„Durch GFK ist eine neue Art von Führung möglich“Interview mit Thomas Stelling, Trainer für Gewaltfreie Kommunikation

Thomas Stelling ist zertifizierter Trainer für die Gewaltfreie Kommunikation (CNVC) nach Marshall B. Rosenberg. Neben GFK-Jahresausbildungen bietet er Coaching, Mediation und Prozessbegleitung an.

„Durch GFK ist eine neue Art von Führung möglich“

Was ist bei Kita-Fachkräften anders als bei anderen Berufsgruppen?

Menschen aus dem pädagogischen Arbeitsfeld verstehen es gut, andere im Blick zu haben. Doch fällt es ihnen nach meiner Erfahrung nicht so leicht, auch gut für sich selbst zu sorgen. Oft sind Menschen in den Seminaren überrascht, wie wenig sie sich ihrer eigenen Bedürfnisse bewusst sind oder sie ausdrücken können. Gewaltfreie Kommunikation (GFK) beginnt für mich immer mit einem Innehalten und Wahrnehmen der eigenen Person, also mit dem, was wir Selbstempathie nennen: Wie geht es mir gerade? Was brauche ich? Was wünsche ich mir? Daher ist es wichtig, zuerst eine Verbindung zu den eigenen Bedürfnissen und somit zur eigenen Lebenskraft herzustellen: Brauche ich gerade Ruhe, Unterstützung oder Selbstwertschätzung? Und wie kann ich jetzt oder später gut dafür sorgen? Ansonsten sehe ich keine wesentlichen Unterschiede zu anderen Berufen.

Wie sind Sie selbst zur Gewaltfreien Kommunikation gekommen? 

Die GFK lernte ich während einer Coachingausbildung kennen und habe dann gleich ein Intensivtraining mit Marshall B. Rosenberg, dem Begründer der GFK, besucht. Dieses Training hat mich begeistert und ein Feuer in mir entfacht. Ich erlebte dort eine Qualität von Zuhören und Empathie, die mir bis dahin unbekannt war. Während der neun Tage begegneten mir Marshall und seine Kolleg*innen nicht nur als Leitung, sondern auch als Menschen, die sogar ihre aktuellen Konflikte untereinander transparent machten. Ich sah also: Führung kann menschlicher sein, als ich bisher dachte. Professionell zu sein, bedeutet ja heute meist, Distanz zu wahren, möglichst perfekt zu sein, alles jederzeit im Griff zu haben und sich möglichst wenig persönlich zu zeigen. Für mich steht das alles im völligen Kontrast zu einer neuen Art von Führung, die durch GFK möglich ist: Die Leitungsperson kann sich auch verletzlich zeigen und dies nicht mehr als Schwäche ansehen. Mittlerweile arbeite ich seit über zehn Jahren hauptberuflich als GFK-Trainer und die meisten Anfragen aus dem sozialen Bereich bekomme ich seit Jahren von Kitas.

Wie werden Sie von Teams oder Trägern angefragt?

Die Buchungen von Kitas sind überwiegend eintägige Seminare, zum Beispiel ein pädagogischer Tag, an dem in der Regel das ganze Team teilnimmt, manchmal auch alle anderen Mitarbeiter*innen. Meistens sind das zehn bis 15 Personen. Aber ich habe solche Tage auch schon für 30 Personen durchgeführt, dann allerdings mit Unterstützung von zwei Kolleginnen.

Was raten Sie Kitas, die Seminare bei Ihnen buchen?

Mir ist es immer wichtig, dass auch die Leitung selbst mit dabei ist. So kann zwischen der Leitung und dem Team eine intensive Begegnung von Mensch zu Mensch möglich werden, eine bisherige Distanz kann reduziert und mehr Vertrauen aufgebaut werden. Da ich mit Gruppen immer prozessorientiert an Themen von Teilnehmenden oder dem, was in der Gruppe auftaucht, arbeite, spielt es natürlich eine große Rolle, was in der Kita gerade aktuell ist. Dabei kommen manchmal richtig „heiße Eisen“ auf den Tisch. So leistet ein GFK-Tag nebenbei noch einen Beitrag zur Team- oder Organisationsentwicklung, während wir die Grundlagen der GFK kennenlernen. Mit einem größeren Träger arbeite ich bereits seit zehn Jahren zusammen und wir bieten eine Fortbildungsreihe für Erzieher*innen an, die Interesse an GFK haben. Alle zwei Jahre hat sich eine neue Gruppe gefunden, die ich drei bis vier Tage pro Jahr weiterbilde. Es kamen auch schon Mitarbeitende dazu, die zuerst auf keinen Fall mitmachen wollten.

