LeitartikelDeutscher Katholizismus wohin?

Der deutsche Katholizismus ruht traditionsgemäß auf den beiden Säulen der Pfarrgemeinden und der Verbände. Neue sind bisher nicht dazugekommen. Für die absehbare Zukunft braucht es keinen Bruch mit der jetzigen Gestalt von Kirche und Katholizismus in Deutschland. Notwendig wäre allerdings ein Gegensteuern zur zunehmenden intellektuellen Auszehrung. Nur dann könnte man die richtige Mischung zwischen dem Akzeptieren weiterer Erosion und der Offenheit für Neuaufbrüche finden. Sinnvoll wäre auch auf dem weiteren Weg der produktive Austausch zwischen katholischer und protestantischer Kirchenerfahrung.

In der Führungsetage der katholischen Kirche in Deutschland gab es in den vergangenen Wochen einige Veränderungen. Zuerst wählten die Mitglieder der Deutschen Bischofskonferenz Kardinal Reinhard Marx, den Erzbischof von München und Freising, zu ihrem neuen Vorsitzenden. Kurz danach nahm Papst Franziskus den Rücktritt des Limburger Bischofs Franz-Peter Tebartz-van Elst an (vgl. ds. Heft, 223 ff.). Und schließlich begann mit der Ernennung des Salesianers Stefan Oster zum Bischof von Passau der Reigen der zu erwartenden Neubesetzungen vakanter deutscher Diözesen.

In der Heimatdiözese des künftigen Bischofs von Passau findet demnächst der 99. Deutsche Katholikentag statt. Schon diese Zahl, die vor dem Regensburger Katholikentag Ende Mai steht, lenkt den Blick zurück auf die Geschichte des deutschen Katholizismus, in der die Bischöfe zweifellos wichtige, aber beileibe nicht die einzigen herausgehobenen Akteure waren und auch noch sind. Die katholische Kirche ist zwar theologisch wie strukturell eine Bischofskirche mit päpstlicher Spitze. Ihre nationale und regionale Gestalt verdankt sich allerdings einer jeweils spezifischen Mischung aus historischen, sozialen und religiösen Faktoren. Das liegt gerade im Fall der katholischen Kirche in Deutschland auf der Hand.

Seit dem 19. Jahrhundert ruht sie vor allem auf zwei Säulen: Auf der einen Seite das flächendeckende Netz der Pfarrgemeinden unterschiedlichen Zuschnitts (zwischen ländlichen und städtischen Regionen wie zwischen katholischen Kernlanden und Diasporagebieten), auf der anderen Seite die vielfältige Landschaft der Verbände. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, das für die Katholikentage zusammen mit dem gastgebenden Bistum verantwortlich zeichnet, spiegelt diese Doppelstruktur in seiner maßgeblichen Zusammensetzung aus Verbands- und Rätevertretern wider.

Neue tragende Säulen sind bis heute nicht dazugekommen; weder die geistlichen Bewegungen, um die es deutlich stiller geworden ist, noch die viel gepriesenen diversen „Orte“ kirchlicher Präsenz neben den herkömmlichen Pfarrgemeinden (von Bildungshäusern bis City-Kirchen) haben sich hierzulande als solche etabliert. Die großen kirchlichen Hilfswerke wiederum leisten zwar hochprofessionell eine anerkannt gute Arbeit; sie prägen aber ungeachtet ihrer Kampagnen und ihrer Öffentlichkeitsarbeit das Profil des deutschen Katholizismus weit stärker nach außen als nach innen.

Kirche sollte mit ihren Grundfunktionen vor Ort greifbar sein

Der über Jahrzehnte gewachsene strukturelle Zuschnitt des deutschen Katholizismus hat durchaus einiges für sich, trotz aller Veränderungen, die er im Einzelnen in den letzten Jahren und Jahrzehnten erfahren hat. Das lässt sich besonders gut am Prinzip „Pfarrgemeinde“ zeigen: Nicht umsonst hat die Evangelische Kirche in Deutschland ihr im Impulspapier „Kirche der Freiheit“ von 2006 propagiertes Ziel, eine Proportion von je 25 Prozent „Profilgemeinden“ und „netzwerkorientierten“ Angeboten neben 50 Prozent herkömmlichen Parochialgemeinden zu erreichen, längst wieder beerdigt. Auch auf katholischer Seite erweist sich, dass für viele, vermutlich sogar für die allermeisten Menschen, die überhaupt Kontakt zur Kirche haben, deren örtliche Präsenz unverzichtbar ist, auch wenn sie nicht mehr in jedem Fall durch Priester realisiert werden kann. Kirche sollte mit ihren Grundfunktionen Liturgie, Verkündigung und Diakonie nach Möglichkeit immer auch vor Ort greifbar und ansprechbar sein.

