Über Zweifel, Irrtümer und UnterscheidungenEine moraltheologische Zwischenbetrachtung zur Debatte um "Amoris laetitia"

Verfolgt man die derzeitige Debatte um das Apostolische Schreiben „Amoris laetitia“, beschleicht einen als Moraltheologen das Gefühl eines Déjà-vu-Erlebnisses. Begegnen uns im gegenwärtigen Disput um Handlungsnormen christlicher Ethik doch viele altbekannte Theorien und Argumente1.

Gleichwohl ist etwas neu an der gegenwärtigen Situation. Denn erstmals seit Jahrzehnten kommt durch ein päpstliches Schreiben Bewegung in moraltheologische Fragen, von denen viele dachten, sie seien längst endgültig und vor allem in ihrem Sinne entschieden worden2. Mit einmal scheint es nicht mehr ausgeschlossen zu sein, dass es in bestimmten Fragen der Lehre zu tatsächlichen Weiterentwicklungen kommt. Die vermeintlich erstarrte Lehre - sie bewegt sich doch!

Aber diese Verlebendigung der Tradition stößt in Teilen des Katholizismus auf Kritik und Zurückweisung. Es gibt manche, für die jede Vergegenwärtigung des Christlichen offenbar nur solange Wert hat, solange sie sich einfügt in die ihnen vertraute Gestalt. Kant findet in seiner berühmten Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung“ harte Worte für eine solche Haltung: „Ein Zeitalter“, so schreibt er, „kann sich nicht verbünden und darauf verschwören, das folgende in einen Zustand zu setzen, darin es ihm unmöglich werden muss, seine (...) Erkenntnisse zu erweitern, von Irrtümern zu reinigen [...]“3. Theologisch gewendet: Ein Zeitalter sollte dem folgenden nicht absprechen, durch den Heiligen Geist tiefer in die Wahrheit eingeführt werden zu können.

Die Zweifel der Kardinäle

Die von vier Kardinälen dem Papst übermittelten „Dubia“4 (Zweifel) hinsichtlich der bestehenden kirchlichen Lehre bilden den vorläufigen - mehr kirchenpolitischen als intellektuellen - Höhepunkt der Debatte um „Amoris laetitia“. Nach Ansicht der Autoren der fünf Dubia hätte der Papst auf die an ihn gerichteten formellen Fragen mit Ja oder Nein antworten sollen, „ohne theologische Argumentation“, wie sie bemerkenswerter Weise schreiben. Nachdem sie von Franziskus keine Antwort bekommen hatten, entschlossen sich die Kardinäle Walter Brandmüller, Raymond Burke, Carlo Caffarra und Joachim Meisner, ihre Zweifel öffentlich zu machen. Sie begründen ihren ungewöhnlichen Schritt mit ihrer „Sorge um das Wohl aller Gläubigen“, das sie durch die widersprüchlichen Interpretationen von Amoris laetitia in Gefahr sehen. Sie bitten daher den Papst, durch eine Klärung ihrer Zweifel „Mehrdeutigkeiten zu zerstreuen“.

Dass es gute Gründe dafür gibt, auf die Dubia nicht in der erwarteten Form (Ja oder Nein) zu antworten, soll im Folgenden gezeigt werden. Und auch, dass „Amoris laetitia“ auf eindeutige Weise bisher scheinbar felsenfeste5, in Wahrheit aber geschichtlich kontingente Denkweisen korrigiert. Wer angesichts dessen von Mehrdeutigkeiten spricht, produziert die Verwirrung, die er wortreich beklagt.

