Kindliche Entwicklung Die Vermessung der Kindheit

Wenn Kinder ständig unter Beobachtung stehen sorgt dies für unnötigen Druck

Beurteilen, registrieren, vermessen: Wo bleibt da die Leichtigkeit?
Beurteilen, registrieren, vermessen: Wo bleibt da die Leichtigkeit?© Rawpixel - iStock, kontur-vid - Fotolia

Maximilian ist ein leidenschaftlicher Fußballer. Immer, wenn er mit seinen Freunden im Garten der Kita spielt, werden Bälle gekickt. Stundenlang kann er rennen, passen und schießen. Drinnen im Gruppenraum sieht die Sache anders aus. Still auf einem Stuhl zu sitzen fällt dem Fünfjährigen schwer, Basteln langweilt ihn, mit der Schere steht er auf Kriegsfuß. Als er neulich ein Bild von seiner Familie malen sollte, brachte er widerwillig ein paar krakelige Kopffüßler zustande. Bei der Schuleingangsuntersuchung ist jetzt zum ersten Mal das Wort „Ergotherapie“ gefallen. Seine Eltern sind darüber heillos erschrocken. Ist Max nicht ganz normal?

Der Blick auf Kinder hat sich in den letzten Jahren massiv verändert. Nie zuvor sind sie in ihren ersten sechs Lebensjahren so intensiv beobachtet und engmaschig untersucht worden. Ärzte, pädagogische Fachkräfte, Kinderschutzexperten – sie alle schauen genau hin, wie es den Kleinen geht. Bei den U-Untersuchungen wird die geistige, körperliche und motorische Entwicklung beurteilt, in der Kita finden Sprachstandserhebungen statt, in Entwicklungsgesprächen werden Eltern regelmäßig über die Fortschritte des Nachwuchses informiert. Das alles soll dazu führen, dass Kinder mit Auffälligkeiten früher entdeckt und gefördert werden. Doch funktioniert das so, wie es von der Politik gewollt ist? Oder hat die Vermessung möglicherweise ebenso viele negative wie positive Auswirkungen?

Dokumentation ist üblich

Die gesellschaftlichen Erwartungen an Kitas sind jedenfalls deutlich gestiegen. Maria Lingens ist Referentin für Kinder und Familie beim Arbeiterwohlfahrt Landesverband Berlin e. V.; die AWO betreibt insgesamt 45 Kindertages stätten in der Hauptstadt. „Der Erzieher beruf hat sich seit der Jahrtausendwende stark gewandelt“, sagt sie. Die Fachkräfte würden mittlerweile als eine Art Lernbegleitung des Kindes gesehen. Bei ihnen sollen die Kinder Deutsch lernen. Auch kognitive, soziale, emotionale und feinmotorische Fähigkeiten sollen die PädagogInnen auf vielfältige Weise fördern. Leitidee: Jedes Kind soll die Aufmerksamkeit und Unterstützung bekommen, die es braucht. Die AWOKitas nutzen dabei Beobachtungsinstrumente, „die die Stärken und Interessen des Kindes in den Mittelpunkt stellen“, erklärt Lingens.

Dass Kitas die kindliche Entwicklung dokumentieren, ist längst deutschlandweit üblich. Ein ganzes Bündel von Beobachtungsverfahren und frühdiagnostischen Maßnahmen, die nach Einrichtung und Bundesland stark variieren, soll sicherstellen, dass kein Kind durchs Raster fällt. Das ist eine neue, anspruchsvolle Aufgabe für die Fachkräfte. Der die meisten, wie Lingens betont, mit großem Verantwortungsbewusstsein nachkommen. „Entwicklungsverzögerungen oder gar Behinderungen können so tatsächlich oft schneller erkannt werden.“

Eltern werden nervös

Nur bleibt es nicht bei diesem selektiven Warnsystem, von dem die Kinder profitieren, die wirklich professionelle Hilfe nötig haben. Denn auch die große Mehrheit, die sich im „Korridor der Normalität“ befindet, steht unter Dauerbeobachtung. Nicht selten geht diese sogar von den Eltern aus. Sie schauen nach rechts und links, vergleichen ihr Kind mit anderen – und befürchten ständig, der eigene Nachwuchs könnte in einem Bereich schlechter als die Altersgenossen abschneiden. Oder schlimmer: den Anforderungen nicht genügen. Durchfallen. „Je näher der Schulbeginn rückt, desto nervöser werden die Eltern“, bestätigt Maria Lingens.

