Psychologie und SeelsorgeUnsere rätselhafte Trägheit

Du sollst dein Leben ändern – ich will mein Leben ändern. Was hindert mich daran? Und was hilft mir, es doch zu tun?

Anders leben – wie oft wollten wir das schon. Wir nehmen uns ständig gute Vorsätze vor, jetzt in der Fastenzeit, zu einem neuen Jahr, nach einer Krankheit… Anders leben als bisher, liebgewonnene Gewohnheiten ablegen – das ist nie nur eine Verhaltens- oder Stilfrage. Es bedeutet stets eine Wandlung im Innersten, in der gesamten leiblich-seelischen, ja auch religiösen, spirituellen Existenz.

Was aber hindert uns so oft, das zu tun? Den Wunsch in die Tat umzusetzen? Es ist die Trägheit des Herzens. Schon Paulus kennt das. Er spricht davon im siebten Kapitel des Römerbriefs (Verse 15–17): „Denn was ich bewirke, begreife ich nicht: Ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, erkenne ich an, dass das Gesetz gut ist. Dann aber bin nicht mehr ich es, der dies bewirkt, sondern die in mir wohnende Sünde.“

Die christliche Weisheits- und Lebenslehre des Mittelalters sieht in der Acedia eine Haltung der Sorglosigkeit, Nachlässigkeit und Trägheit, die sich „gegen Sorge, Mühe oder Anstrengung wendet“ und darauf „mit Abneigung, Überdruss oder Ekel“ reagiert, so der Jesuit Johannes Baptist Lotz im „Praktischen Lexikon der Spiritualität“. Der Philosoph Josef Pieper sprach in seinem Werk „Über die Hoffnung“ davon, „dass der Mensch nicht das sein will, als was Gott ihn will, und das heißt, dass er nicht sein will, was er wirklich ist“. Der geistliche Autor Heinrich Spaemann wiederum schrieb im CIG („Gott ist Feuer“, Nr. 4/1980): „Man bildet sich ein, Gott zu genügen. Man hat sich eingerichtet. Man drängt nicht mehr über sich hinaus, überschreitet sich nicht mehr auf den je neuen Anruf Gottes hin.“

Alter Mensch – neuer Mensch

Gegen diese – wie der dänische Philosoph Søren Kierkegaard sie nannte – „Verzweiflung der Schwachheit“, die oft als untergründige Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, Depression in Erscheinung tritt, richtet sich Gottes Anruf im Wort der Schrift, nicht in einem dumpfen, nichtwissenden Zustand zu verharren. Im Psalm 32 heißt es: „Ich unterweise dich und zeige dir den Weg, den du gehen sollst. Ich will dir raten, über dir wacht mein Auge. Werdet nicht wie Ross und Maultier, die ohne Verstand sind“ (8–9). Der Epheserbrief mahnt: „Achtet sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt, nicht töricht, sondern klug. Kauft die Zeit aus; denn die Tage sind böse. Darum seid nicht unverständig, sondern begreift, was der Wille des Herrn ist“ (5,15–17). Und: „Legt den alten Menschen ab, der in Verblendung und Begierde zugrunde geht, ändert euer früheres Leben und erneuert euren Geist und Sinn! Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit. Legt deshalb die Lüge ab und redet untereinander die Wahrheit“ (4,22–25a).

Doch – wie kommen wir aus der Trägheit heraus?

Schritt 1: Erkennen

Die Lebensweise, die sich in bestimmten Gewohnheiten äußert, gründet in der Mitte der Person. Diese Mitte nennt die Bibel „Herz“. Der wahre Zustand des Herzens, aus dem alles Verhalten und Handeln entspringt, ist uns aber nicht ohne weiteres zugänglich. Er bestimmt uns unbewusst. Wir neigen außerdem dazu, uns über die wahren Motive unseres Tuns zu täuschen. Diese Selbsttäuschung ist das größte Hindernis, den Lebensstil nachhaltig zu verändern.

Die Weisheitslehrer aller Zeiten haben auf die Notwendigkeit und zugleich Schwierigkeit der Selbsterkenntnis immer wieder hingewiesen. Der Mystiker und Dominikaner Johannes Tauler (1300–1361) nannte die Christen sogar „blinde Hühner“, die vor der Selbstprüfung zurückweichen, statt die eigene Gesinnung zu erforschen. Dazu gehöre, „nacht und tag studieren und ymaginieren und sich selbst visitieren und sehen, was in tribe und bewege zuo allen sinen werken“. Wir fahren mit dem Schiff unserer Sinnlichkeit „in die vinster nebele: das ist blintheit und unbekantheit des menschen in der worheit.“ Tauler geht von einer Aussage des Matthäusevangeliums aus: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ (7,16). Er mahnt, gerade bei den Frömmigkeitsübungen auf Details zu achten, da sie „einen grossen schin haben“. Es gilt, die „schalkheit“ der menschlichen Natur zu erkennen.

Was in der Sprache des Mystikers den Seelengrund wie Unkraut überwächst, bezeichnet die Tiefenpsychologie als das unbewusste Lebensskript, das unser Handeln bestimmt. Dieses Skript setzt sich aus einer Reihe von Entscheidungen zusammen, die wir in sehr frühem Alter getroffen haben, um die Liebe und Anerkennung zu erhalten, ohne die wir nicht leben konnten. Wir haben Strategien entwickelt, wie wir schmerzhaften Erfahrungen entgehen können und wie wir Aufmerksamkeit und Zuwendung erhalten. Diese Überlebenskonzepte, die jede Veränderung, mit der stets Ungemütliches, Beschwerliches, Schmerzhaftes verbunden ist, unbewusst abblocken, bestimmen auch dann noch unseren Lebensstil, wenn wir auf sie eigentlich gar nicht mehr angewiesen sind, weil wir heute andere Möglichkeiten haben, uns jenes Selbstwertgefühl zu verschaffen, das wir brauchen.