Nicht nur Entweder - oder

Nach dem Erscheinen von „Amoris laetitia“ im April 2016 hat sich die theologische Debatte, wie nach den beiden Bischofssynoden nicht anders zu erwarten, sehr stark auf die Auslegung des achten Kapitels konzentriert, in dem Franziskus sich zur Frage der wiederverheirateten Geschiedenen äußert. Die entscheidende Nummer 305 von „Amoris laetitia“ lautet:

„Daher darf ein Hirte sich nicht damit zufrieden geben, gegenüber denen, die in ‚irregulären‘ Situationen leben, nur moralische Gesetze anzuwenden, als seien es Felsblöcke, die man auf das Leben von Menschen wirft. Das ist der Fall der verschlossenen Herzen, die sich sogar hinter der Lehre der Kirche zu verstecken pflegen, ‚um sich auf den Stuhl des Mose zu setzen und - manchmal von oben herab und mit Oberflächlichkeit - über die schwierigen Fälle und die verletzten Familien zu richten‘. [...] Aufgrund der Bedingtheiten oder mildernder Faktoren ist es möglich, dass man mitten in einer objektiven Situation der Sünde - die nicht subjektiv schuldhaft ist oder es zumindest nicht völlig ist - in der Gnade Gottes leben kann, dass man lieben kann und dass man auch im Leben der Gnade und der Liebe wachsen kann, wenn man dazu die Hilfe der Kirche bekommt.“

In der Fußnote 351 wird hinzugefügt: „In gewissen Fällen könnte es auch die Hilfe der Sakramente sein.“

Der Münsteraner Kirchenrechtler Klaus Lüdicke hat dies so kommentiert: „Dass die Aufhebung der Todsünden-Vermutung die Möglichkeit des Zutritts zu Buße und Eucharistie bedeutet, wird also in einer Fußnote versteckt!“6 Es hat freilich nicht lange gedauert, bis dieses Versteck „aufgeflogen“ ist.

Wir haben „Amoris laetitia“, das zeigen der Text und zwischenzeitliche päpstliche Kommentare, tatsächlich im Sinne einer Weiterentwicklung der bisherigen römischen Auffassung hinsichtlich des pastoralen Umgangs mit den wiederverheirateten Geschiedenen zu verstehen7. Denn noch 1994 hatte die Kongregation für die Glaubenslehre auf einen Vorstoß der oberrheinischen Bischöfe Oskar Saier, Karl Lehmann und Walter Kasper hin ausdrücklich festgestellt: „Wenn Geschiedene zivil wiederverheiratet sind, befinden sie sich in einer Situation, die dem Gesetz Gottes objektiv widerspricht. Darum dürfen sie, solange diese Situation andauert, nicht die Kommunion empfangen.“8

In „Amoris laetitia“ wird nun nicht länger davon ausgegangen, dass sich Gläubige in der „irregulären Situation“ einer zweiten Ehe stets im sündhaften Zustand eines objektiven Widerspruchs zum Gesetz Gottes befinden. Warum nicht? Weil, so sagt uns das Schreiben und unsere Lebenserfahrung, auch ein wiederverheiratetes Paar ein Liebespaar sein kann, das im Glauben füreinander einsteht und sich liebevoll um die gemeinsamen Kinder kümmert.

Bisher wurde von solchen Partnern verlangt, dass sie auf ihre Sexualität verzichten, wenn sie zu den Sakramenten zugelassen werden wollen. Jetzt gilt diese von Papst Johannes Paul II. in „Familiaris consortio“ Nr. 84 auferlegte Verpflichtung nicht mehr in jedem Fall, weil ein solcher Verzicht unter Umständen die Beziehung selbst gefährdet (vgl. AL 298)9.

Anders als im bisherigen Modell eines Entweder - oder erkennt „Amoris laetitia“ an, dass es auch in Partnerschaften außerhalb der sakramentalen Ehe „Zeichen der Liebe“ geben kann, „die in irgendeiner Weise die Liebe Gottes widerspiegeln“ (AL 294). Da nun nicht mehr davon ausgegangen wird, dass Wiederverheiratete, die nicht „wie Bruder und Schwester“ zusammenleben, in keinem Fall die Sakramente der Buße und Eucharistie empfangen dürfen, ist ihr eigenes Gewissensurteil bei der Frage nach dem Zugang zu den Sakramenten unbedingt einzubeziehen. Daher heißt es:

„Wir tun uns ebenfalls schwer, dem Gewissen der Gläubigen Raum zu geben, die oftmals inmitten ihrer Begrenzungen, so gut es ihnen möglich ist, dem Evangelium entsprechen und ihr persönliches Unterscheidungsvermögen angesichts von Situationen entwickeln, in denen alle Schemata auseinanderbrechen. Wir sind berufen, die Gewissen zu bilden, nicht aber dazu, den Anspruch zu erheben, sie zu ersetzen.“ (AL 37)

Kirchliche Lehre entwickelt sich

Die Weiterentwicklung der bisherigen Position ist bei Franziskus moraltheologisch gut eingebettet. Sie basiert auf der Bereitschaft und Fähigkeit zur Unterscheidung, die für die Anwendung rechtlicher und moralischer Gebote wesentlich ist: bene iudicat, qui bene distinguit.

Unterscheiden bedeutet zu fragen, ob der Intention eines Gebotes immer und in jedem Falle dadurch entsprochen wird, dass man seinem Wortlaut entsprechend handelt. Es kann Situationen geben, in denen wir unserer sittlichen Verantwortung nur dadurch gerecht werden, dass wir anders handeln, als der Wortlaut eines Gebotes es auf den ersten Blick von uns zu verlangen scheint. Es wäre ein Irrtum zu denken, ein allgemeines Gebot müsse nur verkündet werden und „der Rest sei Disziplin“10.

Thomas von Aquin bringt für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen einem allgemeinen Satz und dem besonderen Handeln ein anschauliches Beispiel11: „Wenn z. B. in einer belagerten Stadt die Verfügung erlassen wird, dass die Stadttore geschlossen bleiben sollen, so ist das fast immer für das allgemeine Wohl ersprießlich; geschieht es aber, dass der Feind die Bürger verfolgt, von deren Einsatz die Rettung der Stadt abhängt, so wäre es äußerst schädlich, wenn ihnen die Tore nicht geöffnet würden.“ In diesem Fall auf der wörtlichen Befolgung des Gebotes zu bestehen, würde der Intention des Gebotes, Leben zu schützen, entgegenstehen.

Das Gebot, so könnte man sagen, gilt im allgemeinen, aber nicht in jeder denkbaren Lebenssituation. Die Ausnahme schützt seine Intention. Es fällt nicht schwer, daraus wiederum ein Gebot zu machen: „Halte die Tore der Stadt bei Belagerung geschlossen, es sei denn, es tritt eine Situation ein, in der die Öffnung der Tore im Interesse des Schutzes der Stadtbewohner ist.“ Oder auch: „Die Tore einer belagerten Stadt ohne einen rechtfertigenden Grund zu öffnen, ist stets verboten.“ In dieser Fassung kennt das Gebot selbstverständlich keine Ausnahme, denn es bezieht sich auf Handlungen, deren moralische Unzulässigkeit aus dem fehlenden rechtfertigenden Grund resultiert. Das Gebot gibt aber selbst keine Antwort darauf, in welcher konkreten Situation eine Öffnung der Tore gerechtfertigt ist und in welcher nicht.

An dieser Stelle wird deutlich, dass es nicht schwer fällt, Gebote so zu formulieren, dass sie immer und in jedem Falle gelten. „Übe Gerechtigkeit“ - dieses allgemeine Gebot gilt immer, aber es muss je mit Inhalt gefüllt werden, damit es „im konkreten Leben des Menschen ankommt“12. Wenn „Amoris laetitia“ also vorhalten wird, das Schreiben erwecke den Eindruck, es gebe keine ausnahmslos geltenden moralischen Regeln mehr, dann führt dies in die Irre. Von bestimmten Geboten zu sagen, dass sie nur im Allgemeinen gelten, bedeutet nicht, dass es überhaupt keine Gebote gibt, die ausnahmslos gelten.