Dabei haben sich die Maßstäbe objektiv gar nicht verändert. „Ohnehin gilt in der Entwicklungspsychologie und in der Kindermedizin die Devise: Nichts ist konstanter in der Kindheit als die Variabilität“, erklärt Sabine Bollig, Professorin für Sozialpädagogik an der Universität Trier. Pädagogen und Mediziner wissen: Jedes Kind ist anders, jedes hat sein eigenes Tempo. Der eine läuft schneller, die andere spricht früher. Die Anzahl der Kinder mit handfesten frühkindlichen Störungen ist nicht gestiegen. „Was allerdings zugenommen hat, sind Fälle im unklaren Bereich, die sogenannten ‚Entwicklungsaufälligkeiten‘“, sagt Bollig. Wie kommt das?

Ständig testet irgendwer

Aus Sicht der Kindheitsforscherin ist „die ständige Beobachtung nach vielfältigen, oftmals unklaren und sich auch widersprechenden Kriterien“ die Wurzel des Übels. Eltern hätten permanent die Befürchtung, dass ihr Kind aus dem Normalitätskorridor herausfallen könnte. Der Fachbegriff dazu lautet Denormalisierungsängste. Die seien meist unbegründet, aber dennoch aus den Köpfen nicht wegzukriegen. Sabine Bollig führt das vor allem auf den Vermessungsboom zurück. „Es gibt immer mehr Vorsorge untersuchungen. Auch im Zuge der Schuleingangsphase, die heute teilweise schon mit vier Jahren beginnt, wird das Kind ständig von irgendjemandem getestet.“ Das Feld habe sich in den letzten Jahren enorm dynamisiert. „Eine ungebremste Ausstreuung von entwicklungsdiagnostischen Verfahren hat stattgefunden.“ Alle schauen, alle prüfen.

Eltern werden in ein beobachtendes Verhältnis zu ihren Kindern gedrängt - und das mit diffusen Normen

Und irgendwas findet sich eben doch immer. Längst hat sich nämlich der Fokus verschoben. Statt nach messbaren Abweichungen von der Norm werde nach „Anzeichen für mögliche Abweichungen“ gesucht, sagt Bollig. „Ein fünfjähriges Kind durchläuft heute bis zu sieben Überprüfungen innerhalb eines Jahres.“ Zwar lautet das häufigste Ergebnis: alles im grünen Bereich, alles ganz normal entwickelt. Doch oft folgt in den Auswertungsgesprächen ein kleines Aber. Den Eltern wird nahegelegt, hier und da genauer hinzuschauen. Man könne vielleicht dieses oder jenes noch ein wenig fördern, heißt es dann vage. „Was bei den Eltern nach solchen Tests hängen bleibt, ist nicht, dass ihr Kind normal entwickelt ist. Sondern, dass sie weiterhin die Augen offen halten müssen“, sagt Bollig. Die Professorin sieht diese Entwicklung kritisch. „Wir richten Mütter und Väter auf diese Weise in ein beobachtendes Verhältnis zu ihren Kindern aus – und das mit diffusen Normen.“

