Der französische Kardinal Jean-Marc Aveline als innovativer TheologeDer Mittelmeerraum als Theologie-Laboratorium

Der neue Kardinal Jean-Marc Aveline, Erzbischof von Marseille, ist Vordenker der „Mittelmeertheologie“. Sie verwebt wissenschaftliche Theorien und spirituelle Erfahrungen verschiedenster Epochen, Kulturen und Religionen.

Marseille
© Pixabay

Mittelmeertheologie – das klingt ebenso exotisch wie verheißungsvoll. Als 2019 in Neapel eine Konferenz zum Thema „Theologie nach ‚Veritatis Gaudium‘ im Kontext des Mittelmeerraumes“ stattfand, warb Papst Franziskus für eine „vernetzte Theologie“, die „im mediterranen Kontext eine Theologie in der Solidarität mit allen ‚Schiffbrüchigen‘ der Geschichte‘“ sein müsse. Eine solche „Theologie der Aufnahme“ müsse „einen aufrichtigen Dialog mit den sozialen und zivilen Institutionen (…) entwickeln, mit den Universitäts- und Forschungszentren, mit den religiösen Führungspersönlichkeiten und mit allen Frauen und Männern guten Willens, und zwar mit dem Ziel, in Frieden eine inklusive und geschwisterliche Gesellschaft aufzubauen und sich auch für die Bewahrung der Schöpfung einzusetzen.“

Als pied-noir zum Erzbischof

Es gelte, „immer neu die Begegnung der Kulturen mit den Quellen der Offenbarung und der Tradition zu fördern. Die altehrwürdigen Gedankengebäude, die großen theologischen Synthesen der Vergangenheit sind Fundgruben theologischer Weisheit, aber man kann sie nicht mechanisch auf die aktuellen Fragen anwenden. Es geht darum, sie zu beherzigen, um neue Wege zu suchen. Gott sei Dank sind die Primärquellen der Theologie, das heißt das Wort Gottes und der Heilige Geist, unerschöpflich und immer fruchtbar“. Gefragt sei ein „neues Pfingsten“, durch das die Sehnsucht so vieler Menschen nach einem „Leben in Fülle“ gestillt werden könne. 2020 folgte eine weitere Konferenz in Bari im Horizont einer das Zweite Vatikanum weiterführenden Synodalität.

Als einer der Inspiratoren der bei diesen Treffen leitenden „Mittelmeertheologie“ gilt der neue Kardinal Jean-Marc Aveline. Ausgehend von den gesellschaftlichen und sozialen, kulturellen und religiösen Herausforderungen Marseilles legte er zunächst als Theologieprofessor einen innovativen theologischen Ansatz an der Schnittstelle von Dogma und Pastoral vor. Sodann wurde er – in Frankreich ungewöhnlich – in seiner Heimatdiözese 2013 zur Unterstützung des zum Vorsitzenden der Bischofskonferenz gewählten Erzbischofs Georges Pontier zunächstWeihbischof und 2019 als dessen Nachfolger Erzbischof. Avelines Verwurzelung in seiner Ortskirche ist dokumentiert in der zu seinem Amtsantritt als Erzbischof veröffentlichten Textsammlung „Bonjour, Marseille“.

Dazu gehört eine Entwurzelung: Geboren wurde er 1958 im damals französischen Algerien, das seine Familie nach der Unabhängigkeitserklärung verlassen musste. Für die pieds-noirs war der Neuanfang auf der anderen Seite des Mittelmeers alles andere als leicht. Zur religiösen Sozialisation des jungen Jean-Marc in einer der zeittypischen villes nouvelles am Rande Marseilles gehörten begeisternde Erfahrungen mit dem damals innovativen französischen Sozialkatholizismus. In einem theologischen Porträt, das er seinem Heimatpfarrer Jean Arnaud widmete, begegnen zeitgenössische Initiativen wie die paroisses missionnaires und große Namen der damaligen Aufbrüche wie die Theologen und Kardinäle Henri de Lubac und Yves Congar, der Arbeiterpriester Jacques Loew und der Sozialethiker Louis-Joseph Lebret.

Aveline war und ist von Arnauds „Stadtteiltheologie“ mit ihrer Verknüpfung von Seelsorgemotivation und Kirchenväterinspiration, Volksfrömmigkeitsgespür und Gemeinwohlsinn, Eucharistiefeier und Sozialraumorientierung nachhaltig beeindruckt und würdigt Arnaud als „Irenäus der modernen Zeit“ (Jean Arnaud. Un théologien de quartier à Marseille, Marseille 2013, 47). Der aus Kleinasien nach Gallien gelangte Irenäus von Lyon ist übrigens seit 2022 als doctor unitatis Kirchenlehrer.