Kommen wir noch einmal auf das Beispiel von Thomas zurück: Weil „keines Menschen Weisheit [...] so groß (ist), dass sie sich alle Einzelfälle ausdenken könnte; daher vermag niemand hinreichend in Worte zu fassen was dem erstrebten Ziel dienlich ist.“ Darum müssen die Bewohner der Stadt ihre Urteilsfähigkeit, ihre Klugheit, einsetzen, um jeweils richtig zu entscheiden. Wer sich nur auf den Wortlaut des Gebotes in seiner ersten Fassung („Halte bei Belagerung die Stadttore geschlossen“) versteift, der riskiert, den Stadtbewohnern unter Umständen nicht helfen zu können. „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat“ (Mk 2,27) - dieses Jesuswort meint nichts anderes: Gebote sollen den Menschen zugutekommen.

Franziskus warnt also zu Recht vor einem Denken, das meint, die gehorsame Anwendung von Gesetzen im Sinne der Befolgung ihres Wortlautes sei schon immer die Garantie für richtiges Tun. Es ist daran zu erinnern, dass in der katholischen Tradition selbst ein so fundamentales Gebot wie „Du sollst nicht töten“ als ein Gebot verstanden wird, das im allgemeinen gilt, aber nicht in jedem denkbaren Fall. Denn wenn das Tötungsverbot etwa dazu führen würde, dass brutaler und massenhafter Gewalt gegen das menschliche Leben nicht Einhalt geboten wird, dann würde es sich gegen den Schutz des Lebens selbst kehren. Das Tötungsverbot ist daher immer restriktiv ausgelegt worden: „Du sollst keinen Unschuldigen direkt töten“. Und selbstverständlich gilt: „Einen Menschen ohne einen rechtfertigenden Grund zu töten ist stets unerlaubt“.

Päpstlicher Appell an das Unterscheidungsvermögen

Aus ihrem Verständnis von Barmherzigkeit heraus muss sich die Kirche nach Franziskus immer wieder fragen, ob ihre moralischen Lehren den Menschen in ihren unterschiedlichen Lebenssituationen zu gute kommen oder ihnen nicht womöglich ungerechter Weise schwer zu tragende Lasten aufbürden. Dieser Appell an das Unterscheidungsvermögen setzt voraus, dass wir es in vielen „irregulären Situationen“, in denen sich Menschen befinden, nicht mit Situationen zu tun haben, bei denen das moralische Werturteil immer schon feststeht. „Pastorale Lösungen bedürfen der Unterscheidungsgabe.“13

An dieser Stelle zeigt sich offenkundig eine Differenz zu der bisherigen, vor allem unter Johannes Paul II. vertretenen Position, dass pastorale Antworten im Bereich der „irregulären Situationen“ immer strikt den moralischen Geboten zu folgen haben, die sich aus den Prinzipien der Untrennbarkeit zwischen (ehelicher) liebender Vereinigung und Fortpflanzung und der sittlichen Exklusivität ehelicher Sexualität ergeben.

Bekanntlich hatten viele Bischofskonferenzen, so auch die Deutsche Bischofskonferenz in ihrer Königsteiner Erklärung, nach dem Erscheinen der Enzyklika „Humanae vitae“ (1968) die christlichen Eheleute in der Frage der Empfängnisregelung an ihr unvertretbar eigenes Gewissensurteil erinnert. Sie verstanden das Gebot der Enzyklika also nicht als ein Gebot, das in jedem denkbaren Fall die Eheleute absolut verpflichtet. Dem hält Johannes Paul II. in der Nummer 56 von „Veritatis splendor“, die in der gegenwärtigen Diskussion wieder eine große Rolle spielt, entgegen:

„Zur Rechtfertigung solcher und ähnlicher Einstellungen haben einige eine Art doppelter Seinsweise der sittlichen Wahrheit vorgeschlagen. Außer der theoretisch-abstrakten Ebene müsste die Ursprünglichkeit einer gewissen konkreteren existentiellen Betrachtungsweise anerkannt werden. Diese könnte, indem sie den Umständen und der Situation Rechnung trägt, legitimerweise Ausnahmen bezüglich der theoretischen Regel begründen und so gestatten, in der Praxis guten Gewissens das zu tun, was vom Sittengesetz als für in sich schlecht eingestuft wird. Auf diese Weise entsteht in einigen Fällen eine Trennung oder auch ein Gegensatz zwischen der Lehre von der im allgemeinen gültigen Vorschrift und der Norm des einzelnen Gewissens, das in der Tat letzten Endes über Gut und Böse entscheiden würde. Auf dieser Grundlage maßt man sich an, die Zulässigkeit sogenannter ‚pastoraler‘ Lösungen zu begründen, die im Gegensatz zur Lehre des Lehramtes stehen, und eine ‚kreative‘ Hermeneutik zu rechtfertigen, nach welcher das sittliche Gewissen durch ein partikulares negatives Gebot tatsächlich nicht in allen Fällen verpflichtet würde. Es gibt wohl niemanden, der nicht begreifen wird, dass mit diesen Ansätzen nichts weniger als die Identität des sittlichen Gewissens selbst gegenüber der Freiheit des Menschen und dem Gesetz Gottes in Frage gestellt wird. Erst die vorausgehende Klärung der auf die Wahrheit gegründeten Beziehung zwischen Freiheit und Gesetz macht eine Beurteilung dieser ‚schöpferischen‘ Interpretation des Gewissens möglich.“

Die fünf dem Papst vorgelegten Dubia der Kardinäle setzen die Gültigkeit dieser Position von Johannes Paul II. voraus und betrachten sie als Norm für die Bewertung von „Amoris laetitia“. Für die Situation der wiederverheirateten Geschiedenen hat Franziskus deutlich gemacht, dass für ihn die in seinem Schreiben angedeutete pastorale Lösung durchaus vereinbar ist mit dem Gesetz Gottes und dem christlichen Begriff des gebildeten Gewissens. Das für die Wiederverheirateten bislang formulierte kirchliche Gebot ist für ihn keines, das Paare in allen Fällen unbedingt verpflichtet. Eine solche Anwendung eines moralischen Gesetzes entspringt für ihn einer letztlich unbarmherzigen Haltung.

Die Antwort auf den Zweifel Nr. 1 der Kardinäle ergibt sich also aus der sorgfältigen Lektüre von „Amoris laetitia“: Wiederverheiratete können die Sakramente der Buße und Eucharistie empfangen, wenn für sie gilt, was „Amoris laetitia“ über die moralische Klärung ihrer Lebenssituation auf eine differenzierte und behutsame Weise ausgeführt hat.

Ähnlich verhält es sich mit dem Zweifel Nr. 3, der sich auf „Amoris laetitia“ 301 bezieht, wo es heißt: „Daher ist es nicht mehr möglich zu behaupten, dass alle, die in irgendeiner ‚irregulären‘ Situation leben, sich in einem Zustand der Todsünde befinden.“ Auch hier bietet der Text selbst die Antwort auf die Frage der Kardinäle. Nach „Amoris laetitia“ wäre es eine theologische Verkürzung, aus der Tatsache, dass sich eine wiederverheiratete Person in einer Situation befindet, die einer kirchlichen Norm auf den ersten Blick nicht gerecht wird, automatisch zu schließen, diese Person lebe im Stand der Todsünde. Und dabei geht es nicht nur um die Frage der subjektiven Anrechenbarkeit einer Handlung.

Im Grunde hat Kardinal Walter Kasper in einer Stellungnahme im Abschluss an seine Rede vor dem Konsistorium der Kardinäle im Februar 2014 bereits die Antwort im Sinne von „Amoris laetitia“ geliefert:

„Es gibt nicht die wiederverheiratet Geschiedenen; vielmehr gibt es sehr verschiedenartige Situationen von wiederverheiratet Geschiedenen, die man sorgfältig unterscheiden muss. Es gibt auch nicht die objektive Situation, welche einer Zulassung zur Kommunion entgegensteht, sondern viele sehr unterschiedliche objektive Situationen.“14

Aus diesem Willen zur Unterscheidung zieht Franziskus Konsequenzen.

