BibelkommissionAntijudaismus im Neuen Testament?

Mitte Dezember 2001 hat die Päpstliche Bibelkommission ein umfangreiches Dokument über „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“ veröffentlicht. Der jüdisch-katholische Dialog könnte durch die Absage an jede antijudaistische Lektüre des Neuen Testaments wieder an Schwung gewinnen.

Im Verhältnis zum Judentum ist es Johannes Paul II. mehrfach schon gelungen, überraschende Akzente zu setzen: ob mit seinem Gespräch mit jüdischen Vertretern in Mainz 1980 oder in der Synagoge in Rom 1986, als er auf den von Gott ungekündigten Bund mit den Juden aufmerksam machte, ob mit dem Schuldbekenntnis oder zuletzt mit seiner Israel-Reise im Heiligen Jahr (vgl. dazu: Hans Hermann Henrix und Wolfgang Kraus [Hg.], Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1986–2000, Bonifatius Verlag/Gütersloher Verlagshaus, Paderborn/Gütersloh 2001). Es ist nur konsequent, wenn solche vor allem symbolischen Gesten des Papstes in jüngster Zeit im Vatikan auch durch eine intensivere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Verhältnis von Juden und Christen unterfüttert werden. 1997 hatte es einen Kongress über die Wurzeln des Antijudaismus im Christentum gegeben, parallel dazu hat die Päpstliche Bibelkommission seit Jahren an einem Papier über die exegetischen Grundlagen für den Dialog zwischen Christen und Juden gearbeitet.

Die hebräische Bibel wird stets vorausgesetzt

Seit Mitte Dezember vergangenen Jahres nun liegt das mehr als 200 Seiten starke Dokument vor („Le peuple juif et ses Saintes Ecritures dans la Bible chrétienne“, Libreria Editrice Vaticana 2001). Im Kern geht es um die Frage, wie sich das Neue Testament zur jüdischen Tradition und zum jüdischen Volk stellt. Die Shoa ist zwar durchaus ein zentrales Ereignis im Hintergrund der Überlegungen und wird auch mehrfach angesprochen. Der Päpstlichen Bibelkommission geht es jedoch in erster Linie um die exegetische Fragestellung, inwieweit sich ein Antijudaismus überhaupt auf das Neue Testament berufen kann. Ausgangspunkt des Dokuments, an dem die Päpstliche Bibelkommission seit ihrem letzten Text zur Bibelhermeneutik im Allgemeinen und zu den Methodenfragen im Besonderen gearbeitet hat (vgl. HK, Januar 1994, 10 ff.), ist die Anerkennung, dass nicht nur die christliche Bibel mit Altem und Neuem Testament – woran auch Kardinal Joseph Ratzinger in seinem Vorwort erinnert –, sondern selbst die neutestamentlichen Schriften ohne die hebräische Bibel ein Torso wären.

Zum einen setzen die Evangelisten wie auch Paulus und die anderen Briefschreiber die Autorität der Heiligen Schrift der Juden fraglos voraus, zum anderen zitieren sie diese auch fleißig: explizit wie implizit. Selbst die Methoden rabbinischer Schriftauslegung finden sich im Neuen Testament. Ein christliches Bibelverständnis ohne die Kenntnis der jüdischen Tradition ist deshalb unmöglich, eine entsprechende Exegese des Neuen Testaments, so die Autoren, zum Scheitern verurteilt: Ohne das Alte Testament wäre das Neue Testament „ein Buch, das nicht entschlüsselt werden kann, wie eine Pflanze ohne Wurzeln, die zum Austrocknen verurteilt ist“ (Nr. 84). In einer Fußnote wird angemerkt, dass man deshalb auch nicht, wie es in „einigen Kreisen“ üblich geworden sei, von einem „Ersten Testament“ sprechen müsse. Mit dem Ausdruck „alt“ sei keinerlei Abwertung verbunden. Im zweiten Teil des Papiers werden dann die alttestamentlichen Bezüge in den Schriften des Neuen Testaments detailliert analysiert und dabei jeweils die einzelnen wichtigen Motive der hebräischen Bibel zuerst für sich genommen gewürdigt (Nr. 23–63). Breit werden auf diese Weise die gemeinsamen Grundthemen der beiden Testamente behandelt, die die Basis für jeden jüdisch-christlichen Dialog darstellen: Offenbarung Gottes, Größe und Elend des Menschen, Gott als Befreier und Retter, Erwählung Israels, Bund, Gesetz, Gebet und Gottesdienst, Jerusalem und der Tempel, Scheltworte und Verheißungen.