Im Übrigen sind auch die katholischen Verbände, von reinen Berufsverbänden einmal abgesehen, in erster Linie auf gemeindlicher Ebene aktiv. Nicht selten stellen die entsprechenden Gruppen, seien die der Frauen- oder der Jugendverbände oder auch die Kolpingsfamilien, einen beträchtlichen Anteil am „harten Kern“ der Pfarrei. Demgegenüber beschränkt sich der Kontakt zum Diözesan- oder gar zum Bundesverband vielfach auf das Abführen von Beiträgen und den Empfang von Materialien. Deswegen müssen die Verbände als solche aber keineswegs bloße Erinnerungsstücke an vergangene bessere Zeiten im kirchlichen Leben sein.

Sie bieten nämlich zumindest die Möglichkeit, spezifische, auch durchaus konflikthaltige Anliegen der verschiedenen Teile des wenn auch erheblich zusammengeschrumpften Kirchenvolkes auf dem jeweiligen Erfahrungshintergrund (etwa der Frauen, der Arbeitnehmer oder der jungen Generation) zu bündeln und zu artikulieren, und zwar gegenüber dem amtlichen kirchlichen Gefüge wie in der allgemeinen Öffentlichkeit. Das zeigt sich im Idealfall gerade auch bei Katholikentagen. Insofern würde ohne das verbandliche Element – ungeachtet aller seiner Erosions- und Krisenerscheinungen – dem deutschen Katholizismus insgesamt ebenso etwas fehlen wie ohne die territoriale Verwurzelung durch die Pfarrgemeinden – welchen Typs auch immer. Beides wird im Grunde genommen nach wie vor gebraucht, schon allein mangels einer praktikablen und erfolgversprechenden Alternative.

Die konstitutive Bedeutung des Verbandswesens markierte nicht zuletzt einen wichtigen Unterschied zwischen dem deutschen Katholizismus und dem Protestantismus in Deutschland, der nie im selben Maß organisiert war und es übrigens wegen seiner konfessionellen Mehrheitsposition, seiner stärkeren inneren Ausdifferenzierung und seiner engen Verbindung zum Staat (jedenfalls bis 1918) auch gar nicht sein musste. Auch heute noch spielen Verbände oder vergleichbare Gruppierungen auf katholischer Seite eine wesentlich größere Rolle als unter dem Dach der anderen deutschen Großkirche, wie nicht zuletzt der vergleichende Blick auf Katholikentage einerseits und Evangelische Kirchentage andererseits unschwer belegt.

Der deutsche Katholizismus darf nie bloß im eigenen Saft schmoren

Aber der deutsche Katholizismus ist längst nicht mehr eine in dem Maß organisierte und geschlossene Größe, wie es in früheren Jahrzehnten der Fall war. Damit ist auch die einstige Abgrenzung gegenüber dem Protestantismus weggefallen. Katholiken wie Protestanten liegen heute nicht nur fast gleichauf, was ihren Anteil an der deutschen Bevölkerung betrifft. Sie teilen auch weithin die Probleme, die sich im Blick auf Glaubens- und Kirchenbindung in einer säkularen Gesellschaft stellen, in der Religion längst nicht mehr selbstverständlich und das Christentum vielfach höchstens noch als Erinnerung geläufig ist. Insofern sind nicht zuletzt die Ergebnisse der neuesten EKD-Untersuchung zur Kirchenmitgliedschaft (vgl. HK, April 2014, 171 ff.) nicht nur für die auftraggebende Kirche eine Herausforderung, sondern bieten auch für die katholische Glaubensgemeinschaft und die in ihr Verantwortlichen genügend Stoff zum Nachdenken.

Die Untersuchung ergibt für den protestantischen Bereich eine enge Verbindung von Religiosität und Kirchlichkeit: Breche die kirchliche „Interaktionspraxis“ ab, so sinke nicht nur das Gefühl der Verbundenheit mit der Kirche, sondern auch die individuelle Religiosität werde abgeschwächt. Auf die katholische Kirche und ihre Gläubigen übertragen, gewinnt dieser Befund nochmals an Brisanz. Schließlich ist nach katholischem Verständnis die Größe „Kirche“ im Glaubensvollzug wichtiger als für evangelische Theorie und Praxis. Gleichzeitig bietet die katholische Kirche nicht nur mehr Identifikationsmöglichkeiten, sondern durch ihre dogmatische Heilsbedeutsamkeit wie konkrete Sichtbarkeit auch mehr Angriffsflächen. Das zeigt sich bei überzeugten Anhängern, bei Sympathisanten wie bei Gegnern. Katholische Diskussionen über die Kirche haben quasi automatisch mehr Stoff als evangelische und werden in der Regel denn auch viel engagierter oder sogar erbitterter geführt.

