So entwickelten sich die jüdische und die christliche BibelHeilige Schriften

Welche religiösen Texte gehören eigentlich zur Bibel und welche nicht? Und wer hat das festgelegt? Die Antwort auf diese Frage ist komplex – und sie fällt für Juden und Christen, für Katholiken und Protestanten unterschiedlich aus.

Heilige Schriften
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Judentum und Christentum sind „Buchreligionen“. Das haben sie mit dem Islam, der dritten großen monotheistischen Religion, gemeinsam. Im Zentrum dieser Religionen stehen die jüdische und die christliche Bibel beziehungsweise der Koran als verbindliche Bücher, auf die sich diese Gemeinschaften beziehen. Sie werden in verschiedenen Epochen der Geschichte zur religiösen und ethischen Orientierung verwendet und in Liturgie, Kommentaren, bildlicher Gestaltung und anderen Formen immer wieder neu angeeignet. Der besondere Status dieser Schriften kommt in ihrer Bezeichnung als „heilige Schriften“ zum Ausdruck. Dieser Begriff ändert allerdings – jedenfalls im Verständnis der historisch-kritischen Bibelwissenschaft – nichts daran, dass es sich um von Menschen verfasste Texte handelt, die geschichtliche Erfahrungen deuten, Weisungen für ein Leben nach dem Willen Gottes formulieren und Lob und Klage über individuelle oder kollektive Erlebnisse zum Ausdruck bringen. „Heilig“ sind diese Schriften demnach nicht aufgrund ihres besonderen Charakters – etwa ihres unmittelbaren göttlichen Ursprungs –, sondern weil sie sich im Verlauf der Geschichte dieser Religionen als Schriften erwiesen haben, die aufgrund ihrer fundierenden und orientierenden Kraft besondere Autorität genießen.

Judentum und Christentum sind durch den Bezug auf gemeinsame Schriften ihrer Bibeln miteinander verbunden. Die jüdische Bibel und das christliche „Alte Testament“ enthalten zum überwiegenden Teil dieselben Schriften. Allerdings sind beide Bücher nicht einfach miteinander identisch. Ein christliches „Altes Testament“ enthält über die gemeinsamen Schriften hinaus die als „deuterokanonische Schriften“ bezeichneten, von Martin Luther „Apokryphen“ genannten und zu einem eigenen Teil des Alten Testaments zusammengefassten Bücher Judith, Weisheit, Tobit, Jesus Sirach, das 1. und 2. Makkabäerbuch sowie das Gebet Manasses, des Weiteren einige Zusätze zu den Büchern Ester und Daniel. Diese Texte finden sich nicht im hebräischen Kanon, obwohl einige von ihnen auf ein hebräisches oder aramäisches Original zurückgehen. Das wird für Jesus Sirach, Tobit, Judith und das 1. Makkabäerbuch durch Origenes und Hieronymus, für Jesus Sirach und Tobit zusätzlich durch Fragmente aus Qumran bezeugt. Diese Schriften sind aber vollständig nur in griechischer Übersetzung als Teil der Septuaginta erhalten, einer jüdischen Übersetzung der biblischen Schriften, die bereits im antiken Christentum als „Altes Testament“ in Gebrauch war, bevor das Alte Testament auch in andere Sprachen übersetzt wurde.

In den orthodoxen Kirchen des Ostens wird die Septuaginta bis in die Gegenwart verwendet, wogegen sich in der Westkirche die lateinische Übersetzung des Hieronymus als „Vulgata“ durchgesetzt hat. Für das Judentum hat dagegen die hebräische Sprachgestalt der biblischen Schriften eine besondere Bedeutung, speziell für die Verlesung der Tora im Synagogengottesdienst. Schließlich weisen eine jüdische Bibel und ein christliches „Altes Testament“ eine je eigene Anordnung der Bücher auf: In einer jüdischen Bibel stehen die weisheitlichen Bücher – die sogenannten Ketuvim oder „Schriften“ – am Ende, das „Alte Testament“ endet dagegen mit den prophetischen Büchern, gelegentlich gefolgt von einem Anhang mit weiteren Schriften.