Anerkennung der jüdischen Messiashoffnung

Gleichwohl legt das Dokument neben den Momenten der Kontinuität auch Wert auf die Kenntlichmachung der Diskontinuität zwischen hebräischer und christlicher Bibel. Genauso wenig wie man nur auf die Diskontinuität setzen dürfe, wie es in der Vergangenheit geschehen sei, dürfe man heute nicht ausschließlich auf Kontinuität aus sein. Wichtig ist hier das Zusammenspiel von den auch jüdisch bedeutsamen Verheißungen Gottes und deren Erfüllung in Jesus von Nazareth, an die die Christen glauben. Gerade hier wird nun aber sehr genau differenziert. Die Autoren unterstreichen in dem zentralen Absatz Nr. 21, dass der Begriff der Erfüllung sehr „komplex“ sei. So wäre es nach Überzeugung der Kommission völlig abwegig, die Prophetie im Alten Testament als eine quasi-fotografische Abbildung von Zukünftigem zu sehen, das dann später genau so eingetroffen sei. Angesichts der Wirkungsgeschichte einer solchen Vorstellung ist diese Einsicht freilich nicht zu unterschätzen. Hier liege der Grund für ein zu hartes Urteil der Christen über die Juden und ihre Lesart des Alten Testaments. Ausdrücklich wird demgegenüber gefordert, dass auf Schriftbeweise, wie sie „für eine bestimmte Schule der Apologetik kennzeichnend waren“, heute verzichtet werden müsse. Der jeweilige historische Kontext der Geschichte des Volkes Israel sei bei allen prophetischen Drohungen unbedingt zu berücksichtigen.

Darüber hinaus wird sogar explizit festgehalten, dass die jüdische Messiashoffnung nicht „gegenstandslos“ beziehungsweise „vergebens“ („vaine“ im französischen Original) sei und Juden wie Christen von der Erwartung lebten. Die Kapitel 9 bis 11 des Römerbriefs, heißt es im abschließenden Teil, zeigten gerade in diesem Zusammenhang „eine Haltung des Respekts, der Hochschätzung und der Liebe gegenüber dem jüdischen Volk“, die die rechte christliche Gesinnung angesichts des verborgenen Heilsplans Gottes sei (Nr. 87). Vor allem bei Juden in den Vereinigten Staaten hat das Zugeständnis einer in sich legitimen jüdischen Lesart der Bibel ein lebhaft zustimmendes Echo ausgelöst.

Sinnüberschuss in den alten Texten

Die innerhalb der Theologie derzeit diskutierte Frage, ob man auch als Christ das Alte Testament mit jüdischen Augen lesen könne oder sogar lesen müsse, beantwortet die Bibelkommission allerdings mit einem entschiedenen „Nein“ – wenn auch jede Neubesinnung auf eine christliche oder sogar christologische Auslegung es nicht am nötigen Respekt gegenüber dem ursprünglichen Sinn fehlen lassen dürfe (Nr. 20). Die Mitglieder der Bibelkommission sind allerdings sehr wohl davon überzeugt, dass der Christ einen Sinnüberschuss in den alten Texten entdeckt. Der reichere Sinn ist eine Frage der späteren Lektüre, wenn sich dieser auch erst vom Glauben an Christus her erschließt. Die früher schon verwendete Metaphorik aufgreifend heißt es: „Wie beim Entwickeln eines Films hat Jesus (...) in der Schrift eine vorher nicht wahrnehmbare Sinnfülle freigelegt“ (Nr. 64).

Grundsätzlich komme es bei der christlichen Exegese des Alten Testaments darauf an, die biblische Botschaft weder buchstabengetreu und damit zu eng auszulegen (und beispielsweise ein Verbot jeder Bluttransfusion zu fordern), noch aufgrund mancher sperriger Passagen den gesamten Text in seiner heilsgeschichtlichen Relevanz zu verwerfen. Dies führt inhaltlich zu manchen Differenzen zwischen wichtigen Überzeugungen im Alten wie im Neuen Testament, die nicht unterschlagen werden sollten: etwa der Verzicht auf die zentrale Bedeutung des Tempels, auf Sühneopfer, Beschneidung, die Unterscheidung zwischen Rein und Unrein, Speisevorschriften, manche Möglichkeiten der Ehescheidung und die restriktiven Vorschriften zum Sabbat. Diese Unterschiede waren jedoch, so die Kommission, zumindest zum Teil schon im Alten Testament angelegt und haben auf diese Weise wiederum die neutestamentliche Lektüre als eine legitime ermöglicht.

Für die viel diskutierte Frage nach dem Verhältnis der alttestamentlichen Bundesschlüsse und dem im Neuen Testament traktierten „Neuen Bund“ wird auf der einen Seite festgehalten, dass die Erwählung Israels durch Jesus bestätigt werde. Israel stehe weiter zu Gott in einer Bundesbeziehung, weil der Verheißungsbund endgültig ist und nicht außer Kraft gesetzt werden kann, heißt es in Anlehnung an Johannes Paul II. (Nr. 36). Auf der anderen Seite betonen die Autoren, dass der Bund Gottes mit den Menschen durch eine neue Gnadeninitiative Gottes auf die Heiden ausgeweitet worden sei. Das Problem der Paulinischen Theologie liege in dieser Frage darin, dass sie unterschiedliche Akzente setze (Nr. 44), was an den jeweiligen Kontexten in den entsprechenden Gemeinden und der Entwicklung des Denkens von Paulus liege. Es sei angesichts mancher missverständlicher Formulierungen zu berücksichtigen, dass die an Juden gerichteten Vorwürfe im Neuen Testament denen der jüdischen Propheten gegen das eigene Volk durchaus entsprechen.

