Nächstenliebe nicht zur Pflicht machen

Die „doppelte Widerspruchslösung“ zur Organspende, die Gesundheitsminister Jens Spahn vorschlägt, widerspricht einem liberalen Menschenbild und grundlegenden christliche Überzeugungen. Darum bin ich für eine Zustimmungslösung.

In Deutschland warten aktuell 9.500 Menschen auf ein dringend benötigtes Spenderorgan. Ihnen standen im Jahr 2018 bundesweit 955 Menschen gegenüber, die ein Organ gespendet haben. Diese Zahl entspricht 11,5 Organspenden je eine Million Einwohner. Auch wenn der Trend bei Organspenden zuletzt leicht ansteigend war, müssen uns diese Zahlen alarmieren: Denn im Jahr 2017 befand sich die Zahl der Organspenden auf dem niedrigsten Stand seit 20 Jahren. Auch der Vergleich mit anderen europäischen Ländern wie beispielsweise Spanien, wo 2017 auf eine Million Einwohner 46,9 Organspenderinnen und Organspender kamen, zeigt die Notwendigkeit, in unserem Land Maßnahmen zur Erhöhung der Spenderzahlen zu ergreifen.

Diese liegen übrigens vor allem auf einer praktischen Ebene in den Krankenhäusern vor Ort. Auffällig ist nämlich, dass einige praktisch keine Organspenden entgegennehmen. Insbesondere kleinere Häuser benötigen hier dringend Unterstützung. Auf diesem Weg ist Gesundheitsminister Jens Spahn unbedingt zu unterstützen und so hat auch Spanien die Zahl der Organspenden deutlich erhöht.

Minister Spahn macht mit seiner „doppelten Widerspruchslösung“ jedoch einen Vorschlag, der für alle Bürger in unserem Land weitreichende Konsequenzen hätte: Denn per Gesetz wäre jeder plötzlich automatisch ein potenzieller Spender – es sei denn, er oder sie widerspricht aktiv. Als Freidemokrat und Christ kann ich mich diesem Vorschlag nicht anschließen, da er die freie Selbstbestimmung der Menschen in einem erheblichen Maße beschneidet. Bei jeder Nutzung unserer Daten im Internet müssen wir aktiv einwilligen, der Spende eigener Organe müssen wir aktiv widersprechen – das kann nicht sein.

Ich bin der Überzeugung, dass das Spenden von Organen eine Gewissensentscheidung des Individuums bleiben muss. Der Staat kann und sollte eine solche Entscheidung nicht übernehmen oder vorgeben. Spahns Vorschlag würde hingegen einen Paradigmenwechsel bedeuten, den wir in dieser Art bei einem solchen Grundrecht der Integrität von Leib und Leben noch nie durchgeführt haben. Das Selbstbestimmungsrecht, ob ich Organe spenden möchte, ist in dieser Frage, die über das eigene Lebensende hinausgeht, ein extrem kostbares Gut, das nicht verletzt werden darf.

Dem Modell von Spahn und der Zustimmungslösung, die eine deutliche Mehrheit der Fraktion der Freien Demokraten präferiert, liegen zudem recht unterschiedliche Menschenbilder zugrunde: So sehen wir den aufgeklärten, mündigen und auch verantwortungsvoll handelnden Bürger als Ausgangspunkt unserer politischen Lösungsansätze. Entsprechend halten wir es für den richtigen Weg, Menschen regelmäßig bei Behördengängen nach ihrer Bereitschaft zu spenden zu fragen und auf diesem Weg gezielt eine Befassung mit diesem wichtigen Thema zu fördern. In der Umsetzung würde dies bedeuten, dass beispielsweise bei der Beantragung eines Personalausweises oder von Wohngeld die Gelegenheit genutzt werden könnte, um Bürger oder die Bürgerinnen auf die Möglichkeit der Organspende hinzuweisen. Flankiert werden könnte diese Maßnahme durch eine gezielte Aufklärungskampagne von Ärzten und Krankenkassen, die ebenfalls ihre Patienten anregen sollten, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. So werden wir die Zahl der Organspenden deutlich erhöhen.

Es ist essentiell, dass es uns gelingt, dass sich die Menschen intensiver mit dem Thema Organspende befassen. Sollte die individuelle Beschäftigung mit dieser Frage letztlich zu einem negativen Ergebnis führen, dann muss selbstverständlich auch diese Entscheidung akzeptiert werden. Denn in einem freiheitlichen Land muss die individuelle Selbstbestimmung stets hoch geachtet und respektiert werden. Auch als gläubiger Christ habe ich große Zweifel an der Widerspruchslösung. So bin ich der tiefen Überzeugung, dass es nicht der richtige Ansatz sein kann, aus einem Akt der Freiwilligkeit, Solidarität und – religiös gesprochen – Nächstenliebe einen Pflichtakt zu machen, bei dem man aktiv widersprechen muss. Ich bekenne deshalb aus vollster Überzeugung: Aus freiem Willen und tiefer Überzeugung trage ich meinen Organspenderausweis immer bei mir.

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