Schiiten im Irak gestern und heuteDie Mehrheit will mitbestimmen

In der islamischen Welt insgesamt sind die Schiiten eine Minderheit, im Irak stellen sie die Mehrheit der Muslime. Seit der Gründung des irakischen Staates nach dem Ersten Weltkrieg ist der schiitische Bevölkerungsteil mit seinen Religionsgelehrten und Stammesführern ein Machtfaktor. Unter Saddam Hussein politisch klein gehalten und verfolgt, beanspruchen die Schiiten im Nachkriegsirak eine entscheidende Rolle.

Die beeindruckenden Bilder der Trauerzeremonien der irakischen Schiiten in Erinnerung an Husein, den Enkel des Propheten Muhammad, der in der Schlacht von Kerbela im Jahr 680 ums Leben kam, haben auch einer weniger informierten Öffentlichkeit bewusst gemacht, welche Bedeutung diese Bevölkerungsgruppe im Irak hat und für die Zukunft dieses Landes haben wird. Für die schiitischen Muslime in aller Welt ist der Irak ein heiliges Land. Hier haben sich die historischen Ereignisse abgespielt, die zur Entstehung ihrer Konfession führten. Nach dem Tod des Propheten Muhammad im Jahre 632stand die junge islamische Gemeinde in Medina vor der Aufgabe, eine neue Führung zu bestimmen. Zwei unterschiedliche Positionen standen einander gegenüber. Eine Gruppe votierte für Abu Bakr, einen der ersten und ältesten Anhänger Muhammads, der zugleich einer der engsten Berater des Propheten gewesen war. Auf der anderen Seite standen die Muslime, die Ali, den Cousin und Schwiegersohn Muhammads, an der Spitze der Gemeinde sehen wollten. Sie waren die „Partei Alis“, arabisch Schiat Ali, daher der Name Schiiten. Man kann diese unterschiedlichen Positionen am besten als die Auseinandersetzung zwischen einem demokratischen und einem dynastischen Prinzipbeschreiben.

Ein ausgeprägter Märtyrer-Kult

Tatsache ist, dass sich Abu Bakr durchsetzen konnte und Ali bis in das Jahr 656 warten musste, ehe er Khalif wurde. Die Anhänger Alis und in ihrer Folge die Schiiten haben nie akzeptiert, dass jemand anders als ein Angehöriger des Hauses des Propheten über die Muslime herrschte. Jede andere Herrschaft wurde und wird als illegitim betrachtet.

Das Khalifat Alis war von Anfang an umstritten. Als er 661 ermordet wurde, ging die Macht an die Omayyadendynastie in Damaskus über. Die ersten beiden Jahrzehnte dieser Herrschaft waren von ständigen internen Auseinandersetzungen gekennzeichnet, die unter anderem zu einem Aufstand in der im südlichen Mesopotamien gelegenen Garnisonsstadt Kufa führten. Die Aufständischen baten den Enkel des Propheten, Husein ibn Ali, sie zu führen. Als dieser sich 680 von Medina aus auf den Weg machte, war der Aufstand schon fast zusammengebrochen. Als er sich Kufa näherte, wurden er und seine Begleitung am 10. Muharram (erster Monat des islamischen Jahres) von einer Truppe der Omayyaden angehalten und vollständig aufgerieben. Was militärisch ein eher zu vernachlässigendes Gefecht war, wurde historisch zu einer der folgenreichsten Begebenheiten der islamischen Religions- und Geistesgeschichte mit politischen Folgen bis in die Gegenwart. In einem komplexen religionshistorischen Prozess entwickelte sich in der Folge die schiitische Sonderform des Islams, der heute etwa 15 Prozent der Weltmuslimbevölkerung angehören.

Auch wenn sich die Mehrheit der Sunniten und die Schiiten gegenseitig als Muslime anerkennen, lassen sich doch eine Reihe von grundsätzlichen dogmatischen, rituellen und organisatorischen Unterschieden zwischen den beiden Konfessionen feststellen. So wird der Tod Huseins von den Schiiten als Martyrium interpretiert. Nach dieser Auffassung ist der Prophetenenkel bewusst in den Tod gegangen, um sich für die Sünden der Menschheit zu opfern. In jedem Jahr gedenken die Schiiten in den ersten 10 Tagen des Monats Muharram dieses Opfertodes und erneut 40 Tage später am Feste Arba‘in. Zu diesen Zeiten ziehen Geisslerprozessionen durch die schiitschen Städte und Stadtviertel. Die Märtyrergeschichte von Kerbela wird rezitiert und in Form von Passionsspielen aufgeführt. Nicht nur der Tod Huseins, sondern auch der seines Vaters Ali, seines Bruders Hassan und ihrer Nachfolger wird als Martyrium aufgefasst. Zu Tausenden besuchen die Gläubigen die Gräber der Heiligen. Diese befinden sich vor allem im Irak in den Städten Kerbela und Najaf, südlich von Baghdad, in Kazimiyya, einer nördlichen Vorstadt der irakischen Hauptstadt und im nördlich gelegenen Samarra. Die schiitischen Heiligen werden als Imame bezeichnet.

