„Ein neuer Ansatz der Familienbegleitung muss entwickelt werden“Interview mit Kita-Sozialarbeiterin Ella Chasiotis aus Rheinland-Pfalz

Noch ist Kita-Sozialarbeit nur in wenigen Bundesländern als Entlastung pädagogischer Fach- und Leitungskräfte etabliert. Die positiven Entwicklungen machen das Modell aber für ganz Deutschland interessant.

Frau Chasiotis, was ist Kita-Sozialarbeit und von wem wird sie angeboten?

Kita-Sozialarbeit ergänzt in Rheinland-Pfalz den Bildungs- und Erziehungsauftrag der Kitas als strukturelles und fachliches Unterstützungsangebot für Familien. Im Rahmen des neuen Kita-Gesetzes, das 2021 in Rheinland-Pfalz in Kraft trat, wird den örtlichen Trägern der öffentlichen Jugendhilfe erstmals ein Sozialraumbudget zur Verfügung gestellt. Leitidee des Budgets ist der soziale Ausgleich in Kindertageseinrichtungen. Denn diese müssen auf die unterschiedlichen Bedarfe des Sozialraums reagieren und ihre pädagogische Arbeit an die Lebenswirklichkeiten und Lernbedürfnisse der Kinder anpassen. Mit dem Sozialraumbudget sollen die Einrichtungen auch über den Kita-Alltag hinaus fachlich und personell unterstützt werden. Kita-Sozialarbeit ist sozialraum- und lebensweltorientiert und stellt einen zusätzlichen sozialpädagogischen Arbeitsbereich innerhalb der Kita dar.

Was ist der rechtliche Rahmen für das Angebot?

Das Sozialraumbudget wird auf der Grundlage einer Konzeption verteilt, die sich an den Bedarfen des jeweiligen Kita-Sozialraums orientiert und von den Jugendämtern vor Inkrafttreten des Gesetzes dem Landesjugendamt vorgelegt werden musste. Das Kita-Zukunftsgesetz regelt dazu die Details, wonach die örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe zusätzliche Gelder erhalten, etwa für personelle Verstärkung. Diese muss übrigens den Tageseinrichtungen zugeordnet werden, in denen sie auch wirksam werden.

Welche Vorteile bringt Kita-Sozialarbeit im pädagogischen Alltag?

Kita ist ein Ort von Bildung, Erziehung und Betreuung und ein Begegnungsort für Familien. Kitas tragen soziale Mitverantwortung für das Aufwachsen der Kinder. Dafür müssen sich pädagogische Fachkräfte noch stärker als bisher mit den unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten der Kinder und ihrer Familien auseinandersetzen. Durch die gesellschaftlichen Veränderungen steigen die Anforderungen an die Kitas und das pädagogische Personal stetig. Es ist eine Zunahme an Armutsbedingungen, an Belastungen und Problemlagen bei Familien zu verzeichnen, die als Folge sowohl Entwicklungshemmnisse bei Kindern als auch Beratungs- und Unterstützungsbedarfe bei Eltern mit sich bringen. Darüber hinaus sollen sich die Einrichtungen aktiv an der Mitgestaltung ihres Sozialraums beteiligen und Mitsprache bei der Gestaltung pädagogisch-sozialer Infrastruktur haben, um die Familien bei der Bewältigung ihrer Erziehungsaufgaben zu unterstützen und zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen beizutragen.

In welchen Bereichen wird Kita-Sozialarbeit mit welchen Maßnahmen aktiv?

Die Verbesserung bei den Menschen kann durch Dialog, Engagement und Begegnung mit unterschiedlichen Akteur*innen des Sozialraums gelingen. An dieser Stelle kann Kita-Sozialarbeit anknüpfen und als Schnittstelle zwischen der Kita und dem Sozialraum agieren. Die Kita-Sozialarbeit befasst sich mit vier grundsätzlichen Handlungsfeldern: Kind und Familie – Team und Leitung – Netzwerkarbeit – Berichtswesen und Dokumentation. Als Anlauf- und Beratungsstelle für alle Beteiligten im Kita-Alltag bietet sie fachliche Unterstützung, Beratung und Begleitung. Zu den Aufgaben zählen unter anderem die Ermittlung konkreter Bedarfe, Interessensvertretung in der Gemeinde, Sprechstunden, Ergänzung des pädagogischen Teams oder die gemeinsame Konzeptentwicklung. Welchen Schwerpunkt eine Kita setzt, hängt vom Sozialraum und den Rahmenbedingungen ab. Deshalb erfolgt die konkrete Ausgestaltung der Ziele und Aufgaben in der Kita, um gemeinsam die besonderen Bedarfe vor Ort in den Blick zu nehmen.

