Gottes Spur in allem – Meditation und MystikOhne Übung ist alles verloren

Meditation: Ganz präsent sein - mehr braucht es nicht.
Meditation: Ganz präsent sein - mehr braucht es nicht.© KNA Bild

Jeder Augenblick ist Gottesaugenblick

Hinter den Wegen der Mystik steht diese Erfahrung: Jeder Augenblick ist ein Gottesaugenblick.
Aber wo bleibt da Gott, warum ver­birgt er sich so furchtbar? Die christli­che Mystikerin Madeleine Debrêl lässt ihren kleinen Mönch ausrufen: „O Gott, wenn du überall bist, wie kommt es dann, dass ich so oft woanders bin?“ Nicht Gott verbirgt sich, sondern ich bin nicht im Augenblick, jedenfalls viel zu oft.
Deshalb übe ich Meditation, jeden Tag, um immer wieder gegenwärtig zu wer­den. Mehr als dieses Gegenwärtig-Sein braucht es nicht. Aber ohne immer wieder aufs Neue zu üben, ist alles verloren.
Alle spirituellen Traditionen beharren darauf, dass tägliches Gebet oder täg­liche Übung irgendeiner Art notwen­dig ist. Das dient nicht dazu, um Gott herbeizurufen, sondern es ist notwen­dig wegen unserer menschlichen Be­grenztheit. Sonst zieht es uns weg von Gott, und das kann ganz unmerklich geschehen.

Alles ist einfach, alles ist gut

In einem alten Zen-Gedicht heißt es: „Ohne Begierde und ohne Hass er­ scheint alles klar und unverstellt. Doch ein Unterscheiden breit wie ein Haar, und Himmel und Erde sind unendlich getrennt.“ Wenn sich mir der Moment als Gottesmoment zeigt, gibt es kei­nen Zweifel und keine Trennung mehr. Alles ist von Gottes Liebe und Frieden durchdrungen. Dann verstehe ich nicht mehr, warum es jemals anders war. Gott zeigt sich als die einzige Wirklich­keit, über alles andere hinaus. Alles ist einfach, alles ist gut. Doch seltsam: So klar in diesem Augenblick auch alles ist, und so überwältigend Gottes Ge­genwart auch ist, so zerbrechlich ist aber auch dieser Augenblick. Und wenn er zerbrochen ist, sind Himmel und Erde wieder unendlich getrennt. Dann scheint Gott ganz unwirklich zu sein.

Abwesend und anwesend

Weder ist es so, dass Zeiten der Medi­tation automatisch Gottesaugenblicke sind, noch dass alles andere Zeit der Trennung ist. Beides vermischt sich, und – was noch wichtiger ist – in die Zeiten der Trennung kann etwas von den Zeiten der Verbundenheit mit Gott einfließen. Das erlebe ich als die Frucht langer Übung, über Jahrzehnte hinweg. Es braucht nicht immer die große Er­fahrung sein.
Auch in die Normalität kann Gottes Gegenwart einfließen. Diese stille Art des Vertrauens auf Gott kann den Un­terschied von Gottes Anwesenheit und Abwesenheit aufheben. So wie ein ver­trauter und geliebter Mensch im Leben tragen kann, auch wenn er oder sie gar nicht anwesend ist.
Ich kenne auch besondere Anlässe, die manchmal zu Gottesaugenblicken füh­ren. Solche Anlässe sind wohl für jeden Menschen verschieden. Und sie sind immer auch Glücksache.
Es geschieht nie automatisch, ich kann es nicht herbeizwingen. Dasselbe gilt ja auch für den Weg der Meditation, den ich oben beschrieben habe: So­bald ich versuche, etwas festzuhalten oder herbeizuzwingen, geht gar nichts mehr. Dann wird Gott zu einem Stück Seife, das wegflutscht, sobald ich da­nach greife.

Dasein in der Natur

Die wichtigsten Anlässe für Gottesau­genblicke sind für mich menschliche Begegnungen und das Dasein in der Natur. Die Natur wirkt oft still, biswei­len auch überwältigend. Überwältigend sind zum Beispiel manche Bergland­schaften, wenn ich dafür empfänglich bin. Dann ist da nur noch diese Land­schaft, nichts anderes mehr, alles an­dere ist vergessen. Alles ist gut – das ist Gottes schöpferisches Wirken. Das stille Wirken der Natur geschieht oft eher unauffällig. Beim Gehen oder Verweilen in der Natur legt sich die Flut der Gedanken, die angefüllt sind von Phantasien, Ängsten, Erinnerun­gen und vielem Anderen. Und wenn sich die Flut der Gedanken legt, wird der Gesang der Vögel hörbar oder die Bäume werden ganz anders sichtbar, der Augenblick wird ein gegenwärtiger Augenblick, ein Gottesaugenblick.

Menschliche Begegnungen

Auch menschliche Begegnungen, die Gottesaugenblicke werden, gibt es. Dafür zwei unverfängliche Beispiele: Einmal während meines Studiums, als ich im vollen Stress beim Einkaufen war, und als die Schlange beim Supermarkt viel zu lang war, hat mich eine alte Frau in der Schlange vorgelassen, ohne dass ich sie dazu gebeten habe. Ich habe sie wohl sehr überrascht angesehen und sie antwortete mit einem zutiefst glück­lichen Gesicht: „Zeit ist das Einzige, was ich noch schenken kann.“ Dieser Tag war für mich ein verwandelter Tag. Diese Frau hat Gott durchscheinen las­sen. Und auch sie war glücklich damit, wahrscheinlich noch mehr als ich.
Das zweite Beispiel: In einem hindu­istischen Tempel in Indien gingen mir die anderen Touristen ziemlich auf die Nerven, weil sie ohne Respekt durch die heiligen Gebäude hasteten. Auch dem Touristenführer, einem frommen Hindu, gingen sie offensichtlich auf den Nerv. Ich habe mich abgesetzt, bin nur ruhig gegangen, und plötzlich hat mich der Touristenführer ohne Anlass angesprochen: „Sie glauben doch an Gott?“ Ich: „Ja, ich bin katholischer Priester.“ Und er: „Sehr gut, sehr gut.“ Eine tiefe Verbundenheit in Gott war spürbar, in der kein Gedanke an Un­terschiede der Religionen noch einen Platz hatte.

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