Auch Erfahrungen sind GlaubenssacheIm Morgenglanz der Ewigkeit

Im Morgenglanz der Ewigkeit: Auch Erfahrungen sind Glaubenssache
Glauben: Aus der Schönheit der Natur die Einheit und Tiefe des Lebens herauslesen© Tristan Vankann

 Irrtum macht nichts ungültig

Ich war als sehr junges Kind Messdie­ner. Einmal knieten wir Messdiener zur Ewigen Anbetung von der ausgesetz­ten Monstranz. Ich schaute die Hostie lange und gläubig an und sah plötzlich im Brot das Bild des Gekreuzigten. Ich glaubte sogar, dass er mir zunickte. Ich war tief bewegt, aber traute mich nicht, dies jemandem zu erzählen, es blieb mein Geheimnis einer Gotteserfahrung. Dann später die große Ernüchterung: Im Brot aller Hostien war das Kreuz eingestanzt, von jedem jederzeit in den geweihten und den ungeweihten zu sehen. Meine Erfahrung war dahin und stellte sich als höchst natürliche Tatsa­che heraus. War sie wirklich dahin? Ich hatte etwas als meine Erfahrung inter­pretiert, und so war es mehr als die na­türliche Erklärung später behauptete. Ich hatte eine Erfahrung der Anwesen­heit des Geheimnisses, wenigstens für eine Zeit. Der Irrtum machte sie nicht ungültig.

Der Nüchterne hat recht. Aber ich auch.

Was lerne ich aus dieser kindlichen Geschichte? Eine religiöse Erfahrung ist das, was ich als religiöse Erfahrung interpretiere; anders gesagt: Eine Got­teserfahrung ist das, was ich als Got­teserfahrung glaube. Ohne mein Dazu­tun, ohne meinen Glauben, ohne meine Interpretation erfahre ich nichts. Vom Frühjahr bis zum Herbst schwimme ich jeden Morgen, der mir möglich ist, im Luzerner See. Wenn die Sonne auf­geht und der Mond verblasst, erfahre und besinge ich den „Morgenglanz der Ewigkeit“ (Paul Gerhardt). Ein Realist würde sagen: „Das kalte Wasser und das besondere Licht bringen ihn in eine ekstatische Stimmung.“ Er hat recht mit seiner Nüchternheit. Aber auch ich habe recht, wenn ich in diesem Augen­blick die Einheit und die Tiefe des Le­bens besinge und Gottes Glanz erfahre.

Schöne Erfahrungen, plumpe Erfahrungen

Es gibt in der Bibel schöne Geschich­ten der Erfahrung des Auferstandenen, es gibt auch eine plumpe. Eine der schönen: die Begegnung der Maria von Magdala mit Christus. Sie erkennt ihn nicht und hält ihn für einen Gärt­ner. Aber dann lernt sie das Gesicht des Gärtners lesen. Sie hört seine Stimme, die ihren Namen nennt, und sie glaubt. Der Glaube ist eine Lesekunst. Gleich nach dieser zarten Geschichte folgt die plumpe, die Geschichte vom ungläu­bigen Thomas. Dieser bezweifelt die Nachricht von der Auferstehung, er will handfeste Beweise. Glauben will er erst, wenn er die Male der Nägel sieht und seine Hand in Christi Seite legen kann. Dies wird ihm gewährt, und Thomas glaubt. Nein, er glaubt eigentlich nicht, der Realist ist überzeugt. Ein Irrtum ist nicht mehr möglich, nachdem Thomas seine Hand in die Seite Christi gelegt hat. Die anderen Erzählungen von den Begegnungen mit dem Auferstande­nen sind wie Geschichten im Morgen­grauen, eine Zeit, in der die Konturen noch nicht fest sind und man sich irren kann. Der am frühen Morgen am Ufer steht – er kann ein Fremder sein. Es kann auch Christus sein. Der mitgeht nach Emmaus – er scheint ein Frem­der zu sein, erst in seinem Entschwin­den „wissen“ sie, es ist Christus. Es ist ein merkwürdiges Wissen. Von denen, die nicht glauben, kann es jederzeit mit Recht bezweifelt werden.

Geistliche Habgier

Ich gestehe, dass ich skeptisch bin gegen unmittelbare religiöse Erfahrun­gen, vor allem gegen jede Erfahrungs­sucht. Der Theologe Michael Plattig zitiert den Rat eines Wüstenvaters, re­ligiöse Erlebnisse nicht zu beachten. „Als der vermeintliche Christus er­scheint, antwortete der Altvater: Ich will hier Christus nicht schauen, son­dern in jenem Leben erst.“ Die Sucht nach religiöser Erfahrung nennt Johan­nes vom Kreuz „geistliche Habgier“. Der mühsame alltägliche Glaube muss ohne die direkten Erfahrungen aus­kommen, wie sie manchmal von Heili­gen berichtet werden. Diese sind auch nicht relevant, ob sie „wahr“ sind oder nicht. Was nur wenigen gilt und nur wenigen zugänglich ist, ist unwichtig, weil es nur den glücklichen Auserwähl­ten gilt. Es genügt der Glaube, der ohne Sichtbarkeit und Greifbarkeit auskom­men muss und der ab und zu – selten genug! – getroffen wird vom „Morgen­glanz der Ewigkeit“.

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