Geistlicher MissbrauchVergifteter Glaube

Die Therapeutin Stephanie Butenkemper zeigt in ihrem neuen Buch Anzeichen für geistlichen Missbrauch – und Wege aus der Krise.

Als er sie zum Anhören seiner Predigt befohlen hatte und sie nicht gekommen war, weil der Besuch der Markgräfin von Meißen sie abhielt, erlangte sie erst am folgenden Tage zu seinen Füßen Verzeihung: die Hoffräulein, denen er die Schuld am Ungehorsam der Herrin gab, mussten sich bis aufs Hemd entblößt seinen Schlägen aussetzen – eine Strafe, der die Fürstin zu unterwerfen sich der Magister bald nicht scheuen sollte.“ So Reinhold Schneider in seiner kleinen Biographie über Elisabeth von Thüringen und ihre Beziehung zu ihrem „Seelenführer“ Magister Konrad von Marburg. Über diesen urteilt Schneider, „dass er mit sich selbst so wenig zurechtkam wie mit seinem Dämon: dass er ein innerlich missgeformter Mensch gewesen ist“. Die umfassende Geschichte des geistlichen und sexuellen Missbrauchs ist noch nicht geschrieben. Für das Mittelalter hat der Psychohistoriker Ralph Frenken schon vor 20 Jahren eine Studie vorgelegt, die zeigt, dass insbesondere die Erlebnisberichte der Mystikerinnen für diese Thematik relevant sind.

Für die Gegenwart ist nunmehr eine Studie von Stefanie Butenkemper erschienen, die fundiert geistlichen Missbrauch in neuen geistlichen Gemeinschaften beschreibt und dazu kenntnisreich Folgerungen für eine Beratung Betroffener und Überlegungen zur Prävention vorlegt. Die Autorin, Diplom-Sozialpädagogin, systemische Therapeutin und Ehe-, Familien- und Lebensberaterin hat nicht nur selbst als Mitglied einer Gemeinschaft erlebt, wie es ist, in Abhängigkeit zu geraten und nur mühsam den Ausstieg zu schaffen. Sie hat auch eine qualitative Studie mit acht Betroffenen durchgeführt, mit denen sie ausführliche Interviews führte. Die Ergebnisse stellt sie in diesem Buch vor und wertet sie aus, um das Phänomen „geistlicher Missbrauch“ wissenschaftlich zu analysieren. Butenkemper fragt dabei, wie Menschen in solche missbräuchlichen Situationen geraten, und warum es so schwer ist, sich daraus zu befreien. Hier liefert auch die Sektenforschung wichtige Erkenntnisse.

Die Autorin sieht vier Charakteristika geistlichen Missbrauchs, die sie jeweils mit Beispielen aus der Studie verdeutlicht: die Grenzverletzung, die Einengung, also das Abschneiden äußerer Kontakte, die Idealisierung von Personen und die Entwertung des Einzelnen. Wiederholt betont sie, wie notwendig es ist, Betroffenen ausgiebig zuzuhören, um zu erfahren, warum sie in solche „toxischen Gemeinschaften“ geraten sind, und warum der Ausstieg so schwerfällt. Als entscheidende Antwort formuliert Butenkemper, dass eine Gemeinschaft als Familienersatz gesucht wird, in der man sich angenommen und willkommen fühlt. Tiefe Grundsehnsüchte werden da angesprochen. Dazu kommt die Sehnsucht nach Lebenssinn, nach Gott und einem entschiedenen Glauben. Von daher ist es nachvollziehbar, dass das Verlassen einer solchen Gemeinschaft mit existentieller Verlustangst verbunden ist.

Ausführlich beschreibt die Autorin die mentale Manipulation. Sie orientiert sich dabei an den acht Schritten, die der Psychiater Robert Lay in einer Analyse der Gehirnwäsche im kommunistischen China formulierte: die Kontrolle des sozialen Umfelds, die mystische Manipulation (der Leiter der Gruppe wird als direkter Mittelsmann zu Gott gesehen), die Forderung nach Reinheit (Perfektion, um heilig zu werden), das Ritual der Beichte (das von den Schuld- und Schamgefühlen der Menschen lebt), eine „heilige Wissenschaft“ (die Sicherheit bietet), aufgeladene Sprache, Priorität der Lehre vor der Person usw. Damit wird in solchen Gemeinschaften das System der Kontrolle, sowohl des Verhaltens als auch der Gedanken und Gefühle, perfektioniert.

Am Beispiel der Odenwaldschule mit ihrer „Reformpädagogik“, des Leistungssports und der Klimaschutzgruppierung „Letzte Generation“ zeigt Butenkemper, dass das Phänomen des emotionalen Missbrauchs nicht auf die Kirche beschränkt ist. Wieder geht es hier um die Herstellung eines Familiengefühls und charismatische Führungspersönlichkeiten, die ihre Macht geschickt ausspielen und als „Heilsbringer“ fungieren. Doch besonders schmerzlich sind die geistigen Folgen des Missbrauchs in religiösen Gemeinschaften. Denn es wurde gerade der Bereich zerstört, für den die Betroffenen Halt und Orientierung suchten. Glaube und Gottesbeziehung müssen neu gefunden werden. Anhand der Traumaforschung schildert die Autorin die psychischen und emotionalen Folgen, die sich auch auf den Körper und die sozialen Kontakte auswirken. Abschließend wird im Blick auf die Psychologie der Täter eine unsichere und eine überforderte Persönlichkeit charakterisiert.

Für professionelle Beraterinnen und Berater gibt die Autorin präzise Hinweise, um in überlegten Schritten die biografische Aufarbeitung des Traumas zu ermöglichen. Für die seelsorgerliche Hilfestellung greift sie auf Schritte zur Überwindung eines krank machenden Gottesbildes zurück, wie sie der Religionspädagoge und Pastoralpsychologe Karl Frielingsdorf vorgeschlagen hat. Schwieriger zu beantworten ist die Frage nach der Prävention. Denn hier kommt die individuelle Vielfalt der Erfahrungen und die Komplexität der Faktoren zum Tragen. Denn Prävention muss bereits bei der Erziehung zu einer selbstbewussten Persönlichkeit ansetzen. Zudem muss die Reflexionsfähigkeit hinsichtlich der eigenen Überzeugungen gefördert werden. Außerdem sollte öffentlich über geistlichen Missbrauch geredet und die Kirche als verantwortliche Institution kontrolliert werden. Dieses wichtige Buch wird durch ein Literaturverzeichnis, Anmerkungen und hilfreiche Links abgerundet.

Anzeige: Gottes starke Töchter. Frauen und Ämter im Katholizismus weltweit. Hg: Julia Knop

Der CiG-Newsletter

Ja, ich möchte den kostenlosen CiG-Newsletter abonnieren und willige in die Verwendung meiner Kontaktdaten zum Zweck des E-Mail-Marketings durch den Verlag Herder ein. Den Newsletter oder die E-Mail-Werbung kann ich jederzeit abbestellen.
Ich bin einverstanden, dass mein personenbezogenes Nutzungsverhalten in Newsletter und E-Mail-Werbung erfasst und ausgewertet wird, um die Inhalte besser auf meine Interessen auszurichten. Über einen Link in Newsletter oder E-Mail kann ich diese Funktion jederzeit ausschalten. Weiterführende Informationen finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen.