Moderne SklavereiDer Alltag nach Exodus

Menschen, die gezwungen werden, in Fabriken, auf Baustellen oder in Privathäusern zu arbeiten, gelten als „moderne Sklaven“. Es gibt sie in fast allen Ländern der Welt – und ihre Anzahl ist in den letzten Jahren dramatisch gestiegen.

Ich arbeite ohne Bezahlung. Ich arbeite allein von 5 Uhr morgens bis 11 Uhr abends.“ Wer den neuesten UN-Bericht zu moderner Sklaverei liest, stößt immer wieder auf solche Schreckensgeschichten. „Sie hat gedroht, mich zu töten, wenn ich nicht arbeite“, gibt eine Fünfundzwanzigjährige zu Protokoll, die als persönliche Hausangestellte ausgebeutet wird. „Ich muss auf dem Hof schuften und darf erst eine Pause machen, wenn alles erledigt ist“, erzählt ein Landarbeiter, der mit Mitte 50 an die Grenzen seiner Kraft kommt. Die Berichte stammen aus verschiedensten Weltregionen – und zeichnen ein düsteres Bild. 50 Millionen Männer und Frauen werden unter menschenunwürdigen Bedingungen zur Arbeit oder in Zwangsehen gedrängt. In den vergangenen fünf Jahren ist diese Zahl um ganze 25 Prozent gestiegen.

Es ist gar nicht so lange her, da sah dieser Trend noch anders aus. Da schien eine Welt ohne Sklaverei, Zwangsarbeit und Menschenhandel zumindest denkbar. Doch vor allem, seit Corona weltweit zum Problem wurde, Kinder zu Waisen machte und Menschen in ganz neue Abhängigkeiten trieb, nehmen die Zahlen wieder deutlich zu. Wer alles andere verloren hat, verliert schnell auch seine Freiheit und Selbstbestimmung.

Christen denken beim Thema Sklaverei meist zuerst an die Exodus-Erzählung. An jene atemberaubende Geschichte, in der Gott aus einem Dornbusch heraus ein ganzes Volk aus der Knechtschaft führt. Eine Geschichte, in der unfassbare Kräfte der Natur entfesselt werden, Feuersäulen in den Himmel ragen und ein Meer sich teilt, nur um den Menschen ihre Freiheit zurückzugeben. Es ist eine große und großartige Erzählung, und es ist wichtig, sie immer wieder zu hören. Genauso wichtig ist es aber, den weiteren Verlauf der Bibel im Auge zu behalten. Denn mit dieser einzigartigen göttlichen Befreiungsaktion ist das System Sklaverei nicht abgeschafft. Aus heutiger Sicht ist es schwer erträglich, mit welcher Beiläufigkeit die biblischen Texte schon wenige Kapitel später über den Handel mit Menschen sprechen. Es wird zum Beispiel genau geregelt, wie jemand vorzugehen hat, der seine Kinder verkaufen will (vgl. Ex 21,7), oder welche Wiedergutmachung zu leisten ist, wenn ein Sklave totgeschlagen wurde (vgl. 21,20). Für die Autoren dieser Passagen scheint Sklaverei ein so alltägliches Konzept zu sein, dass sie gar nicht auf die Idee kommen, es in Frage zu stellen. Stattdessen werden Zwangsarbeit, Schuldknechtschaft und Leibeigenschaft in die gottgegebenen Gebote eingereiht, nach denen das Volk Israel leben soll.

Gerade deshalb ist es wichtig, dass wir bei unserer Bibellektüre nicht bei den grandiosen Bildern des Exodus stehen bleiben, sondern uns klarmachen, wie schnell Sklaverei zum alltäglichen Hintergrundrauschen werden kann. Haben auch wir uns daran gewöhnt, dass es in nahezu jedem Land der Welt Menschen gibt, die ausgebeutet werden? In Katar, wo bald die nächste Fußballweltmeisterschaft stattfinden wird. In den afrikanischen Minen, in denen die Wertstoffe geschürft werden, aus denen unser Luxus besteht. Aber auch hierzulande. Es sind oft versteckte Formen von Abhängigkeit und Ausbeutung. Und wenn einmal eine Befreiung gelingt, ist sie nie so spektakulär wie in der biblischen Erzählung. Trotzdem gilt Gottes Freiheitswort auch heute, genauso wie damals im Dornbusch. Wir müssen es nur hören.

Anzeige: In der Tiefe der Wüste. Perspektiven für Gottes Volk heute. Von Michael Gerber

Der CiG-Newsletter

Ja, ich möchte den kostenlosen CiG-Newsletter abonnieren und willige in die Verwendung meiner Kontaktdaten zum Zweck des E-Mail-Marketings durch den Verlag Herder ein. Den Newsletter oder die E-Mail-Werbung kann ich jederzeit abbestellen.
Ich bin einverstanden, dass mein personenbezogenes Nutzungsverhalten in Newsletter und E-Mail-Werbung erfasst und ausgewertet wird, um die Inhalte besser auf meine Interessen auszurichten. Über einen Link in Newsletter oder E-Mail kann ich diese Funktion jederzeit ausschalten. Weiterführende Informationen finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen.