„Eine Verhaltensampel schafft Handlungssicherheit“Laura Wirbel hat Interventionsstrategien gegen Grenzverletzungen untersucht

Wie stellt die Leitung sicher, dass sie von verletzendem Verhalten in ihrem Team erfährt?

Passive Umgangsweisen wie Schweigen, Nichtstun, Wegsehen oder Weghören sind die häufigsten Reaktionen auf verletzendes Verhalten. Es resultiert vor allem aus Überforderung im Kita-Alltag und zunehmendem Stress der Fachkräfte. Oft geschieht es zufällig und unbeabsichtigt. Arbeiten Fachkräfte an ihrer Leistungsgrenze, so können sie Signale und Bedürfnisse der Kinder häufig nicht mehr umfassend wahrnehmen. Ich selbst musste auch die Erfahrung machen, dass sich im pädagogischen Alltag Grenzverletzungen nicht immer komplett vermeiden lassen, wenn es darum geht, ein Kind zu schützen, beispielsweise vor einem anderen Kind. Bedeutsam ist das Verhalten nach solchen Situationen. Die Erziehungswissenschaftlerin Ursula Enders geht davon aus, dass bei einem achtsamen Umgang miteinander Fehlverhalten korrigierbar ist.

Ab wann muss das Team die Leitung miteinbeziehen?

Bei verletzendem Verhalten, das noch keine Übergriffe oder strafrechtlich relevanten Formen von Gewalt darstellt, muss die Leitung zunächst nicht zwangsläufig involviert werden. Voraussetzung ist aber eine offene Kommunikationskultur im Team, in der sich Kolleg*innen gegenseitig auf verletzendes Verhalten aufmerksam machen, ohne größere Konflikte befürchten zu müssen. Findet jedoch danach keine Selbstreflexion der betreffenden Fachkraft statt oder leugnet sie ihr Verhalten und wiederholt es sogar noch, muss die Leitung dringend informiert werden. Damit sie sicher sein kann, davon zu erfahren, muss sich das Team darauf verständigt haben, welche Handlungen kritisch sind und welche sogar das Kindeswohl gefährden. Meine Untersuchung zeigte, dass die Grenzen hier fließend sind. Die Positionen reichen von einem entschiedenen „Das geht ja gar nicht!“ bis zu einem verständnislosen „Was darf man dann überhaupt noch?“. Persönliche Sozialisation, eigene Kita-Zeit und fachliche Kenntnisse haben großen Einfluss darauf, wie welches Handeln von pädagogischen Fachkräften bewertet wird.

Wie kann man ein gemeinsames Verständnis von problematischem Verhalten bekommen?

Zielführend kann es sein, im Team alternative Handlungsstrategien zu entwickeln und sich bewusst zu machen, welche Folgen welches Verhalten auf Kinder hat. Problematisches Verhalten zu definieren, um danach für alle verbindlich eine Verhaltensampel aufzustellen, schafft Orientierung und Handlungssicherheit. Die Ampel ordnet Handlungen in die Kategorien „pädagogisch korrekt“, „pädagogisch kritisch“ und „unangebracht“ ein und ist meist auch Teil des Kinderschutzkonzepts, das einen Verhaltenskodex festschreibt. Mitarbeiter*innen müssen diesen Kodex durch Unterschrift bestätigen und sich dazu verpflichten, ihr Verhalten an diesen Handlungsrichtlinien auszurichten. Das Kinderschutzkonzept muss vom Team regelmäßig evaluiert und mit neuen Fachkräften intensiv besprochen werden. Dieser Austausch ist die Basis einer offenen Kommunikationskultur und des Handelns in der Einrichtung. Solch ein Reflexionsraum ermöglicht ein fehlerfreundliches Klima, das Fachkräfte ermutigt, eigenes Fehlverhalten zu thematisieren. Durch Supervision und kollegiale Fallberatung eröffnen sich Räume, in denen beobachtete Grenzverletzungen konstruktiv mitgeteilt und aufgearbeitet werden können.

Welche Erkenntnisse gibt es zur Rolle der Leitung und ihrer Vorbildfunktion?