Je nach Richtung erkennen die Schiiten fünf, sieben oder zwölf Imame an. Die Wiederkunft des jeweils letzten Imams wird von den Schiiten erwartet und herbeigesehnt. Dieser Messias, arabisch Mahdi, wird dann ein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens errichten, das tausend Jahre währen wird. Erst danach wird der Jüngste Tag hereinbrechen. Messianische Wehen zeigen das Nahen des Mahdi an. Zu ihnen gehört neben Naturkatastrophen und anderen Unglücken, dass die Gelehrten die Religion verfälschen oder ungerechte Herrscher an der Macht sind. Die Schiiten sind überzeugt, dass die Gläubigen nur durch die Leitung und Vermittlung der Imame das Heil erlangen können. Da sich aber der letzte Imam verborgen hält, haben sich in einem längeren Entwicklungsprozess die schiitischen Rechtsgelehrten als die Personengruppe herausgestellt, die die Führung der Gläubigen in die Hand nehmen muss. Es ist die Pflicht der Gläubigen, sich einem Geistlichen anzuschließen und seinen Weisungen zu folgen. Diese Beziehung zwischen dem Gläubigen und seinem Geistlichen währt lebenslang. Da auch Geistliche irgendwann in ihrem Leben eine derartige Autoritätsbeziehung zu einem geistlichen Führer eingegangen sind, ist im schiitischen Islam so etwas wie ein hierarchisch strukturierter Klerus entstanden. Mitglied in dieser rein männlichen Personengruppe wird man durch ein langjähriges Studium. Der Aufstieg vollzieht sich im Rahmen einer „akademischen“ Karriere. An der Spitze dieses Klerus steht der sogenannte Marja‘ al-Taqlid (Quelle der Nachahmung). Da es keine formalen Verfahren zur Festlegung dieses Marja‘ al-Taqlid gibt, herrscht zwischen den bedeutenden Religionsgelehrten eine ständige Konkurrenz um diese Position. Entscheidend ist auch, dass die großen Gelehrten von ihren Anhängern regelmäßige Zahlungen erhalten, die es ihnen ermöglichen, große karitative Organisationen und private Lehreinrichtungen zu unterhalten. Dies führt dann wiederum zu einer Vergrößerung der jeweiligen Anhängerschaft. Seit 1501 ist die schiitische Form des Islams in Iran Staatsreligion. Das bedeutete zwar nicht, dass die schiitischen Gelehrten den Staat kontrollierten. Im Verlauf der modernen iranischen Geschichte haben sie aber immer dann in die politische Entwicklung eingegriffen, wenn sie fürchten mussten, dass der schiitische Charakter des Iran verloren zu gehen drohte. Das benachbarte sunnitische Osmanische Reich, zu dem auch Mesopotamien gehörte, befand sich mit dem Iran in einem ständigen Konflikt. Das führte dazu, das sich oppositionelle schiitische Gelehrte aus dem Iran in die heiligen Stätten der Schia ins Exil begeben und ihre religiösen und politischen Vorstellungen ohne Rücksicht auf die iranischen Herrscher formulieren konnten.

Die Schiiten im Königreich Irak

Vor allem seit dem 19. Jahrhundert entwickelten sich in der schiitischen Gelehrtenschaft zwei Gruppen, von denen die eine eine quietistische Haltung in allen Fragen des politischen Lebens einnahm und sich nur dann zu Wort meldete, wenn die Gemeinschaft der Schiiten in ihrer Gesamtheit bedroht war. Die andere Gruppe trat für einen aktiven politischen Kampf für die Rechte der Schiiten, aber auch der übrigen Muslime auf der Welt ein. So riefen sie 1911 zum Kampf gegen die Italiener auf, die die Cyrenaika besetzt hatten.

