Wir haben nur Worte, um gegen Sein Schweigen anzusprechenWenn Gott schweigt

Gottes Wunde Auschwitz: Kann Gott auch da anwesend sein?
Gottes Wunde Auschwitz: Kann Gott auch da anwesend sein?© shutterstock

Gott in Auschwitz?

Ich will da nicht hin. Nicht zurück an diese graurote Ziegelwand. Nicht dahin, wo meine sonst so starke Freun­din steht und weint. Wo sie weint für uns alle. Denn wir haben nicht mal Trä­nen, nur starres Entsetzen.
Ich will da nicht hin.
Ich will da nicht hin, nicht mal in Ge­danken. Denn ich war ja schon da, vor 37 Jahren, in jenem Lager, dessen Namen inzwischen zu einem Syno­nym für das unaussprechliche Entset­zen geworden ist. Das Entsetzen Gottes über uns Menschen. Das Entsetzen von Menschen über Menschen.
Shoa – das heißt „große Katastrophe, Untergang, Zerstörung“.
Wie harmlos Worte sein können.
Gott?
Da?
Will ER denn da hin?

Ein Riss, der mein Herz zerreißt. Oder Seines?

Dorthin zu dieser grauroten Ziegel­wand, wo meine 16-jährige Freun­din für uns alle weint, weil nichts, gar nichts anderes mehr zu sagen ist?
Ja, vielleicht gerade dorthin.
Vielleicht ist diese Erinnerung des wei­nenden jungen Mädchens in Ausch­witz eines der stärksten Bilder meines Lebens, das sich mir eingebrannt hat.
Jedenfalls war es dieser Augenblick, der mein Leben verändert hat bis heute.
Nicht gewollt, nicht beabsichtigt.
Aber doch so, dass es zur wichtigsten Frage meines Lebens wurde:
Wie war das möglich?
Wie ist das möglich?
Unsere Großmütter und Großväter. Nicht als Opfer – als Täter in Auschwitz und anderen Orten der Shoa, direkt oder indirekt.
Eine Erinnerung, die mich treibt seit Jahr­zehnten und bis heute. Wer sind wir? Was sind wir? Und wer bist Du, Du Gott Israels, dessen geliebtes Volk so preis­gegeben wurde?
Und wer bist Du, Du Gott Jesu Chris­ti, dass Du unseren Großmüttern und Großvätern nicht in die Arme gefallen bist, als sie das Zyklon B. in die Belüf­tungsschächte gekippt haben? Wer bist Du, dass Du den Himmel nicht bersten ließest, als der Rauch aus den Schorn­steinen quoll?

Wo warst Du? Warst Du wirklch da? Auch DA?

Wenn wir von „Gottesmomenten“ spre­chen, denken wir vielleicht an Stern­stunden unseres Lebens. An die erste Liebe. Eine tiefe geistliche Erfahrung voller Licht und Glückseligkeit. An eine „Bekehrung“ gar, die uns blendet mit Schönheit und Kraft.
Ich denke an Auschwitz. An eine Blen­dung aus Staub und Finsternis.
Ich kann nichts dafür und habe mir das nicht ausgesucht. Ich wollte das nicht – hineingestoßen werden in den Riss, der seit der Shoah die Welt zerreißt.
Ich wollte nicht, dass es mein Herz zer­reißt. Wollte nicht, Dass ER mein Herz zerreißt.
Oder war es Seines?
Eine Begegnung, die kei­nen unverändert lässt.
Und doch geschah es so. Und heute, 37 Jahre spä­ter, schreibe ich das so und lasse es mit bangem Herzen so stehen.
Im Allgemeinen spre­chen wir von einer Gotteserfahrung dann, wenn diese Erfahrung sich wirklich im rea­len Leben manifestiert. Keine der bib­lischen Personen, die dem lebendigen Gott und Seinem Sohn Jesus Christus begegnet sind, niemand von ihnen ist aus dieser Begegnung unverändert her­vorgegangen.
Aber ist es legitim zu glauben, dass die­ser lebendige Gott sich im Augenblick absoluten Entsetzens und vollständiger Sprachlosigkeit offenbaren kann?
Kann Gott anwesend sein in gefühlter gänzlicher Abwesenheit?
Begriffe können Leere „überkleben“. Einordnung kann die Abwesenheit von Sinn erträglich machen. Aus dem Ent­setzen machen wir gern Kategorien, vielleicht Diagnosen, und versuchen so, in unserem gewohnten Leben zu überleben.
Vor allem aber: Wir haben nichts an­deres als Worte, um Wortlosigkeit und Nicht-Sprache zum Sprechen zu bringen.

Mitten im Schweigen wird Er Wort

Ich habe auf meiner nun 37 Jahre wäh­renden Suche nach einem Zeichen des lebendigen Gottes in der erlebten Got­tesabwesenheit den Wert des Wortes neu erfahren.
Habe überhaupt erst erfahren, dass ER, der Lebendige nicht nur in Seinem Wort ist, sondern, mitten im Schwei­gen, WORT wird.
Es hat schon einen Sinn, dass die Schöpfung mit dem Schöpferwort „es werde...“ aus dem Tohuwabohu her­ausgesprochen wird. Schweigen und Wirrnis werden geordnet in Klang und Bedeutung. Es hat schon einen Sinn, dass unser Gott sich im Wort offenbart und dass der menschgewordene Gottes­sohn Sein WORT ist.
„Nicht die Arche hat Noah gerettet, berichtet eine chassidische Legende, sondern das Wort, denn im Hebräi­schen bedeutet ,Tewah‘ sowohl Arche als auch Buchstabe. Um Noah vor der Sintflut zu retten, befahl Gott ihm, sich eine Sprache zu machen, die ihm als Obdach und Zuflucht dienen werde.“ (Elie Wiesel in: Worte wie Licht in der Nacht. S. 104., Herder, 2. Aufl., 1987)
Es ist der Buchstabe, das Wort, das un­seren Geist aus der Vernichtung ret­ten kann. Wenn Gott sich verbirgt, bleibt uns das Wort, um trotzig neu zu „schöpfen“ – wenn es sein muss gegen Sein Schweigen aus Seinem Schweigen.
Seit 37 Jahren bin ich in der einen oder anderen Weise damit beschäftigt, aus Seinem Schweigen gegen Sein Schwei­gen anzusprechen.
Nur im Bunde mit Seinem WORT.

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