So kommt das Dokument mit dem hermeneutischen Kniff einer strengen Unterscheidung von ursprünglicher Aussageintention der Texte und späterer Interpretation zu dem Ergebnis, dass es einen „wirklichen Antijudaismus, das heißt eine Haltung der Verachtung, der Feindschaft und der Verfolgungswut gegenüber den Juden als Juden“ in keinem der Texte des Neuen Testaments gebe und mit dessen Lehre auch nicht vereinbar sei (Nr. 87). Immerhin gestehen auch die Autoren zu, dass mehrere Textpassagen zum Anlass für Antijudaismen geworden sind. Um solche Interpretationen abzuwehren, sei jedoch auch hier stets der geschichtliche Kontext zu beachten, an den die polemischen Texte des Neuen Testaments selbst dann gebunden bleiben, wenn sie allgemeine Wertungen vornehmen: Diese haben es „niemals auf die Juden aller Zeiten und an allen Orten, nur weil sie Juden sind“ abgesehen. Diese Tendenz, in verallgemeinernden Wendungen die negativen Seiten des Anderen hervorzuheben und die positiven mit Schweigen zu übergehen, sei für die streitlustige Rhetorik der gesamten Antike kennzeichnend gewesen und dementsprechend auch innerhalb des Judentums wie des Urchristentums festzustellen. Auf keinen Fall dürfe man einen „Mangel an Übereinstimmung“ auf der Ebene der Glaubensüberzeugung als Antijudaismus bezeichnen.

Früchte der wissenschaftlichen Theologie

Der jüngste Text der Bibelkommission, der zu seinem Thema eine Fülle von Material zusammengetragen hat (und seine Thesen mit einer Überfülle an Bibelstellen belegt), orientiert sich über weite Strecken an den gesicherten Ergebnissen der historisch-kritischen Forschung der letzten Jahrzehnte. Insofern ist er ein weiterer Beleg dafür, wie die Früchte der wissenschaftlichen Theologie auch vor einem kirchenamtlichen Forum Anerkennung finden und von einer lehramtsnahen Institution der Rezeption der Weltkirche anempfohlen werden. Schon insofern kann der Wert des neuen Dokuments kaum überschätzt werden. Dies gilt vor allem für den neuen Respekt vor der jüdischen Auslegung des Alten Testaments, von der ausdrücklich gesagt und gezeigt wird, dass man christlicherseits viel von ihr zu lernen vermag – wie die Autoren freilich ebenfalls davon ausgehen, dass auch die Juden von der christlichen Exegese des Alten Testaments profitieren könnten. Die Bibelkommission, zu deren deutschsprachigen Mitgliedern aktuell der in Rom lehrende Neutestamentler Klemens Stock, jetzt Sekretär der Bibelkommission, und der Alttestamentler Christoph Dohmen, Regensburg (ab 2001; bis dahin der Linzer Neutestamentler Albert Fuchs), gehören, will damit erklärtermaßen den Dialog im Geist der Klarheit wie auch der gegenseitigen Wertschätzung und Zuneigung zwischen Christen und Juden fördern: Man solle sich an der Gesamtdynamik der biblischen Texte orientieren, die „letztlich eine Dynamik der Liebe“ sei (Nr. 86). Nach dem Scheitern der jüdisch-vatikanischen Historiker-Kommission (vgl. HK, September 2001, 436 f.), das die jüdisch-katholischen Beziehungen in den vergangenen Monaten sehr getrübt hat, könnte dieses Dokument wieder neuen Schwung in die Beziehungen zwischen Juden und Christen bringen. Dies wäre ganz im Sinne der Gesten des Papstes im Heiligen Jahr, die zuletzt Ende Januar in Paris gewürdigt wurden. Bei einer vom Jüdischen Europäischen Kongress organisierten Begegnung von Juden und Vertretern der katholischen Kirche hat man die Absicht eines gemeinsamen Vorgehens gegen jede Form von Antisemitismus bekräftigt.

Von jüdischer Seite wurde in der Zwischenzeit auch anerkannt, dass mit dem jüngsten Dokument der Bibelkommission ein wirklicher Fortschritt innerhalb der vatikanischen Haltung erfolgt ist. Der Oberrabbiner von Florenz, Joseph Levi, sprach von einer „absoluten Neuheit“.

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