Queen Elizabeth II. (1926–2022)Im Wind der Veränderung

Der Tod der Queen markiert das Ende einer Epoche. Beobachtungen und Reflexionen während ihrer Aufbahrung in der schottischen Hauptstadt.

It’s just ridiculous! – Das ist doch irre, sagen sie im Meadows-Park in Edinburgh. Hektische Diskussionen: Wenn du zum Sarg willst, musst du dich jetzt anstellen und dir ein Armbändchen besorgen, sagt die eine. Dann verpasse ich aber die Prozession, sagt der andere. Irre ist das alles, chaotisch und schlecht organisiert, darauf kann man sich einigen.

Was passiert hier? Vor einigen Tagen ist die Queen im schottischen Hochland auf ihrem Sommersitz gestorben. Gestern ist ihr Sarg in der Hauptstadt angekommen, gerade wird er in einer feierlichen Parade in die Kathedrale gebracht. Dort wird er für 24 Stunden aufgebahrt, bevor es weiter nach London geht. Im Vergleich dazu ist Edinburgh eine kleine, eigentlich fast beschauliche Stadt. Heute ist es, als fände ein improvisiertes, völlig überlaufenes Volksfest statt, nur dass die Stimmung gedämpft ist. Obwohl die öffentliche Aufbahrung der Queen erst am frühen Abend beginnt, bildet sich die Schlange zur Kathedrale schon zur Mittagszeit. Nun gut, also stelle auch ich mich an. Aus der Ferne hört man immerhin schon den Kanonendonner, der den Leichenzug begleitet.

Königin Elizabeth II. war eine Frau vieler Superlative. 70 Jahre und 214 Tage saß sie auf dem Thron eines einstigen Weltreichs, und zwar des größten, das man je gesehen hat. Das Empire gibt es nicht mehr, aber immer noch ist der britische Monarch Staatsoberhaupt von 15 Nationen und Oberhaupt des Commonwealth, eines losen Staatenbundes als Nachfolger des Empire. Dennoch: Die Jahre von Elizabeths Regentschaft waren geopolitisch in vielerlei Hinsicht Jahre des Abstiegs. Großbritannien ist längst im Wandel, weg vom globalen Zentrum hin zur Regionalmacht auf einer verregneten Insel in Nordeuropa, die von einer Krise zur nächsten wankt und dauernd vom Zerfall ihrer noch vereinigten Landesteile England, Wales, Schottland und Nordirland bedroht ist.

Je mehr Glanz, Ruhm und Einfluss vergangener Zeit schwanden, desto heller strahlte die 1,52 Meter große Dame mit der Vorliebe für exzentrische Hüte. Es ist vielleicht die größte Leistung der Queen: Politisch faktisch bedeutungslos, war sie ein lebendes Symbol des Vereinigten Königreichs und so etwas wie ein universaler Inbegriff der Kontinuität in Zeiten rasanten Wandels. Die Queen war irgendwie immer schon da. Stets verlässlich, mit Anmut und Anstand. „Die mächtigste Ohnmächtige der Welt“, titelte der Spiegel vor ein paar Tagen.

Ich habe mittlerweile eines dieser begehrten weißen Armbänder, um den Sarg der Königin zu sehen. Vorbei an der Universitätsbibliothek schlängeln wir uns durch gewundene Straßen in Richtung der kleinen Ägidius-Kathedrale. Edinburgh ist einer der besterhaltenen alten Orte Europas. Die Altstadt atmet noch mittelalterliches Flair. In der Kirche beginnt gerade ein Gottesdienst, die Queen scheint dort angekommen zu sein. Lautsprecher übertragen Gesänge und Lesungen auf die Straßen. Die erste Ministerin Schottlands, Nicola Sturgeon, trägt aus dem dritten Kapitel des Kohelet-Buchs vor: Alles hat seine Zeit – das Sterben, das Weinen, das Lachen, der Tanz. Danach erkenne ich Worte aus dem Römerbrief: „Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns?“ (8,31). Später gibt es eine Predigt. Elizabeth hat ihr Amt wie König Salomo aus dem Alten Testament begonnen, sagt der Geistliche.

Ich erinnere mich an eine der vielen Dokumentationen, die in diesen Tagen im Fernsehen laufen. Da gab es die Aufnahme einer Ansprache der Queen aus dem Jahr 1953, am Abend des Krönungstages. Wie Salomo bittet sie da Gott um Weisheit und Stärke, um ihre Gelübde treu zu erfüllen.

Die Krönung selbst war wohl das finale Aufflackern einer tausende Jahre alten, letztlich biblischen Tradition. Selbst die deutsche Wochenzeitung Die Zeit kam damals nicht ohne ein gewisses Pathos aus: „Abordnungen aus allen Teilen der Erde sind in London eingetroffen, um die schöne junge Herrscherin zu ehren und an der großartigsten weltlichen Zeremonie teilzunehmen, die es im Abendland noch gibt.“ Gekleidet in eine Albe wurde Elizabeth an Scheitel, Brust und Handflächen mit heiligem Chrisam-Öl als Königin von Gottes Gnaden gesalbt. Während der Erzbischof von Canterbury, Geoffrey Fisher, die 27-Jährige auf diese Weise in ihr sakramentales Amt hob, wurden die beiden durch einen Baldachin verdeckt. Die Salbung als Begegnung der Monarchin mit Gott galt als so heilig, dass man sie nicht einfach zur Schau stellen konnte: die Verhüllung des Heiligen, Unverfügbaren, das – paradox zugleich – in die Welt einbricht.

