Was meint Jesus mit Selbstverleugnung?Selbstvergessen frei

Es klingt verstörend, wenn Jesus von Selbstverleugnung und Kreuz spricht. Wie lässt sich das rechte Verhältnis von Nächstenliebe und Selbstsorge finden?

Stellen wir uns vor, ein junger Mann geht vor seiner Freundin auf die Knie und bittet: „Heirate mich, damit meine Lebenserwartung steigt!“ Sachlich hätte er damit durchaus Recht. Denn statistisch gesehen haben Menschen in Partnerschaften eine etwas höhere Lebenserwartung als Alleinstehende. Trotzdem dürfte dieser Heiratsantrag wenig Chancen haben. Und wenn es der Mann anders formulieren würde? Etwa: „Heirate mich und mach mich damit glücklich!“ Das mag sich plausibler anhören. Aber ist es deshalb weniger egoistisch? Hat der Fragende auch das Glück seiner Freundin im Blick?

Das persönliche Wohl als Ziel, möglicherweise gar auf Kosten anderer: Einer solchen Suche nach Selbstverwirklichung stellen sich nicht wenige Jesusworte entgegen. Deutlich zum Beispiel dies: „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Mt 16,24). Der Fall scheint klar: Das Evangelium verheißt nicht das persönliche Glück, nicht Selbstverwirklichung. Sondern es fordert vielmehr Selbstverleugnung, das heißt vollen Einsatz für das Reich Gottes, selbstlose Nächstenliebe, ohne für sich selbst etwas gewinnen zu wollen. Müsste sich also auch ein idealer Heiratsantrag nicht ganz und gar auf das Glück des anderen richten – ohne das Motiv, selbst glücklich werden zu wollen? Gegen eine solche Lesart des Evangeliums regt sich Protest. Der Vorwurf lautet: Das entspricht nicht der Botschaft von einem Gott, der das Leben will, sondern ist ein moralistisches, lebensfeindliches Zerrbild.

Die Fortsetzung des Zitats macht es nicht einfacher: „Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen“ (Mt 16,25). Bibel-Ausleger wie der Neutestamentler Walter Rebell haben darauf hingewiesen, dass sich dieser Satz nicht nur auf das Martyrium bezieht. Er bedeutet also nicht einfach: „Wenn ihr für mich euer Leben gebt, werdet ihr dafür das ewige Leben gewinnen.“ Nein, dieses Jesuswort wurde im frühen Christentum viel weiter und grundlegender verstanden: als eine Art Code, „eine Formel für eine neue Art zu leben“, so Walter Rebell. Aber was heißt das? Geht es möglicherweise um einen „himmlischen Tauschhandel“: Ich verleugne mich, damit ich (letztlich, am Ende) gewinne? Ich verhalte mich altruistisch, damit ich in den Himmel komme?

Es scheint mir zwei andere Möglichkeiten zu geben, um mit der Paradoxie von Verlieren und Gewinnen in diesem Text umzugehen. Zunächst wird hier eine menschliche Grunderfahrung formuliert, die durchaus nicht auf den christlichen Kontext begrenzt ist: Das allzu direkt angestrebte Glück hat die Tendenz, zu entwischen oder sich als schal zu erweisen. Anspruchsvolle Formen der Verwirklichung dessen, was und wer man im Tiefsten ist, haben nicht selten mit Entbehrungen zu tun. Das Glück mag sich gerade dann einstellen, wenn man nicht darauf fixiert ist.

Unser Evangelientext geht allerdings noch einen Schritt weiter. Denn in die Parallele vom Gewinnen und Verlieren ist ein kleines, aber entscheidendes Extra eingefügt: „um meinetwillen“. Deshalb lässt sich der Text als eine Verheißung lesen: Wenn du von deinem kleinen Glück weg- und auf mich, Jesus, hinschaust, dann wirst du keine schnellen Befriedigungen und kein bequemes Leben haben. Aber du kannst die Sorge um dich und dein Leben loslassen, denn gerade im Wegschauen von dir und im Schauen auf mich wirst du es gewinnen. Ohne die Härte des Textes beiseiteschieben zu wollen, lese ich ihn so nicht als Forderung nach moralisch überanstrengter „Selbstlosigkeit“. Ich treffe in ihm vielmehr die Herausforderung zu einer Freiheit zur „Selbstvergessenheit“.

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