Therapie muss nicht immer sein

In der Kinderarztpraxis von Hermann Josef Kahl in Düsseldorf sitzen oft verunsicherte Eltern. „Viele fragen sich, ob ihre Kinder wirklich normal entwickelt sind“, sagt Kahl, der auch Presse sprecher des Berufsverbandes der Kinderund Jugendärzte ist. Manchmal hat die Kita die Eltern geschickt, manchmal haben sie sich im Internet informiert oder wurden durch Bemerkungen von Bekannten aufgeschreckt. „Wir Kinder und Jugendärzte sind dann häufig in der Position, dass wir die Eltern eher beruhigen müssen.“ Die medizinischen Normen und Richtwerte helfen dabei, betont Kahl. Die Ärzte können den Eltern so klarmachen, dass individuelle Abweichungen extrem hoch sein können. „Das gilt besonders für die Sprachentwicklung.“ Dass die Eltern überhaupt so nervös sind, führt Kahl auf die gestiegenen Erwartungen an die Bildungskarrieren der Kinder zurück. „Seit möglichst alle Kinder aufs Gymnasium gehen und Abitur machen sollen, nimmt der Druck zu.“ Die Weichen für eine Gymnasial empfehlung werden schon in den ersten Grundschuljahren gestellt. „Deshalb entsteht bei vielen Eltern bereits im Kindergarten Panik, wenn das Kind in einem Bereich vermeintlich nicht altersgemäß entwickelt ist.“

Josef Kahl schickt trotzdem nur die wenigsten Kinder zur Ergotherapie oder zum Logopäden. Obwohl die Eltern manchmal ausdrücklich darum bitten. „Das ist eine richtige Seuche geworden“, klagt er. „Diese Therapieformen sind aufgrund der elterlichen und gesellschaftlichen Beunruhigung explodiert.“ Es sei schwer, als Arzt gegen zusteuern. „Dabei sind in unseren Augen viele dieser Therapien für viele Kinder überflüssig.“

Auch für Max’ Eltern kam, nach einigen Überlegungen und Diskussionen, eine Ergotherapie aufgrund eines vagen Verdachts nicht in Frage. Sie ließen das Thema auf sich beruhen und gönnten ihrem Sohn seine Fußballbegeisterung und die letzten, ausgelassenen Monate im Kindergarten. In der ersten Klasse fiel er dann trotzdem auf. Aber nicht, weil er mit seinen Stiften nicht klarkam. Sondern, weil er schon nach kurzer Zeit flüssig lesen konnte.

kizz Interview

Möglichst nah an der Mittellinie

Die permanente Vermessung von Kindern erzeugt Stress bei den Eltern – und schadet vielleicht mehr, als sie hilft. Ein Gespräch mit Helga Kelle, Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Bielefeld.

Seit wann wird die Entwicklung der Kinder vermessen und statistisch erfasst?

Seit Ende des 19. Jahrhunderts, als sich die humanwissenschaftlichen Disziplinen ausdifferenzierten, werden Kinder im großen Stil vermessen. In dieser Zeit entwickelten sich auch die Kindermedizin und die Entwicklungspsychologie. Man wollte mehr über die gesamte Bevölkerung wissen und hat begonnen, Reihenuntersuchungen durchzuführen.

Vielen Eltern begegnet die Vermessung zum ersten Mal in den Vorsorgeheften der Kinderärzte. Da werden Kreuzchen in Kurven eingetragen.

Die Kurven stellen eine grafische Repräsentation von Durchschnittswerten und Schwellennormen dar, an denen man zum Beispiel sieht, ob ein Kind eindeutig zu schwer oder zu leicht ist im Verhältnis zu den Altersgleichen. Wir konnten in unseren Beobachtungen feststellen, dass es den Eltern meist wichtig ist, dass die Werte ihrer Kinder möglichst nah an der Mittellinie liegen. Der sogenannte Korridor der Normalität umfasst aber rund 95 Prozent der Kinder. Der Mittelwert stellt keine Ideallinie dar, das ist schon das erste große Missverständnis.

Nicht nur bei kinderärztlichen Untersuchungen werden kleine Kinder heute unter die Lupe genommen, auch sonst wird dauernd getestet und dokumentiert.