Tora und Altes Testament

Der offensichtlichste Unterschied zwischen einer jüdischen und einer christlichen Bibel ist, dass letztere aus zwei Teilen besteht: dem „Alten Testament“ und dem „Neuen Testament“. Diese beiden Teile folgen nicht nur aufeinander, sondern stehen auch in einem dynamischen Verhältnis zueinander. Das Alte Testament wird im Neuen Testament häufig zitiert und vom Bekenntnis zu Jesus Christus her ausgelegt. Die verbindlichen Schriften des Judentums werden dadurch zum prophetischen Zeugnis, das auf Gottes heilvolles Handeln durch Jesus Christus vorausverweist.

Dieses Verständnis der verbindlichen Schriften des Judentums unterscheidet sich von demjenigen, das Juden selbst mit diesen verbinden. Das Verhältnis von jüdischer und christlicher Bibel spiegelt deshalb die oft spannungsvolle Geschichte von Judentum und Christentum wider. Beide religiöse Gemeinschaften wurzeln in derselben Geschichte und berufen sich zum Teil auf dieselben Schriften und Traditionen. Die jeweilige Sicht auf diesen gemeinsamen Traditionsbestand ist jedoch verschieden.

Das Judentum versteht seine verbindlichen Schriften, vor allem die Tora, als Weisung Gottes für sein Volk, die immer wieder neu auszulegen und anzueignen ist. Das Christentum versteht die jüdischen Schriften dagegen von Gottes Offenbarung in Jesus Christus her, die diese Schriften in einen veränderten Horizont stellt. Das Bekenntnis zum Gott Israels, das Juden und Christen miteinander verbindet, wird dabei durch das Bekenntnis zu Jesus Christus ergänzt. Das verändert auch den Glauben an den Gott Israels, der nun auch als derjenige bezeugt wird, der Jesus Christus von den Toten auferweckt hat (vgl. zum Beispiel Galater 1,1; Römer 4,24).

Wie ist es zur Entstehung der jüdischen und der christlichen Bibel gekommen? Warum enthalten die Bibeln gerade diese Schriften, nicht mehr oder weniger oder andere? Warum gehören die Schriften des Judentums auch zur christlichen Bibel, obwohl Judentum und Christentum zwei eigenständige Religionsgemeinschaften bilden? In welchem Verhältnis stehen die biblischen zu solchen in ihrem Umfeld?

„Die Bibel“ gibt es nicht

Hinter der Entstehung der jüdischen und der christlichen Bibel stehen lange und komplexe Entwicklungen. Das wird schon daran deutlich, dass es „die Bibel“ gar nicht gibt. Bibeln sind eigentlich Bibliotheken: Eine Bibel enthält viele Bücher (daher auch der Name: „Bibel“, von biblía = „Bücher“). Verschiedene Bibeln – jüdische, römisch-katholische, orthodoxe, lutherische – unterscheiden sich in Umfang und Anordnung. Auch die Grenzen zwischen biblischen und nichtbiblischen Büchern sind fließend. Das war schon in der Antike so, als sich im Judentum und im Christentum der Umfang derjenigen Bücher, die als verbindlich gelten sollten, allmählich herausbildete.

