eine Fluchtburg, um einen Ort der Gastfreundschaft zu bieten. Die Wüste von Tamanrasset stellt also keine Steigerung der Aszese dar, sondern war für ihn der „letzte Platz“, an dem er den bedürftigen Menschen am Rande der Zivilisation am nächsten sein konnte. Es war nie sein Ziel, ein klassischer Wüsteneremit zu werden. Er wollte in der Nähe von Menschen bleiben, um ihnen den Kontakt zum Christentum anzubieten. Dennoch hat er die Wüste als geistlichen Ort entdeckt: „Man muss einmal die Wüste durchquert haben und darin wohnen, um die Gnade Gottes zu empfangen. Diese Stille, diese Sammlung, dieses von sich Fortscheuchen all dessen, was nicht Gott ist, ist nötig für unser Herz ...“ De Foucauld lebt in seiner Einsiedelei ein Alltagsleben mit Jesus in der Eucharistie. Sein Bett steht nur wenige Meter vom Tabernakel. Nächtelang hat er vor dem ausgesetzten Allerheiligsten verbracht und dort auch die Schrift betrachtet, immer mit dem Verlangen, bei Jesus auszuharren. Diese Praxis übt er in allen Lebensstationen ein: bei den Trappisten, den Klarissen in Nazaret, schließlich in Algerien. Er hegt die Hoffnung, dass die Aussetzung der Eucharistie auch auf die Umgebung ausstrahlt. „Bewirkt meine Gegenwart hier irgendetwas Gutes? Wenn nicht, so bewirkt doch die Gegenwart des heiligen Sakramentes sicher viel Gutes. Jesus kann nicht an einem Ort anwesend sein, ohne auszustrahlen“ (Brief vom 18.11.1907). Seit seiner Bekehrung war er nicht einfach davon überzeugt, dass es einen Gott gibt, sondern dass Jesus da ist und nah ist. In manchen Gemeinschaften wird das Allerheiligste in einfachsten Gefäßen ausgesetzt, nicht in der Monstranz, sondern in der Lunula oder der Pyxis. De Foucaulds Eucharistiefrömmigkeit war bemerkenswert nüchtern. Zwar schreibt er in glühenden Worten von seiner Hingabe, aber nie von mystischen Erlebnissen. Die Sprache des geduldigen Ausharrenwollens überwiegt jegliche Verschmelzungsmetaphorik.

Foucaulds Einfachheit hat ihn nie zu theologischen Reflexionen geführt

Zu den häufigen Übungen gehört das Gebet der Hingabe. Es stammt von 1896, als de Foucauld noch Trappist war. Sr. Magdeleine, die Gründerin der Kleinen Schwestern, hat es aus den Texten de Foucaulds ausgewählt und 1940 ihren Mitschwestern zum täglichen Beten empfohlen. Seither avancierte es zum Tagesgebet aller Mitglieder und hat sogar Eingang in das Gotteslob (GL Nr. 5,5) gefunden. Der hohe kompromisslose Ton und die eindringlichen Wiederholungen dieses Textes überfordern heute manche Leser. Versteht man das Gebet allerdings als Miteinstimmen in die Hingabe des Sohnes an seinen Vater – es entstand als Auslegung de Foucaulds zum „letzten Gebet unseres Meisters“ am Kreuz (vgl. Mitten in der Welt 149, 44) – so erklärt sich auch, dass ein an den Vater gerichtetes Gebet für de Foucauld stehen kann, der doch zeitlebens seine Hingabe an Jesus richtete. Es eignet sich auch für interreligiöse Gebete: „Mein Vater, ich überlasse mich Dir. Mach mit mir, was Dir gefällt. Was Du auch mit mir tun magst, ich danke Dir. Zu allem bin ich bereit, alles nehme ich an. Wenn nur Dein Wille sich an mir erfüllt und an allen Deinen Geschöpfen, so ersehne ich weiter nichts, mein Gott. In Deine Hände lege ich meine Seele. Ich gebe sie Dir mit der ganzen Liebe meines Herzens, weil ich Dich liebe und weil diese Liebe mich treibt, mich Dir hinzugeben, mich in Deine Hände zu legen, ohne Maß, mit einem grenzenlosen Vertrauen; denn Du bist mein Vater.“