Ein theologisches, pastorales und spirituelles Laboratorium

Avelines Denkweg ist eng mit dem „Institut de sciences et théologie des religions“ (ISTR) verknüpft. Es wurde im Jahr 1991 von der Diözesansynode in Marseille angeregt und fand seinen Sitz im diözesanen Priesterseminar, das im selben Jahr geschlossen werden musste. Gründungsdirektor Aveline, zuvor Dogmatikprofessor im Priesterseminar, und sein Team machten das ISTR zu einem theologischen, pastoralen und spirituellen Laboratorium. Kanonisch wurde es der theologischen Fakultät der „Université catholique de Lyon“ angegliedert, an der Aveline in der Folge ebenfalls lehrte.

2001 entstand ausgehend vom ISTR das „Institut catholique de la Méditerrannée“ (ICM), ebenfalls mit Aveline als Gründungsdirektor. Seit 1993 erscheint zweimal jährlich die Institutszeitschrift „Chemins de dialogue“ (Wege des Dialogs). Als Pate für den Titel stehen die Aussagen aus der Enzyklika „Ecclesiam Suam“ Pauls VI. zum „Heilsdialog“, von Aveline oft zitiertes Leitmotiv theologischer Praxis und Erkenntnis.

Ausgehend von der Situation Marseilles zwischen Religionsvielfalt und religiöser Indifferenz führte das ISTR Impulse der Nachkonzilszeit fort, wie sie etwa von einer gleichnamigen Einrichtung am „Institut Catholique de Paris“ unter Leitung von Jean Daniélou ausgingen. Hinzu kommen programmatische Anleihen etwa beim später ermordeten Bischof Pierre Claverie von Oran in Algerien. Immer wieder schimmert auch die spirituelle Nähe zu den Mönchen von Tibhirine um Christian de Chergé durch.

Mehrfache Perspektivenverschränkungen

Aus „pastoraler Sorge“ für das Gemeinwohl in Marseille – und darüber hinaus – verfasste Aveline am „Institut Catholique de Paris“ seine gewichtige dogmatische Dissertation über die „christologische Herausforderung in der Theologie der Religionen“. Entsprechende Denkwerkzeuge erarbeitete er hier, indem er, was zunächst überraschen mag, die kritisch-konstruktive Rezeption fortführte, die die Thesen des Heidelberger protestantischen Theologen Ernst Troeltsch bereits durch den vor den Nationalsozialisten nach New York geflohenen Frankfurter Theologen Paul Tillich erfahren hatten. Mit dieser mehrfachen Perspektivenverschränkung – Dogma und Pastoral, Frankreich und Deutschland, Katholizismus und Protestantismus, Christentum und Weltreligionen – will er „erkunden, was die christliche Identität aus sich selbst heraus eröffnet, wenn sie sich der Alterität und Pluralität der Religionen stellt“ (L’enjeu christologique en théologie des religions. Le débat Tillich-Troeltsch, Paris 2003, 664).

Avelines Doktorvater Joseph Doré, Frankreichs Christologe par excellence und später Erzbischof von Straßburg, weist in seinem Vorwort auf offenbarungstheologische Implikationen und Konsequenzen des Ansatzes seines Schülers hin. Demnach vermag Aveline das unverfügbar in Anspruch nehmende Aufscheinen der Offenbarung eines „Unbedingt-Absoluten“ in den „relativsten“ Bedingungen historischer Kontingenz zu denken. Diese Spur verfolgt er in späteren Schriften weiter. Im Anschluss an Hans Urs von Balthasar und Karl Rahner erfasst er Offenbarung als „Engagement“ und „Selbstmitteilung“ Gottes und von daher „Wahrheit“ als „Gottes Engagement für uns“ (Le dialogue interreligieux, chemin d’espérance pour l’humanité, in: Chemins de dialogue 40 [2012] 115–130, 124).

In den daraus folgenden engagierten und alteritätssensiblen Dialog könne das Christentum als Spezifikum eine humanitätsbegründende Anthropologie einbringen. Deren Quelle ist eine österliche Christologie, die an den geradezu epochalen Aussagen der Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ (Nr. 22) Maß nimmt und dabei westliche Traditionslinien um Augustinus und Thomas von Aquin und östliche Traditionslinien um Symeon dem Neuen Theologen und Gregor Palamas verbindet.