Wie gehen Sie in Ihren Seminaren methodisch vor?

Von mir gibt es so wenig theoretischen Input wie möglich. Ich möchte die GFK schnell vor allem erlebbar und erfahrbar machen. Alle Seminare haben einen hohen Selbsterfahrungsanteil, es gibt Übungen und auch Kleingruppen-Settings. Natürlich wird im Einstieg erst gemeinsam ein sicherer und vertrauensvoller Raum aufgebaut. Erfahrungsgemäß entsteht besonders großes Vertrauen, wenn ich mich selbst offen und ehrlich zeige und empathisch reagiere. Zudem benenne ich früh, dass alle Teilnehmenden jederzeit eingeladen sind, für sich selbst einzutreten, wenn sie etwas anderes brauchen, als sie erleben. Ärger ist ebenfalls willkommen. So wird gleich deutlich, dass es in der GFK auch darum geht, selbst Verantwortung für die eigenen Bedürfnisse zu übernehmen.

Welchen Input geben Sie?

Als theoretischen Input gibt es natürlich immer das Grundmodell der GFK: Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis, Bitte. Ich nenne es das Reflexionsmodell. Es hilft dabei, die inneren Prozesse und Kommunikation besser zu verstehen. Vieles dreht sich zunächst um die Unterscheidung zwischen den Bedürfnissen (wie Empathie, Zugehörigkeit, Freiheit oder Gemeinschaft) und den Strategien, mit denen wir uns Bedürfnisse erfüllen. Was wir brauchen, wird also unterschieden von dem, was wir wollen. Und hinter dem, was Menschen wollen, steckt immer ein Bedürfnis. Zudem ist die Unterscheidung zwischen Beobachtung und Bewertung wichtig. Marshall hat nie davon gesprochen, nicht zu bewerten, sondern immer aufgezeigt, wie wichtig es ist, Beobachtungen und Bewertungen nicht zu vermischen.

Welchen Anteil haben praktische Übungen und Selbsterfahrung?

In den Seminaren bringen die Teilnehmenden – natürlich stets freiwillig – ihre persönlichen Themen und Erlebnisse ein oder es entsteht im Miteinander spontan etwas, an dem wir gut GFK lernen und erleben können. Ich unterstütze dabei, jeweils GFK-Bewusstheit mit hineinzubringen, das heißt, vor allem immer wieder empathisch auf die Gefühle und dahinterliegenden Bedürfnisse zu zielen. Neben der Schulung von Selbstempathie geht es in den Seminaren also auch um das Erlernen eines tieferen Zuhörens, um eine Empathieschulung. Oft biete ich der Gruppe einführend auch folgende Übung an: Ich frage die Teilnehmenden, sich an eine erlebte Situation aus jüngster Zeit zu erinnern, in der sie sich gefreut haben. Das Gefühl ist klar: Freude. Aber was sind die Bedürfnisse, die dieser Freude zugrunde liegen? Dann können sich alle in der Gruppe in die erzählende Person einfühlen und empathische Vermutungen äußern: Welche Bedürfnisse haben sie „gehört“? Das Erlebnis, dass sich alle gemeinsam auf eine Person einstimmen und nach und nach immer mehr Bedürfnisse wahrgenommen und ausgedrückt werden, ermöglicht allen die Erfahrung von Verbundenheit, die dabei entsteht.

Was ist Ihre eigene Rolle dabei?

Ich bin dabei vor allem Moderator, Fragender und Impulsgeber. Ich halten den Rahmen und Raum für das, was Menschen ausdrücken wollen. Manchmal spiegele ich auch körperliche Reaktionen Einzelner. Immer wieder bemerken ich und andere in der Gruppe dann, wie sich eine Person sichtbar entspannt, sobald eine körperliche Verbindung mit der Lebenskraft ihrer Bedürfnisse entsteht.

Welche Rolle spielt die Arbeit an der eigenen Haltung im Seminar?

