Die „Querdenker“-Bewegung steht unter DruckRadikalisierte Besserwisser

Auch wenn ihr Zenit überschritten sein könnte: Zu einer besonderen Protestbewegung in der Corona-Pandemie sind die sogenannten Querdenker geworden. Welche weltanschaulichen Hintergründe sind für diese Gruppierung entscheidend?

Querdenken-Demonstration
© Pixabay

Seit einiger Zeit scheint es für die Querdenken-Bewegung nicht mehr rund zu laufen: Interne Konflikte und nicht zuletzt die Beobachtung durch den Verfassungsschutz haben ihr stark zugesetzt.

Besonders schwer wiegt der Vorwurf des früheren Mitstreiters Markus Haintz gegenüber dem führenden Kopf von Querdenken-711, Michael Ballweg, er habe mit seinen Kontakten zum Reichsbürger Peter Fitzek und mit der Einladung zu einem Geheimtreffen mit diesem im November 2020 versucht, „die Bewegung in eine Richtung zu drängen, wo sie nicht hingehört“. Obgleich Ballweg sofort mit einer Pressemitteilung konterte und Haintz seinerseits angriff, konnte er die schweren Vorwürfe nicht entkräften. Hinzu kam die öffentliche Kritik an Ballweg, er würde nicht transparent mit Geldern umgehen, um die er als „Schenkungen“ für eine geplante Querdenken-Stiftung gebeten und dafür sein Privatkonto angegeben hatte.

Die stark rückläufigen Besucherzahlen bei den geplanten und im August 2021 schließlich verbotenen Großdemonstrationen in Berlin waren zweifelsohne für Querdenken-711 ein neuerlicher Rückschlag. Manche Beobachter sehen die Initiative bereits am Ende. Im Vorfeld der für den 1. August 2021 in der Bundeshauptstadt geplanten „Querdenken“-Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen hatte die Berliner Versammlungsbehörde wiederholt ein Verbot ausgesprochen. 22.500 Personen hatten die Initiatoren von „Querdenken-711“ jeweils angemeldet. Begründet wurde das Verbot damit, dass die „Querdenker“ bereits bei mehreren Versammlungen unter Beweis gestellt hätten, dass „regelmäßig und nahezu ausnahmslos aufgrund der fehlenden Akzeptanz die Infektionsschutzregeln nicht eingehalten werden“. Die Weigerung, eine Mund-Nase-Bedeckung zu tragen, sei „förmlich Markenzeichen und erklärtes Ziel“ der Demonstrantinnen und Demonstranten.

Dennoch mobilisierten „Querdenker“ in den sozialen Netzwerken ihre Anhänger. Auch Ballweg hatte im Telegram-Kanal die Ansicht vertreten, Grundrechte seien nicht verhandelbar. Gerade deshalb sollten alle nach Berlin reisen.

Die Großdemonstrationen der Querdenker fielen dann allerdings kleiner aus als erwartet: Lediglich 5000 zog es bei den beiden von den Gerichten untersagten Versammlungen nach Berlin. Doch es scheint sich zunehmend ein stark radikalisierter Kern herauszubilden. Trotz des Verbots marschierten tausende Demonstranten durch Berlin und lieferten sich mit den 2200 Polizisten in den Straßenschluchten der Hauptstadt ein Katz-und Maus-Spiel.

Erhöhtes Aggressionspotenzial

Im Vergleich zu früheren Großdemonstrationen in Stuttgart, München und Leipzig fiel die gereizte Stimmung unter den Demo-Teilnehmern auf. Mit der Lockerung der staatlichen Corona-Maßnahmen scheint sich das Aggressionspotenzial bei einigen Querdenkern massiv zu erhöhen. Der Autor dieser Zeilen konnte sich davon Anfang August in Berlin einen unmittelbaren Eindruck verschaffen: Träger von Mund-Nasen-Schutz werden angepöbelt, Journalisten und Polizisten von einzelnen wütenden Demonstranten angegriffen. Die Bilanz des ersten Augustwochenendes: 1000 Festnahmen und 500 Verfahren. 75 Polizisten wurden verletzt. Das aggressive wie lautstarke Skandieren des Slogans „Wir sind friedlich, was seid ihr?“ in Richtung der Einsatzkräfte wirkte geradezu grotesk.