Originell ist in Avelines Entfaltung auch der fruchtbare ökumenische Austausch zwischen Mitteleuropa und Mittelmeer, wenn er etwa die Motive der „Nachfolge“ bei Dietrich Bonhoeffer und der „Vergöttlichung“ bei Maximos Confessor verknüpft (vgl. Le déploiement de la christologie, in: Chemins de dialogue 39 [2012] 133–145). Den interreligiösen Dialog bezeichnet Aveline im Anschluss an die Theologenkardinäle Henri de Lubac und Robert Coffy (von 1985 bis 1995 Erzbischof von Marseille) als „Sakrament der Freundschaft“ (Le dialogue interreligieux, 122).

Sein interreligiöser Ansatz speist sich aus der Verschränkung dreier Leitgedanken: erstens der Relativität des Christentums in der Religionsgeschichte, zweitens der christlichen Singularität im religiösen Pluralismus und drittens der theologischen Fruchtbarkeit der interreligiösen Begegnung. Dabei ist er der Überzeugung, „dass wir heute aus der Sackgasse heraustreten müssen, in der uns allzu lange eine soteriologische Debatte über ‚Zentrismen‘ gehalten hat, die vom Ekklesiozentrismus zum Christozentrismus, vom Theozentrismus zum Soteriozentrismus wechselte und sich in endlosen typologischen Konstruktionen erschöpfte. Ob es sich nun um die anthropologische Frage nach der religiösen Dimension des Menschen handelt, um die politische Frage nach dem Platz der Religionen im öffentlichen Raum oder um die dogmatische Frage nach der Erneuerung des Glaubensverständnisses ausgehend nicht nur von der Berücksichtigung der religiösen Pluralität, sondern auch von den spezifischen Fragen, die jede Religion an die christliche Theologie richtet, in jedem dieser Bereiche eröffnen sich heute neue Horizonte für die theologische Forschung“ (Théologie des religions, in: Le grand livre de la théologie, Paris 2015, 163–180, 180).

Eine fundamentaltheologisch zentrale Einsicht erwächst dabei aus der unauflösbaren Verbindung zwischen Judentum und Christentum. Diese schreibt in den interreligiösen Dialog einen „theologischen Sinn der Differenz“ ein (La mission de l’Église et le dialogue interreligieux, in: Bonjour Marseille, Marseille 2019, 209–245, 223). Diese wiederum ist ihrerseits Teil der „differenzierten Einheit der göttlichen Heilsgeschichte“ (227) – ein Gedanke, der sich ähnlich auch bei Claude Geffré findet. In dieser (Heils-)Geschichte will sich das göttliche Heilshandeln in einem wechselseitigen Teilen der Gaben auswirken, die die voneinander unterschiedenen Partner jeweils für die ganze Menschheit erhalten haben. Interreligiöser Dialog und Zusammenarbeit mit allen Menschen guten Willens gehen deshalb Hand in Hand. Diese Doppelstruktur bestimmt auch Avelines Publikationen zur religiösen Bildung im Rahmen der laïcité.

Mittelmeersynode als Herzenswunsch

Ein Herzenswunsch des Erzbischofs von Marseille ist eine Mittelmeersynode nach dem Vorbild der Amazonassynode. Nachdem am 26. Februar 2022 in Florenz ein vom legendären Bürgermeister Giorgio La Pira inspiriertes Treffen von Bürgermeistern und Bischöfen des Mittelmeerraumes stattfand, bezeichnete er in einem Interview mit „Vatican News“ eine solche Synode als „Realität, die es mithilfe kleiner Strukturen der Communio und der Kooperation im Mittelmeerraum zu konsolidieren gilt“. Im Sinne einer wechselseitigen Entgrenzung von Kirche und Welt macht Aveline eine „synodale Verantwortung des Mittelmeers“ aus, die eines Tages in die Botschaft einer Synode an die Welt münden könne – als Ermutigung gelingenden Zusammenlebens über Grenzen hinweg.