Und noch anderes hindert uns daran, Gewohnheiten aufzugeben: Wir verwöhnen uns vielfach selbst als Ausgleich für fehlende Liebe. Oder wir gehen bei Liebesentzug oder Liebesmangel selbstzerstörerisch mit uns um, zum Beispiel durch den Konsum von Suchtmitteln. Damit meinen wir, uns auf diese Weise an den Eltern oder an Gott rächen zu können, weil diese uns (angeblich) das vorenthielten, was wir brauchten: Liebe, Zuwendung, Trost, Vertrauen…

Diese Zusammenhänge zu erkennen und ehrlich zuzugeben, ist eine große Zumutung. Dagegen wehren sich die meisten. Wie aber können wir gegen allen inneren Widerstand zu dieser Erkenntnis gelangen? In religiöser, christlicher Perspektive dadurch, dass wir Vertrauen gewinnen in einen Gott, der uns immer schon angenommen hat. Dabei kann helfen, die guten Früchte anzuschauen, die am Baum des eigenen Lebens bereits gewachsen sind oder wachsen. Der Verfasser des Epheserbriefes schlägt dazu vor: „Prüft, ob etwas dem Herrn wohlgefällig ist, und habt nichts gemein mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis, bringt sie vielmehr ans Licht“ (5,10–11). Wir müssen also das Versteckspiel aufgeben, das wir mit uns selbst und vor Gott treiben (vgl. Gen 3,8); denn „alles, was ans Licht gebracht wird, wird vom Licht erhellt“(Eph 5,13). Wir erkennen dann vielleicht, welchen falschen Göttern wir geopfert haben und wie unbarmherzig und zerstörerisch wir mit uns selbst in unserer bisherigen Lebensweise umgegangen sind.

Schritt 2: Bekennen

Wir schaffen eine Änderung unseres Lebensstils nicht aus eigener Kraft. Deshalb ist der zweite Schritt, mit unseren Früchten vor Gott hinzutreten und zu bekennen, dass wir in einer Lebenslüge gefangen sind. Solches Bekennen bricht die Macht der Heimlichkeit, die wesentlich dafür sorgt, alte Verhaltensweisen beizubehalten. In der Psychotherapie gilt der Grundsatz, dass nicht geheilt werden kann, was nicht ausgesprochen ist. Kränkungen und Hassgefühle, die wir entwickelt haben, sollen wir äußern und dabei auch jene (Sucht-)Mittel und Sicherungsmaßnahmen nennen, die wir als Ersatz für Liebe und als Ausgleich für Zuwendung gebraucht, ja missbraucht haben. Laut Johannes Tauler handelt es sich in erster Linie um ein inneres und nicht um ein äußeres Bekennen, bei dem lediglich Verfehlungen aufgezählt würden, wie es oft in der Beichte geschah und immer noch geschieht. „Ich rate, ermahne und bitte euch, Gott innerlich und lauter all eure Gebrechen zu bekennen, euch vor ihm von Grund auf schuldig zu nennen, eure Fehler vor ihm innerlich mit schmerzlicher und tiefer Reue zu bedenken und nicht danach zu trachten, äußerlich lange zu beichten“ (so in dem Band von Emmanuel Jungclaussen, „Der Meister in dir. Entdeckung der inneren Welt nach Johannes Tauler“, S. 98).

Um der Selbsttäuschung zu entgehen, ist es notwendig, die eigenen Fehlhaltungen vor Gott auszubreiten und sie von ihm nehmen zu lassen. Dabei kann helfen, diese vor einem vertrauenswürdigen Menschen konkret auszusprechen, denn – so der erste Johannesbrief: „Wenn wir behaupten, wir hätten keine Sünde, dann täuschen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir unsere Sünden bekennen, dann ist er getreu und gerecht, so dass er uns die Sünden erlässt und uns von jeglicher Ungerechtigkeit reinigt“ (1,8).

Schritt 3: Loslassen

Loslassen heißt: mich Gott überlassen, wie ich bin. Das ist wahre Gelassenheit. Auch Johannes Tauler fordert dazu auf, alles Gott zu übergeben, der in Jesus diese Hindernisse auf sich genommen, den Zugang zum Himmel eröffnet hat. Wenn der Mensch alles lässt, wird der Seelengrund frei, „ledig“, wie Tauler sagt, so dass sich Gott in ihn ergießen kann. So nimmt Gott Besitz von seinem Eigentum. Der Heilige Geist selbst ist es, der den Grund frei macht und reinigt, der sich selbst die Stätte als seine Wohnung bereitet. Des Menschen Zutun besteht einzig darin, loszulassen und Gott wirken zu lassen. Das allerdings „tun nur wenige, nicht einmal die im geistlichen Stand, die doch Gott hierzu erwählt hat“, stellt Tauler fest (in Ignaz Weilner, „Johannes Taulers Bekehrungsweg. Die Erfahrungsgrundlagen seiner Mystik“, S. 180). Gott übergeben werden muss vor allem die Schuld, weil nur er sie heilen kann.

Im täglichen Danken wiederum lasse ich mir das Wesentliche meines Lebens schenken. Entsprechend ermuntert der Verfasser des Epheserbriefs seine Adressaten: „Sagt allezeit dem Gott und Vater Dank für alles im Namen unseres Herrn Jesus Christus“ (5,20). Danken ist der entscheidende „Hebel“, die alten Gewohnheiten und damit die Trägheit zu durchbrechen, wie es im Psalm 138 heißt: „Du hast mich erhört an dem Tag, als ich rief, du gabst meiner Seele große Kraft.“

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