Deshalb trifft der da und dort erhobene Vorwurf weithin ins Leere, katholische Zukunftsdebatten in Deutschland würden sich zu sehr an kirchlichen Strukturfragen festbeißen und dabei die viel wichtigeren Themen im Zusammenhang mit Glaubenkrise und Glaubensweitergabe in den Hintergrund drängen. Im katholischen Horizont lässt sich eben gar nicht ernsthaft über den Glauben und seine Weitergabe streiten, ohne dass sehr schnell die Kirche ins Spiel kommt und auch kommen muss. Das betrifft natürlich auch alle Überlegungen über den künftigen Weg und die erstrebenswerte Gestalt des deutschen Katholizismus.

Bei ihnen kann und darf dieser Katholizismus im Übrigen nie nur im eigenen Saft schmoren, sondern muss den Blick immer auch in die Weltkirche richten und damit auch auf das universalkirchliche Leitungsamt des Papstes. Auch hier liegt ein Spezifikum des katholischen Kirchenverständnisses, so sehr es auch im protestantischen Bereich sinnvoll oder sogar notwendig sein kann, als Kirche in der Bundesrepublik mit reformatorischen Gemeinschaften anderswo in Europa und in anderen Weltregionen Erfahrungen austauschen und dabei unter Umständen auch das eine oder andere zu lernen.

Der deutsche Papst Benedikt XVI. kannte einerseits die katholischen Verhältnisse in seinem Heimatland aus eigener Anschauung. Gleichzeitig brachte er aus seinen Jahren in Deutschland eine unübersehbare Distanz zu manchen Elementen des „real existierenden“ Katholizismus zwischen Nordsee und Alpen in seine römischen Ämter mit, etwa zum Rätekatholizismus insgesamt, zum Zentralkomitee und den von ihm veranstalteten Katholikentagen. Diese Fremdheit war nicht zuletzt auch bei seinem Deutschlandbesuch im September 2011 spürbar.

Eine neue Bischofsgeneration in den Startlöchern

Papst Franziskus ist von seiner Herkunft her im Blick auf den deutschen Katholizismus nicht vorgeprägt, abgesehen von den Erfahrungen mit der vielfältigen Unterstützung des Hilfwerks „Adveniat“, die er mit dem ganzen lateinamerikanischen Episkopat teilt. Sein Bekenntnis zu regionaler kirchlicher Eigenentscheidung an Stelle römischer Zentralisierungswut und zur Stärkung des synodalen Prinzips als Ausdruck bischöflicher Kollegialität könnte allerdings die kirchlichen Verantwortungsträger hierzulande dazu ermutigen, ihren Spielraum für den Umgang mit den Herausforderungen für den deutschen Katholizismus auszuloten und so beherzt wie sensibel zu nutzen. Ob sie es wirklich tun, muss sich erst zeigen. Schließlich steht ja in Deutschland eine neue Bischofsgeneration in den Startlöchern.

Das Reservoir für solche Spitzenämter schrumpft allerdings immer stärker zusammen; auch Positionen in der zweiten und dritten Reihe der kirchlichen Führung sind inzwischen nur mit Mühe zu besetzen, weil es im Klerus an geeigneten Kandidaten mangelt und zudem nur sehr wenige neue Priester nachrücken. Vergleichbare Probleme gibt es gleichzeitig auch auf Seiten der aktiven Laien. Im deutschen Laienkatholizismus stehen Persönlichkeiten nicht gerade Schlange, die berufliche und politische Verantwortung tragen und gleichzeitig zu einem herausgehobenen Engagement in kirchlichen Gremien und Gruppierungen bereit sind. Die tragende Schicht der letzten Jahrzehnte, die katholische Sozialisation und kirchliche Loyalität mit hoher Kompetenz in „weltlichen“ Sachbereichen verbunden hat, findet kaum profilierte Nachfolger.