Dieser Prozess beginnt mit der Eroberung des Nordreiches Israel durch die Assyrer im 8. Jahrhundert v. Chr. Die Folge waren eine Konzentration des Verehrung Jahwes in Jerusalem und die Verpflichtung Israels auf das Gesetz Jahwes. Das geschieht im Deuteronomium (5. Buch Mose), das die Form eines Rechtsvertrags hat und zugleich den Ursprung einer verbindlichen Schriftensammlung Israels bildet. Der biblischen Darstellung zufolge wird sodann nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil die Tora durch Esra als grundlegendes, vom persischen König autorisiertes Gesetz eingeführt. Historisch handelte es sich vermutlich um religionspolitische Maßnahmen in der persischen Provinz Jehud (Juda), die ihr Zentrum im Wiederaufbau des 587 v. Chr. von den Babyloniern zerstörten Tempels und der Reorganisation der jüdischen Gemeinde hatten. Ungeachtet der Tatsache, dass der biblische Bericht über diese Ereignisse deutlich stilisiert ist, ist für die Entstehung der jüdischen Bibel von Bedeutung, dass die Tora zum grundlegenden Dokument für das religiöse und politische Selbstverständnis des Judentums wurde – auch wenn dies tatsächlich erst im 3. Jahrhundert v. Chr., also in hellenistischer Zeit, erfolgt sein dürfte.

Diese Entwicklung bedeutete zugleich, dass andere Schriften – die Propheten sowie weisheitliche Texte, etwa die Psalmen, das Buch der Sprüche und das Buch Hiob – als Interpretation der Tora aufgefasst wurden, ungeachtet der Tatsache, dass etliche dieser Schriften selbst früher entstanden waren. Die Anfänge der Schriftprophetie und damit den Grundstock von Büchern wie Jesaja, Jeremia und Ezechiel, wird man im 8. Jahrhundert v. Chr. anzusetzen haben. Auch etliche Überlieferungen des Pentateuchs, etwa die Schöpfungserzählungen oder an Heiligtümern angesiedelte Erzählungen über die Erzväter, ebenso wie Lieder, weisheitliche Mahnungen und Psalmen in verschiedenen biblischen Büchern sind älterer Herkunft. Sie werden jetzt jedoch in ein Konzept integriert, in dem sie auf das um die Tora zentrierte Verhältnis des jüdischen Volkes zu seinem Gott, der nunmehr als der einzige Gott verehrt wird, bezogen sind.

Die Perspektive, in der die biblischen Schriften zusammengestellt und redigiert wurden, ist demnach von den historischen Entstehungskontexten dieser Schriften selbst zu unterscheiden. In der biblischen Darstellung erscheint die Tora als Gründungsurkunde, die dem Volk Israel bereits am Sinai, vor dem Einzug ins Land Kanaan, gegeben wurde. Tatsächlich sind die Zentralstellung der Tora und der Glaube an den einen und einzigen Gott Israels dagegen Entwicklungen, die erst in persischer und hellenistischer Zeit zum Tragen kamen. Sowohl die Tora als auch die anderen biblischen Schriften spiegeln deshalb in ihrer vorliegenden Form die Perspektive jüdischer Theologie persischer und hellenistischer Zeit wider.

Tora, Propheten und „Schriften“ bildeten in der Folgezeit die Gruppen verbindlicher Schriften, wobei die „Schriften“ für längere Zeit eine offene Sammlung darstellten. Umfang und Wortlaut der biblischen Texte waren dabei nicht festgelegt. Unter den in Qumran entdeckten Schriftrollen finden sich Manuskripte nahezu aller biblischen Bücher (mit Ausnahme von Ester). Dabei konnten verschiedene Fassungen desselben Buches nebeneinander existieren, etwa eine kürzere und eine längere Fassung des Jeremiabuches sowie Psalmenrollen mit verschiedenen Anordnungen. Variable Textformen zeigen sich auch in Fragmenten von Büchern der Tora, die Erweiterungen und Veränderungen gegenüber dem im Judentum verbindlich gewordenen masoretischen Text aufweisen. Unter den Qumranschriften finden sich auch solche, die die biblischen Bücher auf die Situation der Qumrangemeinschaft und das Heilshandeln Gottes am Ende der Zeit hin auslegen. Diese Pescharim genannten Schriften zeigen, dass in Qumran vor allem Tora, Propheten und Psalmen als bedeutsam eingeschätzt wurden. Daneben finden sich aber auch Texte, die nicht zum späteren Bestand der biblischen Schriften gehören, etwa die Henochbücher und das Jubiläenbuch. Die Qumrantexte zeigen demnach, dass im betreffenden Zeitraum – etwa vom 3. Jahrhundert v. Chr. bis zum 1. Jahrhundert n. Chr. – die genaue Gestalt der biblischen Schriften noch im Fluss war.

Wie die jüdischen Schriften zum Alten Testament wurden

Der jüdische Religionsphilosoph Philo von Alexandria (ca. 15 v. Chr. bis ca. 40 n. Chr.) verfasste mehrere große Kommentarwerke zur im 3. Jahrhundert v. Chr. in Alexandria entstandenen griechischen Übersetzung der Tora. Die Entstehung dieser Übersetzung ist darauf zurückzuführen, dass viele Juden, die außerhalb von Palästina lebten, Griechisch sprachen und schrieben. Philo sieht den griechischen Text der Tora als dem hebräischen gleichwertig an und legt ihn mit den philologischen Methoden seiner Zeit als Zeugnis der Offenbarung Gottes aus. Seine Kommentare sind deshalb wichtige Zeugnisse für die Bedeutung, die der Tora in dieser Zeit beigemessen wurde.

Das entstehende Christentum setzt diese Entwicklungen voraus. Frühchristliche Autoren beziehen sich häufig auf die Schriften Israels und des Judentums, die als „das Gesetz (bzw. Mose) und die Propheten“ oder „das Gesetz des Mose, die Propheten und Psalmen“ (vgl. etwa Römer 3,21; Matthäus 5,17; Lukas 24,27.44) zusammengefasst werden konnten. Diese summarische Wendung begegnet auch in jüdischen Texten, etwa im Prolog zur griechischen Übersetzung von Jesus Sirach und in ähnlicher Weise in dem Qumranfragment 4QMMT.

Bei Jesus und den frühchristlichen Autoren werden diese Schriften jedoch aus einer neuen Perspektive in den Blick genommen. Jesus selbst tritt mit dem Anspruch auf, Gottes Herrschaft auf der Erde aufzurichten und den Menschen das Heil Gottes zu vermitteln. Die Verheißungen der jüdischen Schriften gewinnen im Licht des Wirkens Jesu und seines Geschicks dabei eine neue Bedeutung. Jesus versteht sich selbst als Gottes irdischer Repräsentant (darauf verweist seine Selbstbezeichnung als „der Sohn des Menschen“), er wird von seinen Anhängern als der erwartete Nachkomme aus dem Geschlecht Davids und als der Gesalbte (Messias, Christus), der in jüdischen Texten verheißen wird, aufgefasst. Sein Wirken wird als Gottes Heilshandeln an den Armen, Hungernden und Kranken gedeutet und als die Erfüllung der Verheißungen von Gottes Heil in den Schriften Israels betrachtet. Auch seine Hinrichtung durch die Römer wird im Licht der biblischen Schriften verstanden, sein Tod als Sühne für die Sünden der Menschen und als Stiftung eines neuen Bundes gedeutet.

Die biblischen Schriften des Judentums werden so zum „Alten Testament“: zu Schriften, die Gottes Handeln in der Geschichte Israels bezeugen, das nun im Horizont seiner Offenbarung in Jesus Christus zu verstehen ist. Das Alte Testament ist demnach der „Deutungsraum“ des Heilshandelns Gottes in Jesus Christus, das sich erst im Licht dieser Schriften erschließt.

Wie das Neue Testament entstand

Neben die Schriften Israels treten Zeugnisse, die das Wirken und Geschick Jesu und die Verkündigung der Botschaft vom Heilshandeln Gottes durch Jesus Christus festhalten. Die ältesten dieser Schriften sind die Briefe des Paulus, die in den Jahren 50 bis 56 n. Chr. entstehen. Die Geschichte Jesu wird in den Evangelien erzählt, die etwa zwischen 70 und 100 entstehen. Diese Schriften werden schon früh zu Sammlungen zusammengestellt, die die Basis des Neuen Testaments bilden werden.