Etliche der Demonstranten versuchten gewaltsam die Polizeikette zu durchbrechen, was ihnen zum Teil gelang. Wenn einzelne Rädelsführer in Gewahrsam genommen wurden, beschimpften die Umstehenden die Einsatzkräfte lauthals mit Worten wie „Schämt euch!“, „Nazis“ oder „Verbrecherbande“. Inflationär sind immer wieder Demonstranten, die das Geschehen mit Smartphones filmen und anschließend in sozialen Kanälen verbreiten.

Rückblick: Vor allem die Bilder der großen Querdenker-Demonstration vom 29. August 2020 in Berlin verschafften der vom Stuttgarter IT-Unternehmer Michael Ballweg initiierten Bewegung eine größere Aufmerksamkeit. Zigtausende hatten sich auf den Weg in die Bundeshauptstadt gemacht, um gegen die staatlichen Hygiene-Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie zu protestieren. Gleich mehrere Demonstrationen waren in Berlin angemeldet. Am Reichstag lief eine davon völlig aus dem Ruder. Die Heilpraktikerin und Esoterikerin Tamara Kirschbaum rief im QAnon-Shirt auf offener Bühne von „Staatenlos.info“, einer Reichsbürger-Initiative, dazu auf, die Stufen zum Reichstag zu nehmen, um sich das Haus dort oben wieder zurückzuholen. Mehrere hunderte Personen folgten ihrem Aufruf. Jubelnd und johlend stürmte die Masse, darunter einzelne Personen die türkische, russische oder die QAnon-Flagge schwenkend, die Treppen bis zum Eingang hinauf.

Drei mutige Polizisten hinderten die herandrängenden Menschen schließlich daran, in den Eingang des Parlamentsgebäudes einzudringen, bis Verstärkung anrücken und den Eingangsbereich abriegeln konnte. Die Bilder lösten im politischen Berlin große Bestürzung aus. Diese Bilder sind immer wieder mit den „Querdenkern“, trotz deren versuchten Klarstellungen, in Verbindung gebracht worden. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass es Ballweg und seine Mitstreiter versäumt hatten, sich klar von Rechtsextremen und antidemokratischen Bewegungen abzugrenzen. Man wolle mit allen reden und keine Spaltung zulassen – so äußerte sich der Stuttgarter immer wieder in Interviews. Zuletzt hatte sich Querdenken-711 in einer Pressemitteilung vom 4. August 2021 zu dem Vorfall geäußert und den Medien dabei „gezielte Falschmeldungen“ unterstellt.

Organisatorischer Kern dieser heterogenen Protestbewegung ist die Initiative Querdenken-711, die im April 2020 von Michael Ballweg in Stuttgart gegründet wurde. Die Zahl 711 spielt auf die Stuttgarter Telefonvorwahl an. Die Querdenker-Bewegung hat in Deutschland seither rund 50 örtliche Ableger. Schätzungen gehen von rund 5000 Unterstützern aus. Offizielles Ziel der „Querdenker“ ist die uneingeschränkte Wiederherstellung der derzeit teilweise eingeschränkten Grundrechte. „Wir bestehen auf die ersten 20 Artikel unserer Verfassung“, heißt es in einem einseitigen Manifest. Es fordert insbesondere die Aufhebung der Einschränkungen der Grundrechte durch die „Corona-Verordnung“. Im Fokus stehen dabei Meinungs-, Versammlungs- und Berufsfreiheit, die vollumfänglich wiederhergestellt werden müssten.

Die Initiative Querdenken versteht sich als überparteiliche „Freiheitsbewegung“ und will keine Meinung ausschließen. Diese erklärte Offenheit führt dazu, dass bei Querdenken-Demos Menschen aus ganz unterschiedlichen Motiven zusammenkommen. Im vergangenen Jahr konnte man bei den großen Querdenken-Demos in Stuttgart, Berlin und Leipzig eine diffuse Mischung aus Menschen, Ideen und Überzeugungen antreffen. In München fiel dem Verfasser bei der Anti-Corona-Demo am 9. Mai 2020 auf dem Marienplatz und am 12. September auf, dass sich Mobilfunkgegner, Verschwörungsgläubige, QAnon-Anhänger, Impfgegner, Esoteriker, aber auch unauffällige Menschen zusammengefunden hatten, die ihre Grundrechte durch die staatlichen Hygienevorschriften stark bedroht sahen.