Als 1915 das Osmanische Reich auf deutscher und österreichischer Seite in den Ersten Weltkrieg eintrat, hielten sich die schiitischen Gelehrten zunächst mit Stellungnahmen zurück. Als britisches Militär jedoch in Basra landete, riefen sie zum Jihad gegen die Invasoren auf. Erst 1918 gelang es den Briten, ganz Mesopotamien unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie richteten eine Militärverwaltung ein, gegen die sich 1920 vor allem die Schiiten erhoben, die einen selbstständigen Irak unter einem muslimischen Herrscher forderten. Die Unruhen konnten von den Briten zwar niedergeschlagen werden. Die Kosten waren aber so hoch, dass das britische Parlament eine neue Lösung für das Land forderte. So wurde 1921 das Königreich Irak gegründet. Auf den Thron gelangte der Emir Feisal, der mit dem berühmten Lawrence von Arabien auf Seiten der Briten gegen das Osmanische Reich gekämpft hatte. Da die Siegermächte des Ersten Weltkriegs sich nicht an die Zusagen gegenüber Feisal und seiner Familie hielten, einen unabhängigen arabischen Staat zu schaffen, betrachtete Feisal das Königreich Irak wohl als eine Alternative. Der neue Staat wurde zunächst Mandatsgebiet des Völkerbundes; Mandatsmacht war England.

Die Schiiten sahen dieser Entwicklung zunächst wohlwollend zu. Schließlich war Feisal ein Nachfahre des Propheten Muhammad und der großen schiitischen Heiligen Ali und Hussein. Schiitische Zeitungen schrieben nach einem Besuch Feisals in den heiligen Städten Kerbela und Najaf: „Feisal an den Gräbern seiner Vorfahren.“ Die Führer der Schiiten machten aber auch klar, dass sie den König nur unterstützen würden, wenn er politisch unabhängig von den Briten agierte. Dies war ihm aber nicht möglich, weil britische Berater die Politik des Landes bestimmten. Unter ihrer Leitung wurde ein Verfassungsentwurf formuliert, den die Schiiten nicht akzeptieren wollten. Sie nahmen daher an dem Referendum über die Verfassung nicht teil und verweigerten jede Zusammenarbeit mit der Regierung. Damit es nicht zu Aufständen und anderen Formen des öffentlichen Aufruhrs kommen konnte, wurden zahlreiche, politisch aktive schiitische Religionsgelehrte des Landes verwiesen. Die Schiiten verstanden erst nach einigen Jahren, dass ihre Verweigerungshaltung sie in eine schwierige politische Lage gebracht hatte. Es waren vor allem sunnitische Araber, häufig ehemalige Offiziere des osmanischen Heeres, und die Führer der großen sunnitischen Beduinenstämme, die die wichtigsten Positionen im Land unter sich verteilt hatten. Als die Schiiten beschlossen, sich aktiv an den politischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen, blieben ihnen nur noch machtpolitisch weniger bedeutende Positionen wie die des Bildungsministers.

Die konfessionellen Spannungen im Irak zwischen Sunniten und Schiiten waren daher beträchtlich. Die sunnitische, häufig arabisch-nationalistische Elite, sah die Schiiten als eine ,fünfte Kolonne‘ des iranischen Nachbarn an und verdächtigte sie der Illoyalität. In den Jahren bis zur Revolution von 1958 veränderte sich die Stellung der schiitischen Mehrheit im Irak nicht. Man könnte formulieren, dass sie als Mehrheit im eigenen Land wie eine Minderheit behandelt wurden. Ein Teil der schiitischen Landbevölkerung verließ die Dörfer und fand Arbeit in der rasch wachsenden Öl-Industrie. Die Landflucht führte aber auch zur Bildung von Slumgebieten in den großen Städten des Landes. Unter der aus dem schiitischen Milieu stammenden Arbeiterschaft und den Slumbewohnern fanden kommunistische Agitatoren lebhafte Resonanz, und die Kommunistische Partei im Irak wurde zu einem wichtigen Machtfaktor. Daneben waren es arabische Nationalisten, die vor allem die jungen Menschen im Lande beeindruckten. Unter den Nationalisten waren die Sunniten in der Mehrheit.