Später treten die Apostelgeschichte, die ursprünglich eine Fortsetzung des Lukasevangeliums war, Briefe, die im Namen des Paulus verfasst werden, pseudepigraphe Briefe im Namen weiterer Apostel (Jakobus, Petrus, Johannes, Judas), der anonyme Hebräerbrief und die Offenbarung des Johannes dazu. Diese Schriften entstehen etwa in den Jahren von 70 bis 130 n. Chr. Gemeinsam mit den Paulusbriefen und den Evangelien bilden sie die Sammlung der verbindlichen Schriften des frühen Christentums, der gegen Ende des 2. Jahrhunderts der Name „Neues Testament“ gegeben wird. In diesem Zusammenhang entsteht auch die Bezeichnung „Altes Testament“ für die Schriften Israels.

Die Grenzen zwischen den Schriften des Neuen Testaments und solchen in ihrem Umfeld sind dabei längere Zeit fließend. In manchen Kreisen des frühen Christentums werden Schriften wie das Evangelium nach Petrus, der Hirt des Hermas, der Barnabasbrief, die Akten des Paulus und die Offenbarung des Petrus gelesen, wogegen mitunter nur je ein Brief des Petrus und des Johannes als verbindlich gelten. Beim Hebräerbrief, beim Jakobusbrief und der Offenbarung des Johannes war längere Zeit umstritten, ob sie zum Kreis der verbindlichen Schriften gezählt werden sollten.

Zeugnisse antiker christlicher Theologen wie Origenes und Eusebius, aber auch der um das Jahr 200 in Rom entstandene Canon Muratori stimmen im Bestand der aufgezählten verbindlichen Schriften nicht mit dem Neuen Testament überein, wie es sich schließlich durchsetzen sollte. In den frühchristlichen Diskursen ging es vor allem darum, diejenigen Schriften als verbindlich zu fixieren, die mit dem christlichen Bekenntnis übereinstimmen und zur Grundlage von gottesdienstlicher und privater Lektüre sowie zur Unterweisung der Gemeinden dienen sollten. Das Neue Testament enthält deshalb eine Vielfalt von Schriften, die keineswegs immer miteinander übereinstimmen, jedoch gemeinsam Zeugnis vom heilvollen Handeln Gottes durch Jesus Christus Zeugnis ablegen. Diese Vielfalt zeigt sich etwa in der Geschichte Jesu, die in vierfacher Gestalt ins Neue Testament gelangt ist, sowie in unterschiedlichen Auffassungen über das Ende der Geschichte und das Verhältnis der Christen zur Gesellschaft.

Wiedergefunden im Wüstensand – die Apokryphen

Die Schriften im Umfeld des Neuen Testaments wurden erst viel später, im 17. beziehungsweise 18. Jahrhundert, zu den Sammlungen der „Apostolischen Väter“ und der „Apokryphen des Neuen Testaments“ zusammengefasst. Etliche von ihnen haben, ungeachtet ihrer Ablehnung durch antike Theologen, die christliche Frömmigkeit tief beeinflusst. So haben etwa die Kindheitsevangelien für die Rezeption der Geburt Jesu und der sie begleitenden Umstände von früher Zeit an eine wichtige Rolle gespielt. Auch um die Ereignisse der Passion Jesu ranken sich von früher Zeit an zahlreiche Legenden, die im sogenannten „Nikodemusevangelium“ zusammengestellt wurden. Neben diesen Schriften haben die Verwendung in der Liturgie sowie bildliche Darstellungen von früher Zeit an das Verständnis der biblischen Texte beeinflusst und lebendig gehalten (vgl. dieses Heft, 26–29).