Bei Querdenken-Demos in München und Berlin war auch ein Trolley mit dem Titelblatt des von dem rechtextremen Publizisten Jürgen Elsässer herausgegebenen „Compact-Magazin“ zu sehen. Die damals aktuelle Ausgabe zeigte unübersehbar ein großes „Q“ vor schwarzem Hintergrund. Dieser Buchstabe steht herkömmlich als Kennung für die umstrittene QAnon-Bewegung, die auf einer besonders kruden Verschwörungserzählungsmixtur von „Tiefem Staat“, Satanisten und Kinderblut beruht. Es handelt sich um die Form eines anti-semitischen Weltanschauungsextremismus.

Elsässers „Compact-Magazin“ reklamiert das „Q“ gezielt für die Querdenker: „Stürzt die Freiheitsbewegung die Corona-Diktatur?“ Elsässer widmete Ballwegs Initiative eine „Compact Spezial“-Ausgabe mit dem Titel „Die Querdenker – Liebe und Revolution“. Der Verfassungsschutz stuft das Magazin seit Frühjahr 2020 als rechtsextremistischen Verdachtsfall ein.

Grundsätzlich gilt es bei den Querdenkern, die eher einer Szene als einer geschlossenen Gruppe oder einheitlichen Bewegung gleichen, zu differenzieren. So ist zwischen Initiatoren, Sprechern und Vernetzungen einerseits und den Besuchern von Querdenken-Demonstrationen andererseits zu unterscheiden. Bei den Demonstrationen in München trat im September und November 2020 neben dem ehemaligen Pfarrer Jürgen Fliege auch der rechte Esoteriker Erich Hambach auf, der beste Kontakte zu Initiativen des Schweizer Sektengründers Ivo Sasek (Kla.tv und Anti-Zensur-Koalition, AZK) unterhält.

Hambach ist Anhänger der Quantenheilung des US-amerikanischen spirituellen Lehrers und Heilers Joe Dispenza. Dieses besondere Interesse teilt er wiederum mit Michael Ballweg, der eigenen Angaben zufolge Anfang 2020 bei Dispenza einen Esoterik-Retreat in Dubai besucht hat und sich selbst als dessen großen Fan bezeichnet. Ballweg war auch „Überraschungsgast“ bei Hambachs „2. Konferenz für den Frieden“ Mitte Juli 2021 in München, bei der auch der wegen seiner verbreiteten Verschwörungsmythen umstrittene Ken Jebsen auftrat. Weitere, meist über Video zugeschaltete Referenten waren hinlänglich bekannte Corona-Maßnahmen-Kritiker wie Sucharit Bhakdi, Wolfgang Wodarg und Reiner Fuellmich. Sie gehören der Kleinpartei Basisdemokratische Partei Deutschland, „Die Basis“, an.

Querdenker nutzen Gottesdienstformate für sich

Der Neurobiologe Gerald Hüther sprach bei diesem Kongress ebenfalls per Video zu den rund 400 Anwesenden. Der Psychotherapeut und Professor der Katholischen Stiftungshochschule München, Franz Ruppert, ebenfalls Mitglied von „Die Basis“, hielt seinen Vortrag vor Ort. Als Mitunterstützer dieser umstrittenen Veranstaltung traten gleich mehrere Personen und Initiativen in Erscheinung: der Schweizer Historiker und angebliche „Aufklärer“ Daniele Ganser, das rechtsoffene Nachrichtenportal „Rubikon“ sowie die Initiative „Die Mutigmacher“, die die Querdenker-Umfeld-Initiativen „Ärzte für Aufklärung“ und den „Außerparlamentarischen Corona-Untersuchungsausschuss“ zu ihren Partnern zählt. Schon im Vorfeld gab es heftige Kritik an der Veranstaltung: So rief das Linke Bündnis gegen Antisemitismus München (LBGA) in einem Offenen Brief die Geschäftsführung des Betreibers des Veranstaltungsortes dazu auf, die geplante Konferenz abzusagen. Laut dem Bündnis seien „viele bekannte Namen aus dem rechtsesoterischen und rechtsextremen Spektrum“ beteiligt.

