Unfassbar nah, unglaublich fern

„Von Gott zu reden ist gefährlich“, hieß ein Buch der Dissidentin Tatjana Goritschewa, die Freiheit und Leben riskierte und wegen ihres Glaubens vom KGB verfolgt wurde. Das scheint lange her. Und heute? Von Gott zu reden, wäre für viele zu persönlich, zu privat oder intim. Die einen genieren sich bei dem Thema. Andere haben gar keine Ahnung mehr, wovon genau da die Rede sein soll. „Einer Ahnung allerdings bedarf es“, sagt der Schriftsteller Martin Walser, der von sich bekennt: „Ich weiß nicht, ob Gott existiert. Aber ich spüre, dass er mir fehlt.“ Er hält damit eine Tür offen und setzt sich selber einen Stachel: „Wer sagt, es gebe Gott nicht, und nicht dazusagen kann, dass Gott fehlt und wie er fehlt, der hat keine Ahnung.“

Eine Freundin, die sich in der Hospizarbeit engagiert, erzählte mir die Geschichte einer alten Frau, die in Indien gelebt, den Buddhismus und den Hinduismus kennengelernt hatte und immer eine spirituell Suchende geblieben war. Jetzt am Lebensende war sie plötzlich und immer stärker von einer Unruhe und Angst geplagt: Sie könnte Gott verloren haben. Ja, vielleicht existierte er gar nicht? Bis sie eines Tages dieser Freundin, die sich täglich um sie kümmerte, sagte: „Jetzt weiß ich es. Es gibt ihn. Du bist ja da.“ Wem ist die alte Frau in diesem Moment begegnet? Und was hat sich ihrer Begleiterin, der Hospizmitarbeiterin, im gleichen Moment geoffenbart? Es ist eine Schlüsselgeschichte, weil sie zeigt: In Gottesmomenten geht es nicht um abstrakte Wahrheit. Es geht nicht einmal nur oder in erster Linie um Gott. „Die Gottesbegegnung“, sagt Martin Buber in seiner Schrift „Ich und Du“, „widerfährt dem Menschen nicht, auf dass er sich mit Gott befasse, sondern dass er den Sinn an der Welt bewähre.“

Schon wegen dieser praktischen Konsequenz ist es sinnvoll, solche Geschichten zu erinnern, sie weiterzuerzählen – und sich von ihnen inspirieren zu lassen. Allerdings: Es gibt heute keine selbstverständliche Sprache mehr, um religiöse Erfahrungen auszudrücken. Aber wie finden wir heute für das, was mit „Gott“ gemeint ist, eine neue Sprache – erfahrungsgetränkt und daher nachvollziehbar? Nicht nur Theologen und Prediger haben das Wort „Gott“ lange Zeit zu oft und zu rasch in den Mund genommen, es in Sonntagsreden verschlissen, in Lehrgebäuden eingeschlossen oder vernebelt, es durch eine widersprüchliche Praxis verzerrt.

Trotzdem: Es gibt sie, diese treibende Kraft im Menschenherzen – auch bei denen, die das Wort „Gott“ vermeiden – die unsere große Sehnsucht ins Große ausrichten kann und uns doch selber ganz nahe bringt. Auf wen stoßen wir in solchen Momenten: auf den Störer, der uns aufscheucht, wenn wir uns zu bequem eingerichtet haben im Alltagsgehäuse? Auf den erhofften Ruhepol unseres kleinen unruhigen Lebens? Einen, der uns ein gutes Ende und einen neuen Anfang verheißt? Sind wir ihm da auf der Spur, wo wir staunen und zutiefst danken können, wo wir Frieden, Liebe, Vertrauen, Glück, Freude, Freiheit, Vergebung, Barmherzigkeit erfahren? Und sind wir ihm auch da nahe, wo wir an Ungerechtigkeit, an Lieblosigkeit und am fehlenden Sinn leiden? Auch im Tod?

Natürlich wissen wir, dass wir das Geheimnis nicht fassen können und dass alles, was wir als Gott bezeichnen, nicht er selber ist. Es sagt höchstens über unsere Wahrnehmung etwas aus. „Man kann den höchsten Gott mit allen Namen nennen; Man kann ihm wiederum nicht einen zuerkennen.“ Sagt Angelus Silesius. Der Lyriker Uwe Kolbe spricht von den „1000 Gewändern Gottes“. Von den 99 Namen Gottes ist im Islam die Rede – um anzudeuten, dass man den hundertsten nie erfahren wird. Und für das Judentum ist der Gottesname JHWH tabu. Die Kabbalisten sagen, dass die 304.805 Buchstaben des Pentateuchs in Wirklichkeit einen einzigen großen Gottesnamen bilden, dass also all die biblischen Geschichten und Gesetze Auslegungen des Gottesnamens sind: Momente seiner Erscheinung.

Die Autoren dieses Themenheftes benennen, was sie erfahren haben, mit dem Namen „Gott“. Sie wollen aber nicht ihre Erfahrungen in ein gedankliches System bringen. Sie erzählen von Nähe und Abwesenheit, von Verzweiflung und Erfüllung, von Sinn und von Sinnlücken. Sie erzählen Geschichten vom Leben. In Alltagssprache. Von Gott reden, das kann auch heute gefährlich sein: vor allem für die eigene Apathie, für die Gleichgültigkeit untereinander, für die Belanglosigkeit eines Daseins, das sich abschottet in banalem Konsum und im kalten Selbstbezug. Höchste Zeit, neu von Gott zu reden.

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