Die biblischen Schriften waren demnach von Anfang an von einer Vielzahl von Deutungen umgeben, die für ihr Verständnis und ihren Gebrauch prägend waren. Eine strikte Grenze zwischen biblischen und nichtbiblischen Traditionen lässt sich dabei oftmals nicht ziehen. Vielmehr kann beides ineinander übergehen und sich gegenseitig befruchten: Die biblischen Texte evozieren liturgische, literarische, bildliche und weitere Rezeptionen, die ihrerseits auf das Verständnis dieser Texte einwirken.

Bei der Entstehung einer verbindlichen Schriftensammlung wurden Texte ausgeschieden, die als nicht mit dem christlichen Bekenntnis übereinstimmend beurteilt wurden. Manche dieser im antiken Christentum als „gefälscht“ oder „apokryph“ bezeichneten Schriften sind in der Folge aus dem Überlieferungsprozess verschwunden. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind viele von ihnen, mitunter durch Zufall, im ägyptischen Wüstensand oder in Museen wiederentdeckt worden. In der gegenwärtigen Forschung spielen sie für die Rekonstruktion der Geschichte des antiken Christentums sowie für die Sicht auf die Entstehung der christlichen Bibel eine wichtige Rolle.

Im 39. Osterfestbrief des Bischofs Athanasius von Alexandria aus dem Jahr 367 werden zum ersten Mal „kanonisierte“ und „apokryphe“ Schriften einander unmittelbar gegenübergestellt. Um diese Zeit, also um die Mitte des 4. Jahrhunderts, werden auch die Begriffe „Kanon“ und „kanonisiert“ zuerst auf die verbindlichen Schriften des Christentums angewandt. In dem genannten Brief werden diejenigen 27 Schriften aufgezählt, die fortan den Bestand des Neuen Testaments bilden sollten. Dieser Brief enthält auch eine Auflistung der Schriften des Alten Testaments. Eine offizielle Entscheidung über den Umfang der biblischen Schriften in Form eines Synoden- oder Konzilsbeschlusses hat es dagegen im antiken Christentum nie gegeben. Erst das Konzil von Trient hat, als Antwort auf die Reformation, im Jahr 1546 einen solchen Beschluss formuliert. Die Auffassung von einem klar abgegrenzten biblischen Kanon wurde auch durch die Erfindung des Buchdrucks befördert, durch den es möglich wurde, die Bibel als ein Buch mit einem fest umrissenen Umfang herzustellen. Zuvor existierten Bibeln dagegen zumeist in Form mehrerer Bände oder als Lektionare mit Bibeltexten für den gottesdienstlichen Gebrauch.

Das digitale Medium, das gegenwärtig auch für Lektüre und Auslegung der Bibel immer mehr an Bedeutung gewinnt, führt die Fluidität und Vielfalt biblischer Texte in ihrem literarischen und kulturellen Umfeld wieder deutlicher vor Augen. Ein Beispiel hierfür ist die online-Präsentation des Codex Sinaiticus, der vermutlich ältesten christlichen Vollbibel, von der sich je ein Teil in St. Petersburg, London, Leipzig und im Katharinenkloster auf dem Sinai, dem Fundort des Codex, befindet. Die digitale Präsentation lässt einen antiken Bibelcodex, einschließlich verschiedener Bearbeitungen, die der Text erfahren hat, wiedererstehen.

Dies ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie im digitalen Zeitalter die Geschichte der Bibel, ihre sozialen, politischen und religiösen Entstehungsbedingungen, ihre frühen Manuskripte, ihre verschiedenen Übersetzungen in antike und moderne Sprachen und ihre Wirkungsgeschichte in verschiedenen Kulturen studiert werden können. Daraus ergeben sich nicht zuletzt Anstöße für die Interpretation biblischer Texte im gegenwärtigen Christentum sowie für den Dialog zwischen Juden und Christen über ihre heiligen Schriften.

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