Die Haltung der Leitung spielt eine Schlüsselrolle und ist bestimmt von ihrem Selbstverständnis sowie Mustern ihres täglichen Handelns. Auch ihre Belastungsgrenze im Beruf, ihre Gefühlslage und ihr Führungsstil haben Auswirkungen auf den Umgang mit verletzendem Verhalten durch Fachkräfte. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich ihre Rolle hin zu einem positivem Führungsverständnis verändert. Als Beispiel sei hier der lösungsorientierte Führungsansatz genannt, der nicht in erster Linie die Probleme fokussiert, sondern Stärken und Resilienzen der Mitarbeiter*innen. Wertschätzender, feinfühliger Umgang schafft eine zugewandte Atmosphäre und so die Voraussetzung, das Fehlverhalten von Mitarbeiter*innen zu ändern. 

Nicht jede Leitung hat einen so distanzierten und professionellen Stand im Team. Wie kann in solchen Fällen reagiert werden? 

Ein Dilemma zeigt sich in der Tat etwa bei der Leitung, die im Gruppendienst arbeitet und dadurch in eine Sandwichposition gerät. In Konfliktsituationen macht es ihr eine freundschaftliche Beziehung schwerer, die Problematik anzusprechen. Sie muss also die Balance zwischen Nähe und Distanz sowie legitimer Einflussnahme und bloßer Machtausübung finden und ein nötiges Maß an Kontrolle behalten. Wichtig ist deshalb, klare Linien der Leitung zu entwickeln und ihre Rolle transparent zu machen. Und nicht zuletzt muss der Leitung klar sein, dass – systemisch betrachtet – auch ihr eigenes Verhalten Auslöser von Überforderung und folglich von verletzendem Verhalten sein kann. Gerade sie muss deshalb Überforderungen ernst nehmen, ansprechen und reflektieren. Als Rollenvorbild muss sie ihr eigenes pädagogisches Handeln transparent machen und konstruktiv mit Fehlern umgehen. 

Welches Vorgehen hilft der Leitung, verletzendes Verhalten mit der Fachkraft zu reflektieren?

Im Gespräch fördert der konstruktive Umgang mit Fehlverhalten die Reflexionsfähigkeit der betreffenden Fachkraft. Zwar bietet die Literatur Leitfäden für lösungsorientierte Gespräche an, doch zeigte sich in meiner Studie, dass sich diese noch nicht durchgesetzt haben. Solche Gespräche laufen noch immer eher situativ ab. In meiner beruflichen Praxis konnte ich gute Erfahrungen mit der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) nach Rosenberg machen.1 Um uns die Komponenten der GFK immer neu zu vergegenwärtigen, haben wir in unseren Kitas einen einfachen Leitfaden eingeführt. Er nennt sich SAG ES EINFACH (siehe Kasten links). Soll verletzendes Verhalten durch Fachkräfte angesprochen werden, hilft der Leitfaden. Zum Gespräch können Kinderschutzkonzept, Verhaltensampel und Verhaltenskodex hinzugezogen werden, um Sichtweisen und Auswirkungen zu veranschaulichen. Systemisch betrachtet hat jeder Mensch einen Grund für sein Verhalten. Wenn wir diesen erfahren und im Sinne der GFK ansprechen, treffen unter Umständen gegensätzliche Perspektiven aufeinander, aus denen sich aber eine neue ergeben kann.

Nicht jedes grenzverletzende Verhalten ist dabei gleich einzuordnen, oder?

Nein! An dieser Stelle möchte ich betonen, dass wir in Fallberatungen von verletzendem Verhalten sprechen, das in grenzwertigen Situationen manchmal nicht vermeidbar ist. Zum Beispiel, wenn ein Kind auf die Straße läuft und die Fachkraft es kräftig am Arm packt, um es von herannahenden Autos wegzuzerren. Demgegenüber befinden wir uns bei geleugneten oder wiederholten Übergriffen und strafrechtlich relevanten Formen von Gewalt im Bereich der Kindeswohlgefährdung. Hier werden eine Meldung ans Jugendamt und die Reaktion des Trägers fällig – etwa mit Abmahnung oder sogar Kündigung. Für das Kindeswohl ist es wichtig, dass Fachkräfte Fehler zugeben können und sich nach verletzendem Verhalten beim Kind entschuldigen. So erfahren Kinder, dass ihre Grenzen geachtet werden und auch Erwachsende Fehler machen. Ebenso kommt es zu einem Großteil darauf an, wie etwas gesagt wird: auf den Ton, die Lautstärke, das Tempo, Mimik und Gestik.  

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