Im vergangenen Jahr versuchten Querdenker-Initiatoren gottesdienstliche Formate für eigene Zwecke zu nutzen. Als am 1. November 2020 (Allerheiligen) die Großkundgebung auf der Münchner Theresienwiese wegen Verletzung von Auflagen nicht stattfinden konnte, deklarierten die Verantwortlichen die Veranstaltung kurzerhand zum „Gottesdienst“. Er wurde vom früheren Talkshow-Moderator und Ruhestandspfarrer Jürgen Fliege sowie vom freikirchlichen Pastor der Berliner Gemeinde „Mandelzweig“, Christian Stockmann, geleitet. Mittlerweile ist er mit seiner Gemeinde aus dem Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP) ausgetreten. Dieser hatte sich von Stockmanns Auffassungen distanziert. Der freikirchliche Pastor hat die Initiative „Christen im Widerstand“ gegründet. In München polemisierte er auf offener Bühne gegen die Kinderlosigkeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel und rief der johlenden Menge zu, dass sich jeder Schulleiter, der Kindern die Maskenpflicht verordne, schuldig mache und zur Rechenschaft gezogen werde.

Zu den Teilnehmern der Querdenken-Demos beziehungsweise zu den Querdenken-Anhängerinnen und -anhängern liegen inzwischen zwei Befragungen der Universitäten Konstanz und Basel vor, die zwar keinen repräsentativen, doch deskriptiven Charakter haben. Sie geben einen interessanten Einblick in Haltungen und Einstellungen der Demonstrierenden.

Hier überwiegt eine starke Ablehnung der Regierung und der Medien. Die Untersuchung der Universität Konstanz befragte verschiedene Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Querdenken-Demo am 4. Oktober 2020 in Konstanz. Die Forscher konstatierten: „Im Hinblick auf die Teilnehmenden scheint es auf der einen Seite wichtig, anzuerkennen, dass es ein durchaus großes bürgerliches Lager an Protestierenden gibt, das nicht originär demokratiefeindlich oder extremistisch ist. Zum anderen muss man aber auch konstatieren, dass der ausgeprägte Verschwörungsglaube sowie das tiefe Misstrauen gegenüber politischen Institutionen und öffentlichen Medien sicherlich ein potenzielles Einfallstor für strategische Einflussnahme extremistischer Gruppen sind.“

Neue soziale Bewegung, die von links nach rechs abdriftet

Die von der Universität Basel im Dezember 2020 veröffentlichte Studie, die Teilnehmer von Querdenken-Telegram-Gruppen befragte, konnte folgende Erkenntnisse gewinnen: Es handele sich bei den Querdenkern um eine „alte“ und akademische Bewegung. Das Durchschnittsalter betrage 47 Jahre. 31 Prozent der Befragten hätten Abitur, 34 Prozent verfügten über einen Studienabschluss. Vertreten seien überwiegend Selbständige. Wählten bei der vergangenen Bundestagswahl 21 Prozent der Befragten die Grünen und 17 Prozent die Linke, so würden 30 Prozent bei der kommenden Wahl für die AfD stimmen. Demnach stellten die Querdenker eine neue soziale Bewegung dar, die von links nach rechts abdrifte. Deutlich zeichnete sich unter den Teilnehmern eine Entfremdung von den Institutionen des politischen Systems, den etablierten Medien und den alten Volksparteien ab. Erkennbar seien unter den Befragten auch antisemitische Vorurteile. Besonders deutlich sei eine große Nähe der Befragten zu alternativ-spirituellen oder esoterischen Überzeugungen wie etwa die Anthroposophie. Deutliche anthroposophische und esoterische Anklänge fänden sich auch in Veröffentlichungen der Juli 2020 aus dem Querdenken-Umfeld hervorgegangenen Partei „Die Basis“.

Personelle Vernetzungen mit (rechten) Esoterikern, Impfgegnern, Verschwörungsgläubigen und auch rechtsextremen Kräften lassen die „Querdenker“ als heterogene Gemeinschaft der „Besserwisser“ (Eva Horn) erscheinen. Das ist kein Zufall. Unübersehbar sind inzwischen auch Radikalisierungstendenzen einzelner Meinungsführer wie etwa im Fall des HNO-Arztes Bodo Schiffmann aus Sinsheim. Seit längerem sprach er von einer angeblichen „Plandemie“. Im September 2021 ließ sich der mittlerweile nach Tansania übersiedelte Verschwörungsgläubige via Twitter zu der Bemerkung hinreißen: „Deutschland ist neben Australien das faschistischste Land, was im Moment auf der Welt existiert. Beendet diesen Staatsstreich!“ Und an anderer Stelle verstieg er sich gar zu der Behauptung, die Impfungen dienten dazu, Menschen „zu sterilisieren oder umzubringen“. Diese Stimme ist kein Einzelfall. Auf Demos sind solche Aussagen an der Tagesordnung. An der oftmals verkündeten Friedensbereitschaft mancher Querdenker sind daher berechtigte Zweifel angebracht.

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