Moraltheologie

Die Moraltheologie befasst sich als wissenschaftliche Disziplin mit dem guten und richtigen Verhalten der Menschen. Dabei betrachtet sie deren Handeln vor dem Hintergrund des christlichen Glaubens und der kirchlichen Tradition.

Beichstuhl
Die Moraltheologie bringt auch die kirchlichen Moralvorstellungen in die aktuellen ethischen Debatten mit ein.© Pixabay

Moraltheologie als theologische Ethik

Moraltheologie ist in der katholischen Theologie die Bezeichnung für die theologische Teildisziplin, die sich mit dem Verhältnis von Glaube und Moral auseinandersetzt. Synonym dazu wird heute auch häufig die ursprünglich in der protestantischen Theologie gebräuchliche Bezeichnung theologische Ethik verwendet. Der Moraltheologe Stephan Ernst erklärt in seiner Einführung in die „Grundfragen theologischer Ethik“ (2009), warum er diese Bezeichnung vorzieht: „Während der Ausdruck ‚Moraltheologie‘ einen speziellen Bereich innerhalb der Theologie als Ganzer oder auch eine spezielle Ausprägung der Theologie bezeichnet, ‚Moral‘ also als Spezifizierung der Theologie dient, deutet der Ausdruck ‚Theologische Ethik‘ an, dass es primär um die allgemeine Aufgabe ethischer Reflexion innerhalb der Gesellschaft […] geht, die hier allerdings theologisch, auf Grundlage des christlichen Glaubens, erfolgt. ‚Theologisch‘ ist hier die Spezifizierung der Ethik.“

Moraltheologie ist aus dieser Perspektive also zunächst einmal Ethik, das heißt theoretische Reflexion von Moral. Moral wiederum meint „die faktisch gelebten Einstellungen, Werthaltungen und Gebräuche, die in einer Gesellschaft kraft Herkommen und allgemeiner Akzeptanz gelebt werden“, so Eberhard Schockenhoff (Abschnitt „I. Philosophische Ethik“ in: Clauß Peter Sajak (Hg.): „Christliches Handeln in Verantwortung für die Welt“, 2015). Moral ist demnach ein System von Normen einer Gruppe. Diese Normen fordern in Form von Geboten und Verboten ein bestimmtes Verhalten von Handelnden: „Du sollst (nicht) …“. Als mehr als bloße Handlungsempfehlungen zeichnen sich moralische Normen durch ihre Verbindlichkeit aus: Sie erheben „Anspruch auf unbedingte Gültigkeit“, so der Philosoph Dietmar Hübner in seiner „Einführung in die philosophische Ethik“ (2018). Ethik blickt dabei in zweierlei Hinsicht auf Moral: Während die deskriptive Ethik beschreibt, welche moralischen Normen es gibt und von Menschen befolgt werden, prüft die normative Ethik moralische Normen und Positionen hinsichtlich ihrer Tragfähigkeit, begründet und formuliert selbst Maßstäbe für gutes und richtiges Handeln.

Als theologische Ethik unterscheidet sich die Moraltheologie von philosophischer Ethik durch ihren besonderen Ausgangspunkt: Sie ist Ethik auf Grundlage / vor dem Hintergrund / aus der Perspektive des christlichen Glaubens. Dabei geht es nicht um eine „Sondermoral“, die nur aus dem Glauben heraus begründet werden kann. Theologische Ethik arbeitet mit denselben Methoden und Begriffen wie philosophische Ethik, sie erhebt ebenso den Anspruch, Aussagen über das für alle Verbindliche zu treffen, und sie muss als Wissenschaft den gleichen Maßstäben rationaler Begründung genügen, so der Theologe und Ethiker Christof Mandry in seinem Artikel „Theologie und Ethik (kath. Sicht)“ im „Handbuch Ethik“ (2002). Der christliche Glaube ist für die theologische Ethik aber in anderer Hinsicht relevant:

  • Die theologische Ethik bezieht in ihre Reflexion die „ethischen Weisungen, die […] in der Heiligen Schrift durchgängig zu finden sind“, die „geschichtliche Praxis des Christentums“ und die „normativen Aussagen zum moralischen Handeln des Christen“ aus der kirchlichen Tradition ein (Stephan Ernst).
  • Der christliche Glaube eröffnet in der theologischen Ethik den „Möglichkeitsgrund und letzten Sinn des Sittlichen“ und bietet eine wichtige Motivation für sittliches Handeln (Konrad Hilpert, Artikel „Moraltheologie“ in LThK3).
  • Christliche Überzeugungen begründen eine besondere ethische Aufmerksamkeit und Sensibilisierung „für Unterdrückte, Benachteiligte und Marginalisierte“ (Christof Mandry).

Damit ist die Frage, welche Bedeutung der christliche Glaube für ethisches Handeln und die Begründung ethischer Normen hat, aber keinesfalls erschöpfend beantwortet, im Gegenteil: Diese Frage ist gerade ein zentraler, immer weiter zu beleuchtender Gegenstand der theologischen Ethik, genauer: der theologischen Fundamentalethik oder Allgemeinen Moraltheologie, betont Stephan Ernst.

