Irrtum macht nichts ungültig
Ich war als sehr junges Kind Messdiener. Einmal knieten wir Messdiener zur Ewigen Anbetung von der ausgesetzten Monstranz. Ich schaute die Hostie lange und gläubig an und sah plötzlich im Brot das Bild des Gekreuzigten. Ich glaubte sogar, dass er mir zunickte. Ich war tief bewegt, aber traute mich nicht, dies jemandem zu erzählen, es blieb mein Geheimnis einer Gotteserfahrung. Dann später die große Ernüchterung: Im Brot aller Hostien war das Kreuz eingestanzt, von jedem jederzeit in den geweihten und den ungeweihten zu sehen. Meine Erfahrung war dahin und stellte sich als höchst natürliche Tatsache heraus. War sie wirklich dahin? Ich hatte etwas als meine Erfahrung interpretiert, und so war es mehr als die natürliche Erklärung später behauptete. Ich hatte eine Erfahrung der Anwesenheit des Geheimnisses, wenigstens für eine Zeit. Der Irrtum machte sie nicht ungültig.
Der Nüchterne hat recht. Aber ich auch.
Was lerne ich aus dieser kindlichen Geschichte? Eine religiöse Erfahrung ist das, was ich als religiöse Erfahrung interpretiere; anders gesagt: Eine Gotteserfahrung ist das, was ich als Gotteserfahrung glaube. Ohne mein Dazutun, ohne meinen Glauben, ohne meine Interpretation erfahre ich nichts. Vom Frühjahr bis zum Herbst schwimme ich jeden Morgen, der mir möglich ist, im Luzerner See. Wenn die Sonne aufgeht und der Mond verblasst, erfahre und besinge ich den „Morgenglanz der Ewigkeit“ (Paul Gerhardt). Ein Realist würde sagen: „Das kalte Wasser und das besondere Licht bringen ihn in eine ekstatische Stimmung.“ Er hat recht mit seiner Nüchternheit. Aber auch ich habe recht, wenn ich in diesem Augenblick die Einheit und die Tiefe des Lebens besinge und Gottes Glanz erfahre.
Schöne Erfahrungen, plumpe Erfahrungen
Es gibt in der Bibel schöne Geschichten der Erfahrung des Auferstandenen, es gibt auch eine plumpe. Eine der schönen: die Begegnung der Maria von Magdala mit Christus. Sie erkennt ihn nicht und hält ihn für einen Gärtner. Aber dann lernt sie das Gesicht des Gärtners lesen. Sie hört seine Stimme, die ihren Namen nennt, und sie glaubt. Der Glaube ist eine Lesekunst. Gleich nach dieser zarten Geschichte folgt die plumpe, die Geschichte vom ungläubigen Thomas. Dieser bezweifelt die Nachricht von der Auferstehung, er will handfeste Beweise. Glauben will er erst, wenn er die Male der Nägel sieht und seine Hand in Christi Seite legen kann. Dies wird ihm gewährt, und Thomas glaubt. Nein, er glaubt eigentlich nicht, der Realist ist überzeugt. Ein Irrtum ist nicht mehr möglich, nachdem Thomas seine Hand in die Seite Christi gelegt hat. Die anderen Erzählungen von den Begegnungen mit dem Auferstandenen sind wie Geschichten im Morgengrauen, eine Zeit, in der die Konturen noch nicht fest sind und man sich irren kann. Der am frühen Morgen am Ufer steht – er kann ein Fremder sein. Es kann auch Christus sein. Der mitgeht nach Emmaus – er scheint ein Fremder zu sein, erst in seinem Entschwinden „wissen“ sie, es ist Christus. Es ist ein merkwürdiges Wissen. Von denen, die nicht glauben, kann es jederzeit mit Recht bezweifelt werden.
Geistliche Habgier
Ich gestehe, dass ich skeptisch bin gegen unmittelbare religiöse Erfahrungen, vor allem gegen jede Erfahrungssucht. Der Theologe Michael Plattig zitiert den Rat eines Wüstenvaters, religiöse Erlebnisse nicht zu beachten. „Als der vermeintliche Christus erscheint, antwortete der Altvater: Ich will hier Christus nicht schauen, sondern in jenem Leben erst.“ Die Sucht nach religiöser Erfahrung nennt Johannes vom Kreuz „geistliche Habgier“. Der mühsame alltägliche Glaube muss ohne die direkten Erfahrungen auskommen, wie sie manchmal von Heiligen berichtet werden. Diese sind auch nicht relevant, ob sie „wahr“ sind oder nicht. Was nur wenigen gilt und nur wenigen zugänglich ist, ist unwichtig, weil es nur den glücklichen Auserwählten gilt. Es genügt der Glaube, der ohne Sichtbarkeit und Greifbarkeit auskommen muss und der ab und zu – selten genug! – getroffen wird vom „Morgenglanz der Ewigkeit“.