Viele Gelehrte gingen unter Saddam Hussein ins Exil

Der Putsch von 1958 brachte General Abd al-Karim Qassem an die Macht. Seine Mutter war Schiitin, und er tat in den nächsten Jahren viel für die schiitische Bevölkerung. So ließ er einfache Siedlungen errichten, in denen die Slumbewohner untergebracht wurden. Die Häuser waren mit Elektrizität und einer funktionierenden Wasserversorgung versehen und stellten eine beträchtliche Verbesserung gegenüber der Slum-Situation dar. Die Sympathie der Schiiten für Qassem hielt noch lange nach seinem Sturz 1963 an. Zu Beginn der sechziger Jahre hatten junge schiitische Religionsgelehrte eine neue Partei gegründet, die sie „Dawa-Partei“ (Missions-Partei) nannten. Ausdrücklicher Zweck dieser Organisation, die von dem charismatischen Muhammad Bakir al-Sadr geleitet wurde, war es, die jungen Schiiten, die sich westlichen Ideologien und westlicher Lebensweise angeschlossen hatten, wieder zum Islam zurückzuführen. Dies sollte vor allem durch die Gründung von Schulen und Jugend-Clubs, durch die Organisation sportlicher Aktivitäten und ähnliches geschehen.

Muhammad Bakir al-Sadr setzte sich auch intensiv mit dem westlichen politischen Denken auseinander und formulierte in Büchern mit Titeln wie „Unsere Wirtschaftsordnung“ schiitisch-islamische Gegenpositionen. Als 1968 die arabischnationalistische Baath-Partei im Irak an die Macht kam, wurde sie wegen ihrer nationalistisch-säkularen und sozialistischen Ideologie von al-Sadr heftig angegriffen. Die Baath-Partei reagierte auf diese Kritik und auf jede Form von politischer Gegnerschaft gerade der Schiiten mit schweren Repressionen. Bakir al-Sadr und einige seiner Verwandten, unter ihnen seine Schwester, Bint al-Huda, die eine schiitische Mädchen-Organisation gegründet hatte, wurden hingerichtet. Die Partei blieb im Untergrund aber weiter aktiv. Das Attentat auf Udai, einen der Söhne Saddam Husseins, soll von ihr organisiert worden sein. Der staatlichen Verfolgung, die sich nach der Machtübernahme von Saddam Hussein im Irak und dem Sieg der Islamischen Revolution unter Khomeini im Iran noch verschärfte, wichen die politisch aktiven und ein Teil der eher quietistischen schiitischen Gelehrten aus, indem sie sich in den Iran und nach London ins Exil begaben. Obwohl Saddam Hussein eine große Zahl von Schiiten, die seit Generationen im Irak ansässig waren, des Landes verwies und der Druck auf die schiitische Bevölkerung sich im Iranisch-Irakischen Krieg (1980–1988) weiter verstärkte, zeigten sich die irakischen Schiiten dennoch als Patrioten. Schiitische Stämme des Süd-Irak bewaffneten sich und kämpften, auch zur Überraschung des Baath-Regimes, gegen die iranischen Truppen.

Dieser Vorgang verbesserte zwar nicht die Position der irakischen Schiiten im Allgemeinen, wohl aber die der schiitischen Stämme und ihrer Führer. In den Re-Tribalisierungsentwicklungen der neunziger Jahre spielten auch diese Stämme eine Rolle. Das durch die Niederlage von 1991 geschwächte Regime von Saddam Hussein versuchte in dieser Zeit, sich durch eine besondere Förderung der traditionellen Stammesstrukturen der Loyalität der Bevölkerung zu versichern. Dies führte dazu, dass die Führer der Stämme eine größere Kontrolle über ihre Stammesangehörigen erhielten und sich auch Angehörige der neuen technokratischen Eliten auf ihre Stammeswurzeln besannen. Der Stamm sicherte ein gewisses Maß an Sicherheit in einer Gesellschaft, die durch rechtliche, politische und wirtschaftliche Unsicherheit geprägt war und es noch heute ist. Die schiitischen Aufstände, die sich nach den entsprechenden amerikanischen Aufrufen nach der irakischen Niederlage von 1991 entwickelten, waren dagegen vor allem ein städtisches Phänomen. Die irakischen Sicherheitskräfte schlugen mit unerbittlicher Härte gegen die schiitische Bevölkerung los und beschädigten sogar die großen Grabmoscheen in Kerbela und Najaf. Die amerikanische Erklärung, man habe die Aufrufe ja nicht wörtlich gemeint und die überaus schwierige Situation aller Iraker durch das den USA angelastete UN-Embargo, führte zu einer grundsätzlichen Ablehnung der USA gerade bei den Schiiten. Dies macht sich derzeit in einer deutlichen Ablehnung der amerikanischen Präsenz deutlich.