Das Profil foucauldschen Gebets lässt sich vor dem Hintergrund anderer Bewegungen konturieren. Während charismatisches Beten das Kommen des Geistes erbittet und dann in Gemeinschaft und extrovertierter Begeisterung erfolgt, betete de Foucauld stets im Stillen und persönlich. Er strukturiert seine Gebetszeiten streng und pflegt unabhängig von subjektiver Ergriffenheit geduldiges Ausharren. Zweitens unterscheidet er sich von östlichen Meditationsformen, die beispielsweise in ignatianische Spiritualität Eingang gefunden haben. Nie hat er Atem-, Sitz- oder Sprechtechniken ausprobiert. Seine „Methode“ des meditativen Schreibens – ein Rat seines geistlichen Vaters – führt ihn in endlose Spiralen um das Evangelium. Diese Schriften lesen sich wie ein Bewusstseinsstrom aus Assoziationen, verfolgen aber nicht das Ziel der Gedankenberuhigung und der Konzentration. Eher wirken sie wie eine fromme Zerstreutheit.

De Foucaulds Einfachheit hat ihn drittens nie zu theologischen Reflexionen geführt. Seine Schriften bestehen zum Großteil aus nacherzählenden Auskleidungen der Evangelien. Die hinterlassenen Aufzeichnungen wurden auf 3830 Bögen umgeschrieben; 3100 davon sind Betrachtungen zu den Evangelien, wogegen Paulus und das Alte Testament nur am Rande vorkommen. Weil er bei Jesus selbst beginnen will, überspringt er auch die gesamte Tradition von gelehrten Betern. Seine Texte waren nicht für andere bestimmt, sie sind geschriebene Gebete anlässlich seiner Bibellektüre. In dieser Reduktion liegt Charisma und Grenze seiner „Theologie“. Christus wird konsequent in seinen Knechtsgestalten, Nazaret und Eucharistie, betrachtet. Die Herrlichkeit des erhöhten Sohnes kommt explizit kaum zu Wort, wenngleich sie sich im Ton der von ihm ergriffenen Seele de Foucaulds spiegelt.

Bei de Foucauld hat sich das Charisma der Unscheinbarkeit auch in seinen Texten fortgesetzt; die Gottessohn-Theologie wird ganz in einer Bruder-Jesu-Theologie verborgen. Selbst wo er über den Auferstandenen meditiert, tritt er nicht als Christus triumphans des Ostersonntags auf, sondern begegnet als Wegbegleiter des Ostermontags auf dem Weg nach Emmaus. Besonders deutlich wird dies in seiner Schrift „Notre Modèle“ (dt. Das eine Maß), einem Portrait Jesu für die Mitglieder seiner Association. Es besteht ausschließlich aus Evangelien-Zitaten, die er unter Tugendbegriffe ordnet. In diesem Text interessiert nicht, wer Jesus Christus ist, sondern worin er dem Gläubigen als Vorbild dient.

Dient de Foucaulds Gedankenwelt dem interreligiösen Dialog?

Nicht zufällig wählt de Foucauld das schlichte Herz (Jesu), auf dem ein Kreuz steht, und nicht das Christusmonogramm zu seinem Emblem. Man kann die komplette Abwesenheit dogmatischer Christologie kritisieren, aber Heilige sind nicht dazu da, das Lehramt abzubilden, sondern ihr Charisma zu entfalten. Vielleicht lässt sich die christologische Bescheidenheit de Foucaulds für den interreligiösen Dialog fruchtbar machen. Es ist vorstellbar, dass ein Buddhist oder Moslem diese Texte liest und in ihnen die eigene Selbstzurücknahme und Gotteshingabe erkennt. Darin besteht wohl auch eine Aufgabe der „geistlichen Familie“. De Foucauld hat durch sein arabophiles Interesse für die Kultur, seine linguistischen Forschungsarbeiten an den Berbersprachen, seine Gastfreundschaft gegenüber den Einwohnern, seine Liebe zu jedem einzelnen Armen und seine stille Präsenz unter der Bevölkerung die Tür zum Islam weit aufgetan, aber bei aller Wertschätzung einzelner Personen den Islam theologisch nie ernst genommen. Viele Gemeinschaften der Bewegung haben diese Spur aufgenommen und leben in der Nähe zu Moslems. Neue Geistliche Bewegungen erfüllen ihre Berufung dann, wenn sie mehr sind als die nachträgliche Zusammenfassung individuell Engagierter. Sie verwirklichen – wie Rahner es formulierte – kollektive Charismen, das heißt Gnadengaben, die nicht dem einzelnen verliehen sind, sondern erst im Zueinander von Gläubigen zustande kommen. Damit unterscheiden sie sich von Gemeinden, die aus komplementären Charismen bestehen. Die Fortsetzung der Religionsbegegnung de Foucaulds in einem Religionsgespräch könnte eines der profilbildenden Merkmale dieser Bewegung werden.

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