Die präventiven entwicklungsdiagnostischen Untersuchungen haben deutlich zugenommen. Das hat zum einen mit neuen Kinderschutzgesetzen zu tun. In der ganz frühen Kindheit gucken nun nicht nur die Kinderärzte auf die Kinder, sondern auch Fachkräfte für Kinderschutz. Zum anderen erleben wir eine zeitliche Entgrenzung der Einschulungsphase. Früher wurden Kinder kurz vor Schul beginn vom Schularzt untersucht. Heute fangen in einigen Bundesländern, unter anderem in Hessen und Baden-Württemberg, die Einschulungsverfahren in den Grundschulen im Alter von gut vier Jahren an. Es ist also zu einer deutlichen Vorverlagerung gekommen.

Woran liegt das?

Nach dem PISA-Schock im Jahr 2000, als deutsche Schüler ziemlich schlecht abgeschnitten hatten, hat man beschlossen, verstärkt in die frühe Kindheit zu investieren. Deshalb werden Kinder schon in der Kita auf Kompetenzen hin beobachtet – nach dem Motto: Was können die schon alles? Das politische Argument lautet: Wenn die Kinder in die Schule kommen, ist es für Förderung schon wieder zu spät. Deshalb wird jetzt auch der Kindergarten als Bildungs einrichtung verstanden.

Durch die enge Taktung der Über prüfungen werden Eltern permanent mit den Unzulänglichkeiten ihrer Kinder konfrontiert. Steigt damit die Verunsicherung?

Eltern sind heute ständig mit solchen Aussagen konfrontiert. Und in den Ergebnissen der Experten stecken immer Handlungsaufforderungen. In der Wissen schaft nennen wir das „Responsibilisierung der Eltern“. Gemeint ist, dass die Eltern fortlaufend verantwortlich gemacht werden für die Förderung ihrer Kinder. Der starke Ausbau der Diagnostik und der Beobachtungsverfahren führt nicht unbedingt dazu, dass es entsprechende staatliche Förderangebote gibt. Statt dessen spielt man den Ball häufig zurück an die Eltern.

Und die wissen nicht, was zu tun ist?

Es gibt in der Forschung Hinweise, dass durch diese Verfahren eher die bildungsorientierten Eltern profitieren. Die werden dadurch angestachelt, die Entwicklung ihrer Kinder weiter zu optimieren. Eltern, die ohnehin soziale Nachteile haben, versuchen sich eher gegen Expertenempfehlungen zu immunisieren. Weil sie der Meinung sind, dass sie es sowieso nicht schaffen, ihre Kinder nach diesen hohen Maßstäben zu fördern. Die Schere geht also weiter auseinander. Und die ungleichen Startchancen verschwinden nicht – obwohl es politisch nach PISA genau darum gehen sollte.

Wenn Eltern übers Optimieren nachdenken, ist dann der neoliberale Leistungsdruck endgültig in die Kindheit eingesickert?

Wie gesagt entwickeln sich 95 Prozent der Kinder in vielen Bereichen völlig normal. Trotzdem hat die ganze Vermessung auf alle Kinder und Eltern Auswirkungen, denn irgendetwas zu verbessern gibt es immer. Das ist die Dynamik, die die präventiven Entwicklungsbeobachtungen entwickeln. Da bekommen die Eltern dann zu hören, dass eigentlich alles normal sei, aber man die Feinmotorik noch ein bisschen fördern könnte.

Wie könnte man den Druck herausnehmen?

Wir sollten Eltern und alle professionellen Beobachter von Kindern sensibilisieren, damit sie reflektierter mit dem Thema umgehen können und den Optimierungsdruck nicht noch selbst verstärken. Natürlich machen Vorsorgeuntersuchungen Sinn, und es ist keine Alternative, sie abzuschaffen. Aber Eltern sollten sich gegen die normalisierenden und disziplinierenden Effekte wappnen und entspannter mit leichten Abweichungen umgehen.

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