Vielleicht zeigt das, wie sich die Welt während Elizabeths Herrschaft verändert hat. Dieser Tage wird der Sarg der Königin durch ein Meer an Smartphones gefahren. Wir leben im Zeitalter der Bildsucht, hat der Münsteraner Philosoph Klaus Müller einmal geschrieben. Was man nicht sehen kann, was nicht von allen Seiten ergründet und durchmessen werden kann, das gibt es nicht, so das Empfinden vieler.

Schon damals galt die Krönungsfeier auch als bewusste weltliche Inszenierung, um dem müden Volk, das noch an den Nachwehen des Zweiten Weltkriegs litt, ein wenig Glanz und Hoffnung zu schenken. Andererseits war es wohl das letzte Mal, dass so eine doch eigentlich religiöse Handlung noch irgendwie plausibel erschien.

Vieles deutet darauf hin, dass die Kette der Monarchie mit dem Ableben der Königin zerrissen ist. Eine Feier wie einst zur Einführung des Staatsoberhauptes einer streitbaren Demokratie kann man heute nicht mehr „machen“, zumal nicht im jetzt weitestgehend säkularen und gesellschaftlich extrem pluralen Großbritannien.

Vieles deutet darauf hin, dass die Kette der christlich begründeten Monarchie mit dem Ableben der Königin zerrissen ist.

Für wache Beobachter des Geisteslebens, nicht zuletzt für Christen in der Gegenwart, wird es deshalb aufschlussreich sein, die Krönung von König Charles III. zu verfolgen. Ohne einen christlich gearteten Ritus wird es kaum gehen, immerhin ist auch der älteste Sohn der Queen wie seine Vorgänger in der Tradition König Heinrichs VIII. nun das weltliche Oberhaupt der anglikanischen Staatskirche. Aber wie wird die Feier wohl gestaltet werden? Als Kronprinz hat Charles einmal angedeutet, dass ihm eher eine multireligiöse Amtseinführung vorschwebt, die zudem auch nicht gläubige Menschen im Blick hat. Die Windsors haben bekanntlich einen ausgeprägten Instinkt, als königliche Familie zu überleben, wozu auch eine gewisse Anpassungsfähigkeit an die Erfordernisse der Zeit gehört. Ihnen werden sicher schon jetzt die Köpfe rauchen, wie sie die Krönung feiern sollen. Die Monarchie in Großbritannien wird ja am ehesten deshalb geschätzt und befürwortet, weil sie für Überparteilichkeit und Einheit stehen kann. Es müssen also möglichst alle angesprochen werden.

Im Jahr 2022 wäre eine Krönung wie die Elizabeths auch aus rein christlicher Sicht nicht mehr so einfach zu verdauen. Religiöse Ämter unterliegen einem kritischen Argwohn und sollen, wie etwa auf dem Synodalen Weg, anders gedacht und ausgestaltet werden. Alle sind mit der Taufe gesalbt, nicht nur zu Priesterinnen und Propheten, sondern eben auch zu Königinnen – so die wachsende Einsicht. Das hat Konsequenzen, ob nun für die Organisation einer Kirche oder einer konstitutionellen Monarchie. Jemanden aus der Masse auszusondern und das mit dem christlichen Glauben zu begründen, das geht nicht mehr so ohne Weiteres.

Ein steifer Wind fegt durch Edinburghs Altstadt. Es dämmert und seit beinahe fünf Stunden stehe ich nun für den Sargbesuch an. Ich ertappe mich schon bei dem Gedanken, ob das nicht doch irgendwie seltsam ist, sich die Beine für so etwas dermaßen in den Bauch zu stehen. Jetzt unterhalte ich mich mit Marc aus Carlisle, England. Er ist mit seiner Partnerin die fast 150 Kilometer über die Grenze nach Schottland gefahren, um hier der Queen die letzte Ehre zu erweisen.

Wir sprechen über Religion. Marc vergleicht die Christen mit einem Astronauten, der im Weltall eine Reparatur erledigen muss – jedoch den Funkkontakt zur Erde verloren hat. Der Astronaut kann sich nicht auf Anweisungen der Kommandostation verlassen. Es kommt ganz auf ihn selbst an, ob er Erfolg hat oder nicht. So sei das auch mit den Gläubigen, meint er. Die müssten ohne allzu klar definierte überlieferte Sätze auskommen, ohne vermeintliche Wahrheiten. Stattdessen sollten sie mutig und echt aus sich selbst heraus den Glauben verkünden. Vieles aus der Tradition sei doch längst unverständlich geworden. Da ist sicher was dran, sage ich. Wirklich zuversichtlich ist Marc allerdings nicht. Er überlegt weiter: „Eigentlich sind wir Menschen nunmal immer noch wie Schafe, wir brauchen unsere Herde und Gestalten, zu denen wir aufschauen können.“ Deshalb ist er übrigens hier, sagt Marc, weil die Queen so jemand gewesen sei. Eine globale Ikone der Hoffnung, an der man sich orientieren konnte, an ihrer Würde und Treue.

Als ich endlich in die Kathedrale komme, geht alles ganz schnell. Man soll nicht stehen bleiben, sagen die Polizisten, weil ja noch Tausende hinter einem anstehen. Eine Dame vor mir weint, als sie am Sarg vorbeikommt. Ich verneige mich etwas unbeholfen, mache ein Kreuzzeichen. Nach zwei Minuten bin ich wieder draußen. Dafür habe ich jetzt so lange angestanden? Das hat sich gelohnt, schreibt mir ein Freund. „Das war nicht nur der Abschied von einer Frau, sondern von einer ganzen Ära.“ Nun denn, vielleicht habe ich gerade ja wirklich das Wehen des Winds der Geschichte erlebt. Ruhe in Frieden, Elizabeth.

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