Genau diese Arbeit ist für mich das Entscheidende an der GFK. Mir geht es nicht um richtige Worte oder um „gewaltfreie“ Formulierungen, sondern um die Bewusstheit, von welchem „Ort“ aus wir gerade reden. Entweder kann ich in mir an einem Ort sein, an dem ich denke, dass jemand anders etwas falsch macht, oder an einem Ort, an dem ich die Verantwortung für meine Gefühle und Bedürfnisse übernehme und mitteile, was ich brauche und mir konkret wünsche. Je mehr wir an diesem Ort zu Hause sind, desto mehr ändert sich auch die Art, wie wir mit uns und anderen in Beziehung gehen. Das ist die konkrete Arbeit an der Haltung, die in der GFK entscheidend ist: Ich habe mich selbst ebenso im Blick wie mein Gegenüber und dadurch sind wir beide gleichwürdig.

Welchen Tipp geben Sie Kita-Leitungen und Teams zum Thema GFK?

Nicht zu vergessen, dass Entwicklungen oft nicht so schnell gehen, wie wir es uns vielleicht wünschen. Die GFK wirklich zu lernen, erfordert aus meiner Perspektive immer, dass sich Menschen mit ihrer eigenen Person beschäftigen. Dabei muss natürlich niemand etwas zeigen, was sie oder er nicht zeigen will. Aber um mit den Kindern, Eltern und Kolleg*innen bewusster zu kommunizieren und Konflikte besser zu lösen, ist die Bereitschaft zu einer vertieften Selbstreflexion erforderlich. Leider stelle ich fest, dass die GFK sehr unterschiedlich vermittelt wird. Darum ist es gut, genau darauf zu achten, was eine GFK-Fachperson an Erfahrung und GFK-Verständnis mitbringt. Skeptisch werde ich immer, wenn GFK als reine Kommunikationsmethode dargestellt wird oder der Fokus auf „gewaltfreier Sprache“ liegt. Sinnvoll kann auch sein, sich die GFK zu spezifischen Themen in die Einrichtung zu holen, etwa wenn es um die Klärung eines Konflikts, um Feedbackkultur, Zusammenarbeit, Scham und Beschämung oder um eine Empathieschulung geht.

Wie kann denn die GFK bei einer Feedbackkultur helfen?

Verletzendes und beschämendes Verhalten pädagogischer Fachkräfte gegenüber Kindern ist derzeit ein großes Thema. Solchem Verhalten kann eine wertschätzende Feedbackkultur entgegenwirken. Ich erlebe oft, dass das Thema aus Angst, als unkollegial zu gelten, oder auch aus Angst vor der Leitung nicht offen angesprochen wird. Aus meiner Sicht ist es Leitungsaufgabe, zu einer Kultur der offenen Rückmeldung und Unterstützung beizutragen. Denn sie ist sowohl zum Schutz der Kinder als auch für eine gute Arbeitsatmosphäre notwendig.

Was könnte sich in einer Kita ändern, wenn das Team nach einem Seminar die GFK vertieft?

Da könnte sich ganz vieles ändern und weiterentwickeln. Letztlich könnte eine völlig neue Kita-Gemeinschaft entstehen, in der sich jeder einzelne Mensch – vom Kind bis zur Leitung – wohlfühlt, weil grundlegende Bedürfnisse wahrgenommen werden. Auch könnten neue Formen der Entscheidungsfindung eingeführt werden, wie etwa das „Systemische Konsensieren“, das alle Beteiligten im Team mit ihren Bedürfnissen und Widerständen ernst nimmt. Emotionalität wird nicht vermieden, sondern Ärger, Trauer und Angst werden gehört und die zugrunde liegenden Bedürfnisse erkannt. Es wird nicht mehr vor allem nach schnellen Lösungen für Probleme gesucht, sondern öfter auch empathisch zugehört. So lösen sich viele Schwierigkeiten und Spannungen oft auf ganz unerwartete Art und Weise. Und viele Probleme entstehen erst gar nicht oder werden deutlich früher erkannt.

Was brauchen Kitas für diese Veränderungen? 

Für all das braucht es Träger und Leitungskräfte, die sich für solche Veränderungen einsetzen. Für die Leitung selbst kann das auch wesentliche Vorteile bringen: Mitarbeiter*innen gehen von selbst stärker in die Eigenverantwortung und sorgen besser für sich und andere. Die Distanz zwischen Team und Leitung wird kleiner und die menschliche Nähe sowie das gegenseitige Verständnis wachsen. Leitung und Team können sich weiterentwickeln und neue Formen der Kooperation entdecken, weil niemand mehr bloß eine Funktion erfüllt, sondern alle auch als Menschen mit ihren individuellen Bedürfnissen gesehen werden.

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