Es ist ein Kernproblem des deutschen Katholizismus, dass er zunehmend an intellektueller Auszehrung leidet. Symptome dafür sind mit Händen zu greifen: In kirchlichen Verlautbarungen werden oft Sachprobleme mit einem Wust an pastoralen Floskeln zugedeckt. Theologische Veröffentlichungen zelebrieren nicht selten eine verstiegene gedankliche und sprachliche Akrobatik ohne Rücksicht auf ihr mögliches Publikum. Es finden sich in kirchlichen Diskursen die immer gleichen Standardformeln zur Charakterisierung heutiger Gesellschaft und Kultur, die belegen, dass man nicht zu genauerem Hinsehen und Analysieren bereit ist. Man rezipiert kulturelles und spirituelles Material, bügelt aber dabei nicht selten dessen Widersprüchlichkeit und Widerständigkeit glatt.

Vorschnelle gegenseitige Schuldzuweisungen führen hier allerdings genauso wenig weiter wie ein allgemeines Lamento, das die personellen wie sachlichen Probleme auf diesem Feld nicht genügend in Rechnung stellt. Es wäre aber schon viel gewonnen, wenn man zu einer ehrlichen Rechenschaft über die Defizite bereit wäre und sich möglichst viele an ihrem Platz und mit ihren Möglichkeiten innerhalb des deutschen Katholizismus bemühen würden, bewusst gegenzusteuern.

Eine solche Haltung würde auch dabei helfen, die Herausforderungen der kommenden Jahre für die Kirche in der Bundesrepublik angemessen anzugehen. Gefragt wäre eine intelligente Mischung aus dem Akzeptieren weiterer Erosion und Schrumpfung und der Offenheit für Chancen und Neuaufbrüche im kirchlichen Leben auf den verschiedenen Ebenen und in den unterschiedlichen Bereichen. Das heißt: Es darf nicht darum gehen, jeden Verband oder auch jede Gemeinde künstlich am Leben zu erhalten; man sollte Arbeitszweige und Projekte, die nichts mehr austragen, aufgeben oder umbauen. Allerdings bringt es auch nichts, ohne Rücksicht auf Verluste und Sensibilitäten die Heckenschere anzusetzen und einseitig auf vermeintlich Innovatives zu bauen. Wo sich jedoch neue Möglichkeiten guter und fruchtbringender kirchlicher Arbeit abzeichnen, sollte man diese entsprechend fördern und ihre Beispielwirkung nutzen.

Nötig wäre eine ehrliche Debatte

Es braucht insgesamt keinen Bruch mit der in der Tradition des deutschen Katholizismus entstandenen, durchaus nicht unflexiblen Gestalt von Kirche. Wer sie verteidigt, sollte nicht als sentimentaler Nostalgiker abgestempelt werden, der die Zeichen der Zeit nicht wirklich wahrnimmt. Nötig wäre allerdings eine ehrliche Debatte über die jetzt und in der nächsten Zeit erforderlichen oder wünschenswerten Schritte kirchlicher Umgestaltung, und zwar unter Beteiligung aller „Stände“ in der Kirche, Laien, Kleriker und Ordenschristen. Auch der bevorstehende Katholikentag in Regensburg (Motto: „Mit Christus Brücken bauen“) wird sich daran messen lassen müssen, inwiefern er eine solche Debatte voranbringt.

Es wird nicht leicht sein, die Gläubigen hierzulande beziehungsweise die die Kirche tragende Schicht von der Sinnhaftigkeit entsprechender Diskussionen, die immer auch ein erhebliches Konfliktpotenzial beinhalten, zu überzeugen. Bei Älteren dominiert bei aller Loyalität oft genug die schiere Frustration, bei Jüngeren fehlt vielfach jegliches Interesse an kirchenbezogenen Themen, wenn sie denn überhaupt noch mit von der Partie sind. Aber Kirche und Katholizismus in Deutschland sind zu wichtig, als dass man sie den Bürokraten oder auch den Ideologen überlassen dürfte. Beide Typen sind zwar nicht vorherrschend, aber durchaus anzutreffen.

Dabei sollte man eines nicht aus den Augen verlieren: Deutschland ist geschichtlich und strukturell so sehr vom Nebeneinander zweier großer konfessioneller Blöcke geprägt, dass das evangelisch-katholische Gespräch gerade auch in Sachen Kirchengestalt und Kirchenreform unverzichtbar bleibt. Den deutschen Katholizismus kann man sich auch in Zukunft nicht ohne sein protestantisches Pendant vorstellen. Das macht manche Diskussionen schwieriger, aber auch spannend.

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