Plädoyer für eine differenzierte theologische Argumentation

Die übrigen drei Dubia der Kardinäle sind nicht mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten, nicht nur, weil sie über die Weiterentwicklung der Lehre im Falle der Wiederverheirateten hinausgehen, sondern auch, weil sie auf einem bestimmte Verständnis von den in sich schlechten Handlungen beruhen, für das den Kardinälen wiederum „Veritatis splendor“ als maßgeblich gilt. Der für das gesamte Schreiben der Kardinäle wohl entscheidende Zweifel Nr. 2 lautet:

„Ist nach dem Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Amoris laetitia (vgl. Nr. 304) die auf die Heilige Schrift und die Tradition der Kirche gegründete Lehre der Enzyklika Veritatis Splendor (Nr. 79) des heiligen Johannes Paul II. über die Existenz absoluter moralischer Normen, die ohne Ausnahme gelten und in sich schlechte Handlungen verbieten, noch gültig?“

Hier ist eine differenzierte theologische Argumentation unverzichtbar, ein einfaches Ja oder Nein wäre eine falsche Antwort. Die Kategorie der in sich schlechten Handlungen wird in den Nummern 79-83 von Veritatis splendor thematisiert. Dieser Abschnitt ist moraltheologisch intensiv diskutiert worden, weil er grundsätzliche Fragen der Begründung und Formulierung sittlicher Normen aufwirft.15 Auch ohne eine nähere Kenntnisnahme von „Veritatis splendor“ lassen sich bestimmte Formulierungen der Dubia rasch abhandeln, weil sie grundlegende Regeln des ethischen Argumentierens missachten.

Dies gilt zunächst für die Einordnung einer Tötungshandlung unter die Kategorie der moralischen Absoluta, der ohne Ausnahme verpflichtenden negativen Gebote. An einer Stelle im Text der Kardinäle lautet dieses Gebot: „Du sollst nicht töten“, an anderer Stelle wird von „Mord“ gesprochen. Wer die Differenz zwischen diesen beiden Handlungsweisen (töten/morden) ignoriert oder verwischt, der will entweder sagen, dass jede Tötungshandlung eine in sich schlechte und ausnahmslos verbotene Handlung ist, was mit der christlichen Tradition nicht in Einklang zu bringen ist; oder er formuliert eine Tautologie, indem er daran erinnert, dass eine jede ungerechte Tötung, also ein Mord, ungerecht ist. In beiden Fällen umgeht man also die ethische Frage, ob es Umstände geben kann, die eine Tötungshandlung rechtfertigen können, etwa wenn es um den Schutz des eigenen Lebens vor einem ungerechten Angreifer geht.

Die Kardinäle insinuieren, dass die Bestreitung der Lehre von „Veritatis splendor“ am Ende darauf hinauslaufen könnte, von einem „legalen Mord“ zu sprechen. Aber das ist eine unsinnige contradictio in terminis. Eine ungerechte Tötungshandlung kann nicht zugleich legal sein. Die Kardinäle beachten an dieser Stelle nicht, dass bestimmte Worte der Sprache der Moral bereits Wertungswörter sind: Mord, Diebstahl, Lüge. Hier lässt sich nicht sinnvoll fragen, ob solche Handlungen erlaubt sein können oder nicht. Wohl aber ist es eine ethisch sinnvolle Frage, ob jede Tötungshandlung ein Mord, jede Entwendung fremden Eigentums ein Diebstahl oder jede Falschaussage eine Lüge ist.