Allgemeine und Spezielle Moraltheologie

Die Moraltheologie lässt sich in zwei Hauptbereiche unterteilen: die Allgemeine Moraltheologie, auch Fundamentalmoral oder theologische Fundamentalethik, und die Spezielle Moraltheologie, die auch angewandte Moraltheologie genannt wird (vgl. Johannes Reiter, Artikel „Moraltheologie“ in RGG4). Die Allgemeine Moraltheologie fragt danach, ob und wie ethische Urteile und Normen überhaupt begründet beziehungsweise erkannt werden können: „Nicht mehr die Begründung konkreter Einzelnormen steht zur Debatte, sondern die Begründung des jeweiligen Normbegründungsverfahrens“, so Stephan Ernst. Dazu sind in philosophischer und theologischer Ethik im Laufe der Geschichte verschiedene Ansätze entwickelt worden, etwa die Berufung auf den Willen Gottes, die Bibel, das Gewissen, die Naturordnung, moralische Gefühle, eine Vereinbarung der Betroffenen, die autonome Vernunft oder das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel.

Die Spezielle Moraltheologie widmet sich den ethisch relevanten Aspekten verschiedener Lebensbereiche, beispielweise als Bioethik, Sexual- und Beziehungsethik, Genderethik, Medizinethik, Tierethik, Umweltethik. Dabei sind laut Konrad Hilpert die Grenzen zur theologischen Disziplin der Sozialethik häufig fließend, die meist als Ethik der Systeme, Strukturen und Institutionen von der Moraltheologie als Individualethik abgegrenzt wird. Themen der Speziellen Moraltheologie sind etwa Sterbehilfe, Präimplantationsdiagnostik, Stammzellforschung, Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch, Geschlechtergerechtigkeit sowie sexuelle Selbstbestimmung.

Zu Entstehung und Entwicklung der Moraltheologie

Als eigenständige theologische Disziplin entstand die Moraltheologie Ende des 16. Jahrhunderts. Moraltheologie war zunächst vor allem Kasuistik, das heißt Bestimmung des richtigen Verhaltens für ganz spezifische Einzelfälle. Sie ging zum einen aus der Tradition der Bußbücher – Handreichungen für Beichtväter, die schematisch bestimmten Sünden bestimmte Bußleistungen zuordneten – hervor. Andererseits beruht sie auf einer langen Tradition grundsätzlicher Auseinandersetzung mit ethischen Fragen aus theologischer Perspektive (vgl. Konrad Hilpert): In der Antike beschäftigten sich die Kirchenväter im Kontext der Glaubenslehre mit ethischen Themen. Sie entfalteten ethische Aussagen der Bibel, rezipierten aber auch Konzepte der paganen Philosophie wie Tugend- und Naturrechtslehre. Einen besonders langen Schatten warf Augustinus auf die Moraltheologie, der vor allem die katholische Ehe- und Sexualmoral maßgebend beeinflusste.

Im Hochmittelalter, als die Theologie als Wissenschaft entstand, kam es unter anderem bei Thomas von Aquin zu einer Systematisierung der theologisch-ethischen Reflexion. Das Naturrechtsdenken, das Barock- und Neuscholastik ausgehend von seiner Lehre vom natürlichen Sittengesetz entwickelten, wirkte in der Moraltheologie bis ins 20. Jahrhundert hinein prägend, erklärt Christof Mandry. Das Konzept, dass sich aus der Natur, die als von Gott als Schöpfer gewollte, zielgerichtete Ordnung verstanden wird, ethische Normen ableiten lassen, überzeugte mit dem Beginn der Neuzeit aber immer weniger. Katastrophenerfahrungen, naturwissenschaftliche Erkenntnisse und eine zunehmende Beherrschung der Natur durch Technik ließen die Menschen an einer guten, zielgerichteten und vorgegebenen Naturordnung zweifeln. Aufklärung und Moderne brachten neue Modelle ethischer Normbegründung hervor. Die katholische Kirche hielt dagegen laut Stephan Ernst am Naturrechtsdenken fest, das zunehmend kasuistisch enggeführt wurde: Immer konkretere Normen wurden aus der Naturordnung abgeleitet und mit lehramtlicher Autorität formuliert, die gleichzeitig für viele Christinnen und Christen immer weniger nachvollziehbar waren.

Gegen eine zunehmend „lehramtlich reglementierte und autoritativ auferlegte kirchliche Moral“ – so Christof Mandry – wandte sich nach dem II. Vatikanischen Konzil das Konzept der Autonomen Moral (Alfons Auer), das die Emanzipation der Moral von der Metaphysik durch die Moralphilosophie Immanuel Kants sowie das neuzeitliche Vernunft- und Freiheitsverständnis rezipiert: Die praktische Vernunft ist autonom zu ethischer Erkenntnis und der Begründung ethischer Normen fähig. Was gut ist, muss dem Menschen nicht gesagt werden (von der Natur, von Gott oder vom kirchlichen Lehramt), sondern kann von ihm selbständig erkannt werden (vgl. Stephan Ernst). Daneben gilt: Ethische Normen müssen rational nachvollziehbar begründet werden, um in der modernen, weltanschaulich pluralen Welt universale Geltung zu beanspruchen – es genügt nicht (mehr) die Berufung auf die Autorität von Natur, Offenbarung oder Tradition.

Die Autonome Moral hat sich in den 1970er Jahren der Aufgabe gestellt, die Kommunizierbarkeit christlicher Ethik zu erhalten beziehungsweise wieder neu zu gewährleisten. Das bleibt auch das Ziel jeder Generation von Moraltheologinnen und Moraltheologen, die unter den Bedingungen ihrer jeweiligen Gegenwart im Dialog mit der philosophischen Ethik die Geltungsansprüche ethischer Normen und Normbegründungen immer wieder neu überprüfen müssen.

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