Wer hat in Zukunft das Sagen?

In der gegenwärtigen schiitischen Gesellschaft des Irak haben wir es mit zwei wichtigen politischen Ordnungsfaktoren zu tun, der religiösen und politischen Autorität der schiitischen Religionsgelehrten und der tribalen politischen Autorität der Stammesführer. Natürlich schließen sich diese Autoritäten nicht gegenseitig aus. Religions- und Stammesführer sind zur Kooperation in der Lage. Dies haben die jüngsten schiitischen Trauerfeierlichkeiten bewiesen, bei denen sich Hunderttausende Gläubige in den relativ kleinen Städten Kerbela und Najaf versammelt haben, ohne dass es zu nennenswerten Zwischenfällen gekommen ist. Dies stellt eine bewundernswerte organisatorische Leistung dar, die angesichts der schwierigen Verhältnisse im Land überraschen muss. Sie zeigt, dass die politischen Strukturen der irakischen Schiiten weiterhin vorhanden sind und genutzt werden können. Die verschiedenen Gruppen haben sich nach dem Zusammenbruch des Baath-Regimes zu einer Dachorganisation zusammengefunden, die als „Hauze“ bezeichnet wird. Das arabische Wort bezeichnet zunächst die Umgebung einer Moschee und meint im schiitischen Kontext theologische Hochschulen in den großen Zentren schiitischer Gelehrsamkeit. Dieses Führungsgremium der gläubigen irakischen Schiiten hat seinen Sitz derzeit in Najaf und besteht aus den bedeutendsten schiitischen Gelehrten. Derzeit kontrolliert die Hauze vor allem die Moscheen und karitativen Einrichtung in den schiitischen Gegenden des Irak. Sie ist der Ansprechpartner der Hilfsorganisationen, die in die Elendsgebieten Baghdads oder anderen schiitischen Siedlungsgebieten arbeiten wollen.

An der Spitze der irakischen Hauze steht Ayatollah al-Sistani, ein Mann von 73 Jahren, der als der kommende Marja al-Taqlid angesehen wird. Al-Sistani gehört zur Fraktion der eher quietistischen Gelehrten. Seine spirituelle Autorität ist so groß, dass er sicherlich auch politischen Einfluss ausüben kann. Er wird von einer Reihe von schiitischen Stammesgruppen unterstützt. Die Schiiten machten durch ihre zahlreiche Teilnahme an den traditionellen religiösen Ritualen der irakischen Öffentlichkeit und den alliierten Besatzungstruppen deutlich, dass sie nicht mehr bereit sind, auf ihren Anteil an der politischen Macht im Land zu verzichten.

Allerdings haben die ersten Tage nach dem Zusammenbruch des Regimes von Saddam Hussein auch gezeigt, dass es vor allem die Schiiten im Irak sind, die die politischen Geschicke des Landes mitbestimmen wollen. Die Vertreter der schiitischen Organisationen, die die schwierige Zeit unter Saddam Hussein im Exil verbracht haben, können nicht damit rechnen, dass sie ohne weiteres die Zukunft der irakischen Schiiten bestimmen können. Das gilt zunächst und vor allem für die schiitischen säkularen irakischen Politiker wie den Führer des „Irakischen National-Kongress“, Ahmad Chalabi, den seine Glaubensgenossen mit großer Skepsis betrachten. Doch auch die Vertreter der schiitischen Gelehrten, die im Exil gewesen sind, werden viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, um Einfluss zu gewinnen. Dies wurde deutlich durch den tragischen Tod des Ayatollah al-Khoi, der nach seiner Rückkehr aus dem Londoner Exil in Najaf ermordet wurde. Man wird diesen Vorgang wohl noch nicht als Indiz für den Beginn interner Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen schiitischen Strömungen interpretieren dürfen. Die Hauze und Ayatollah al-Sistani sind die entscheidenden Faktoren. Daneben gibt es noch eine Anzahl jüngerer Gelehrter, die für eine aktivere Politik stehen. Sie werden aber wohl nur dann einen entscheidenden Einfluss gewinnen können, wenn die schiitische Bevölkerung des Irak den Eindruck gewinnt, dass ihre Interessen durch die ehemaligen Exil-Gruppen manipuliert werden oder andere nationale oder konfessionelle Gruppen sie politisch auf die Seite schieben. Dann ist zunächst mit Auseinandersetzungen innerhalb der irakischen Schiiten zu rechnen und in der Folge mit einer Steigerung der politischen Instabilität im Irak insgesamt.

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