Die Tradition kennt in allen drei Fällen Umstände, die die Tötungshandlung, die Entwendung fremden Eigentums oder die Falschaussage zu einer moralisch zulässigen Handlung machen. Die in Frage stehenden Handlungen gelten daher nicht als in sich schlechte Handlungen mit ausnahmsloser Verpflichtung.

Fortschreibung eines personalen Ansatzes des Konzils

Den Kardinälen und anderen besorgten Gläubigen dürfte es aber nicht um eine ethische Diskussion des Tötungsverbotes gehen, sondern um Fragen der Sexual- und Ehemoral16. Das zeigt auch ihr Hinweis auf die von uns zitierte Nummer 56 von „Veritatis splendor“ und die dort erwähnten „pastoralen Lösungen“.

Konkret handelt es sich bei diesen „pastoralen Lösungen“ um kirchliche Aussagen zur ethischen Zulässigkeit der Empfängnisverhütung und den Sakramentenempfang der Wiederverheirateten. Zudem, so schreiben sie, habe das sechste Gebot („Du sollst nicht ehebrechen“) in der christlichen Tradition immer alle sexuelle Handlungen verurteilt „außer denjenigen, die mit dem eigenen rechtmäßigen Ehegatten vollzogen werden“. Ehebruch - oder auch Unkeuschheit - ist in der Tradition ein Wort für ein ganzes Bündel negativer ethischer Gebote im Bereich der menschlichen Sexualität. Ehebruch ist also ebenfalls ein Wertungswort, so dass es selbstverständlich keinen „tugendhaften Ehebruch“ (Schreiben der Kardinäle) geben kann. Nur ist damit die Frage keineswegs schon beantwortet, ob eine Person, die nach einer menschlich katastrophal lieblosen Ehe, deren Abbildcharakter für die Liebe Gottes verdorben worden ist, nicht in einer neuen Beziehung menschliche und geistliche Erfüllung finden kann - und dies auch in den Ausdruckweisen ihrer leibseelischen Existenz. „Amoris laetitia“ schließt dies jedenfalls nicht aus, billigt damit aber nicht den Ehebruch.

Die Dubia scheinen zu befürchten, dass es im Bereich der menschlichen Sexualität keine absolut zu verurteilenden und das Gewissen bindenden Handlungen mehr gäbe, sollte die Lehre von „Veritatis splendor“ nicht mehr ausdrücklich anerkannt werden. Kann es im Ernst darüber einen Zweifel geben? Jedenfalls ist hier die Auskunft der Moraltheologie eindeutig: Es gibt moralische Normen, die universal und kategorisch gelten und Handlungen, die man als in sich schlecht bezeichnen kann, insofern es für sie keine denkbare Rechtfertigung gibt. Die Benennung von absolut zu verurteilenden Handlungen ist „gerade um der Opfer solcher Verbrechen [...] unverzichtbar.“17 Die christliche Ethik findet in solchen Urteilen einen menschlichen Anknüpfungspunkt für ihre Botschaft. Es gibt Dinge, die unbedingt (nicht) sein sollen. Von solchen Erfahrungen des Unbedingten her versucht die Theologie den Glauben an den Gott, der sich in Jesus Christus als die für den Menschen unbedingt entschiedene Liebe(Thomas Pröpper) geoffenbart hat, denkerisch zu erschließen.

Der Zweifel hinsichtlich der Annahme unbedingter moralischer Geltungsansprüche kann also leicht ausgeräumt werden. Und doch gibt es eine Differenz zu der Fassung, die Johannes Paul II. dem Thema der in sich schlechten Handlungen gegeben hat. Dazu ist an den spezifischen Charakter der Sexualmoral von Johannes Paul II. zu erinnern, der davon überzeugt war, dass nur die Sexualität zwischen zwei Menschen moralisch wertvoll ist, die die natürlichen Vorgaben ihrer Leiber respektiert. Nur eine den biologischen Zweck des heterosexuellen Leibes entsprechende Sexualität werde der Person des Menschen gerecht.