So inspirierend das Denken Avelines über Frankreich hinaus ist, so dramatisch ist der französische Kontext seines Wirkens. Das jüngste Buch der Religionssoziologen Danièle Hervieu-Léger und Jean-Louis Schlegel trägt nicht weniger als die Frage nach der „Implosion“ des Katholizismus in Frankreich im Titel. Emblematisch ist vor diesem Hintergrund der römische Auftrag an Aveline als Metropolit seiner Kirchenprovinz, im Suffraganbistum Fréjus-Toulon einen, wie es in einem Communiqué hieß, „brüderlichen Besuch“ durchzuführen. Der dortige Bischof Dominique Rey weiht seit der Jahrtausendwende eine vergleichsweise große Zahl von Männern zu Priestern, von denen freilich sehr viele nicht aus seiner Diözese stammen.

Fréjus-Toulon wurde zu einer Hochburg des sogenannten „tradismatischen“ Katholizismus, der sich mit seiner Verbindung von charismatischen und traditionalistischen Elementen auf neue geistliche Gemeinschaften aller Art stützt und aufgrund gesellschaftlicher und kirchlicher Entwicklungen – treffend zusammengefasst in dem von Danièle Hervieu-Léger geprägten Ausdruck „Exkulturation“ – die öffentliche Wahrnehmung wie auch die innere Dynamik der Kirche in Frankreich zunehmend beherrscht. Die theologischen und pastoralen Fragen, die sich aus einem entsprechenden Priester- und damit verbundenen Kirchenbild ergeben, führten im Juni 2022 nach dem „Besuch“ Avelines dazu, dass der Vatikan die Priester- und Diakonenweihen in Reys Diözese aussetzte.

Klerikalismus und Priestermangel

Bei allen lokalen und personellen Faktoren geht es grundsätzlich um ein sachgemäßes Amtsverständnis, das das gesamte Gefüge von Sakramenten-, Eucharistie- und Kirchenverständnis impliziert. Von daher ist die kurz danach erfolgte Ernennung des bisherigen Rektors des „Institut Catholique de Toulouse“, Christian Delarbre, zum Erzbischof von Aix-en-Provence – trotz des historischen Titels „Erzbistum“ ebenfalls Suffragan von Marseille – bemerkenswert. Der renommierte Ekklesiologe ist Spezialist für die Amtstheologie, die von Yves Congar bis Hervé Legrand wichtige theoretische, allerdings oft ihrer Realisierung harrender Grundlegungen bereitgestellt hat. Veröffentlichungen des Erzbischofs von Poitiers, Pascal Wintzer, verdeutlichen die sich wechselseitig verstärkende Krise eines Ordinations- beziehungsweise Klerusmangels und des Klerikalismus: Ersteren sucht er mit amtstheologisch-kirchenrechtlichen Vorschlägen in seinem innovativen Buch „Essayer d’autres chemins“ zu begegnen. Letzteren identifiziert er in einem Essay in der Tageszeitung „La Croix“ als Konsequenz und Ermöglichung einer das christliche Gottesbild verfälschenden Theologie.

Schließt sich hier ein Kreis? Aveline entwickelte seinen theologischen und pastoralen Ansatz im ISTR, das eben nach der aus Nachwuchsmangel erfolgten Schließung des Priesterseminars in Marseille gegründet wurde. Die Frage nach einem sach- und zeitgemäßen Verständnis des Priesteramtes, ohne das eine Entwicklung der Kirche im Sinne dieses Ansatzes auch bei entsprechendem Engagement aller Getauften und Gefirmten kaum möglich sein dürfte, ist auch weltkirchlich drängend. Als Erzbischof und Kardinal ist Aveline mit dem durch das spirituell überhöhte und pastoral wie theologisch problematische Priesterbild in Toulon ebenso befasst wie mit dem im übrigen Frankreich mittlerweile flächendeckenden und pastoral wie theologisch ebenso problematischen Priestermangel.

Hilfreich für den Umgang mit den großen Herausforderungen nicht nur in Frankreich und im Mittelmeerraum dürfte ein von einem weiten geographischen und kulturellen, dogmatischen und pastoralen Horizont geprägtes Verständnis der Katholizität sein. Aveline denkt diese, Yves Congar und Henri de Lubac weiterführend, als „dynamische Universalität“ (La mission de l’Église, 233). In diesem Sinn will er „die Katholiken dazu (…) ermutigen, sich zur Katholizität der Kirche zu bekehren“ (234).

Anzeige: Wer's glaubt ... Meine Seligpreisungen. Von Beatrice von Weizsäcker

Die Herder Korrespondenz im Abo

Die Herder Korrespondenz berichtet über aktuelle Themen aus Kirche, Theologie und Religion sowie ihrem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld. 

Zum Kennenlernen: 2 Ausgaben gratis

Jetzt gratis testen