Was spricht für Kita-Sozialarbeit im frühpädagogischen Bereich?

In einer Studie von 20211 wird der Zusammenhang zwischen sozialem Status der Familie und Bildungserfolg der Kinder untersucht. Die Forscher Jan Skopek und Giampiero Passaretta haben herausgefunden, dass schon vom ersten Tag des Lebens an die familiäre Herkunft eines Kindes in Deutschland über seine Leistung bestimmt und die Schule selbst einen ziemlich geringen Einfluss darauf hat. Die Studie weitet den Blick für die familiären Faktoren der Bildungsschere in den ersten sechs Lebensjahren. Demnach gründen Bildungserfolg oder -misserfolg signifikant in der sozialen Lebens- und Kommunikationswirklichkeit der Familie. Aus der Studie ergibt sich eine weitreichende Erkenntnis: Um die durch die familiäre Ausgangssituation verursachte Bildungsungerechtigkeit zu reduzieren, muss ein neuer Ansatz der Familienbegleitung und Kooperation zwischen Familie und Kita entwickelt werden. 

Aber reicht es nicht aus, damit im Schulalter zu beginnen?

Nur im Zeitfenster der Frühen Bildung sind in Familie und Kita Interventionen im Sinne von Bildungsgerechtigkeit möglich. Jedes weitere Kita-Jahr verstärkt den Effekt. Zukunftsorientierte Kitas müssen zur Erfüllung ihres sozialpolitischen Auftrags auf die Chancengleichheit aller Kinder hinwirken, um den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden. Das Zusammenwirken von Familien und Kindertageseinrichtungen mit den vielfältigen Faktoren des Sozialraums beeinflusst entscheidend die Entwicklung der Kinder und bestimmt den Erfolg frühkindlicher Bildung und Erziehung.2

Was sind die Qualitätsmerkmale einer gelungenen Kita-Sozialarbeit?

Bei ihrer Konzeptentwicklung sollten Kitas die Frage bearbeiten, wie sie mit den Herausforderungen, die aus problematischen Lebenslagen von Familien entstehen, professionell umgehen können und was sie dafür benötigen. Hier käme als zentraler Aspekt das systematische Zusammenwirken früh- und sozialpädagogischer Perspektiven ins Spiel. Für die Qualitätsentwicklung ist entscheidend, dass Kita-Sozialarbeit nicht als exklusive Dienstleistung einer Institution in der Institution verstanden wird, und dass Kita-Sozialarbeiter*innen nicht nur problem- und fallorientiert handeln. Vielmehr sollen Kitas langfristig und kontinuierlich zu sozialpädagogischen Begegnungsstätten werden, in denen der bildungs- und sozialpolitische Handlungsauftrag bedarfsangemessen und im Kontext sozialer Benachteiligung von Kindern und ihren Familien erfüllt wird. In diesem Sinn ist Kita-Sozialarbeit als zusätzliches Element in die Methodik und Logik von Kindertageseinrichtungen integriert.

Wie können Kitas eine Sozialarbeit bei sich aktivieren?

Für die Umsetzung und Weiterentwicklung der Kita-Sozialarbeit ist vor Ort das Gespräch mit Akteur*innen des Systems Kita notwendig, wie Träger, Leitung, Sozialarbeiter*innen, Fachkräfte, um Besonderheiten des Sozialraums zu identifizieren. Dieser Dialog soll die Frage nach Zielen, Strategien und Umsetzungsmöglichkeiten von Kita-Sozialarbeit klären. Nur so wird sie lokalen Gegebenheiten gerecht und kann flexibel an die Bedarfe und Aufgaben jeder Kita in ihrem Sozialraum anknüpfen. Gerade weil sich Kita-Sozialarbeit an den Lebenswelten und dem Sozialraum der Kinder und ihrer Familien orientiert, kann sie vielfältig und effektiv eingesetzt werden.3 Für eine gelingende Kita-Sozialarbeit halte ich folgende Voraussetzungen für erforderlich: die Vertrauensbasis zwischen der Kita-Sozialarbeit und den Familien, Teams und Kita-Leitungen, trennscharfe Aufgabendefinition, gutes Netzwerk. Auf dieser Basis kann Kita-Sozialarbeit als Schnittstelle zwischen Kitas, Eltern und Sozialraum wahrgenommen werden.

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