In dieser Theologie des heterosexuellen Leibes wird die Beachtung des Gutes der menschlichen Fortpflanzung als so bedeutsam betrachtet, dass jede ihm widerstreitende Handlung als eine in sich schlechte Handlung bewertet wird. Dieser moralphilosophische Ansatz von Johannes Paul II. darf jedoch nicht als gänzlich unbestreitbar vorgestellt werden, so wie es häufig geschieht.

Der Moraltheologe Klaus Demmer spricht hinsichtlich des „Erbstück(s) von den innerlich schlechten Handlungen“18 von einer Pflicht zur Nachbesserung. Denn die in Anspruch genommene Absolutheit der üblichen Beispiele aus der Sexual- und Ehemoral gehe von einer „punkthaften Vereinzelung“19 einer Handlung aus und vernachlässige das klassische Lehrstück von den Umständen der Handlung. Nichts anderes dürfte Franziskus im Blick haben, wenn er an die Bedeutung der Wirklichkeit für die Ethik erinnert. Ethische Ansprüche werden durch Realismus nicht relativiert, sondern präzisiert20.

Schließlich ist daran zu erinnern, dass die Geschichte der christlichen Sexualmoral eine Reihe von Wendungen aufweist und erst im 20. Jahrhundert die Liebe als das zentrale versittlichende Element der ehelichen Sexualität kirchlich anerkannt worden ist. Das Zweite Vatikanische Konzil spricht davon, dass die Sexualität auf wahrhaft menschliche Weise „von Person zu Person“ (GS 49) zu gestalten sei. Von einem die Sexualmoral dominierenden Naturzweck ist hierbei nicht mehr die Rede.

Einen dezidiert personalen Ansatz im Sinne des Konzils fortzuschreiben, wie es „Amoris laetitia“ unternimmt, hat daher nichts damit zu tun, dass man nicht mehr bestimmen könnte, was man tun darf und was nicht. Nur das Kriterium hat sich verändert. Nicht mehr die natürliche Zweck-Ordnung, sondern die personale Sinn-Ordnung ist nun Grundlage unbedingter moralischer Ansprüche. All das, was die beteiligten Personen in ihrer Würde, ihren Rechten und ihrer körperlichen Integrität verletzt, darf nicht sein. Durch die erzwungene Auseinandersetzung mit den Fällen von sexuellem Missbrauch hat dieser entscheidende ethische Maßstab auch innerkirchlich die notwendige Beachtung gefunden.

Es gibt also absolute moralische Gebote - aber es gibt auch eine zulässige moraltheologische Debatte darüber, ob alle Handlungen, die in der jüngeren lehramtlichen Verkündigung unter dem Einfluss neuscholastischen Denkens im Bereich von Sexualität und Ehe zu dieser Klasse von Geboten gerechnet wurden, tatsächlich zu den in sich schlechten Handlungen zählen. Denn wird durch das Verbot der Empfängnisverhütung nicht etwa der Unterschied zwischen der physischen und der moralischen Ordnung übersehen? Kann es für eine Handlung, die eine Empfängnis „künstlich“ verhindert, unter keinen Umständen einen entsprechenden Grund geben? Ist jede in einer Zweitehe gelebte Sexualität eo ipso ehebrecherisch und schwer sündhaft, etwa auch dann, wenn die vormalige „innige Gemeinschaft des Lebens und der Liebe“ (GS 48) nicht mehr existiert? Man sollte nicht so tun, als wären solche Fragen durch göttliches Gesetz ein für alle Male entschieden.

Die überspannte Auffassung, in „Familiaris consortio“ und „Veritatis splendor“ sei eine in jeder Hinsicht moraltheologisch unanfechtbare und aus Schrift und Tradition zwingend resultierende Lehre vorgelegt worden, hat in der katholischen Kirche zu Denk- und Handlungsblockaden geführt, die aufzulösen sich Franziskus mit „Amoris laetitia“ unverkennbar vorgenommen hat.

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