Bika-Studie untersucht Beteiligung von Kindern im Kita-AlltagSelbst entscheiden, wie viel sie essen möchten

Welche Möglichkeiten haben jüngere Kinder mitzubestimmen? Das untersuchte eine Studie. Kinderrechtlerin Bianka Pergande über kritische Momente im Kita-Alltag.

Selbst entscheiden, wie viel sie essen möchten
© Oksana Kuzmina

Frau Pergande, was hat Sie bei den Beobachtungen am meisten überrascht?
Zwischen den Krippen gibt es teilweise große qualitative Unterschiede. Es deutet vieles darauf hin, dass die Förderung von Selbst-, Mitbestimmung und Selbstständigkeitserziehung in ost- und westdeutschen Kitas nach wie vor sehr unterschiedlich ist. Zwei Beispiele zur Essenssituation: Während in 40 Prozent der ostdeutschen Kitas die Kinder den Tisch mit decken, ist dies nur in jeder vierten westdeutschen Kita so. Dagegen gibt es in 97 Prozent der westdeutschen Kitas für alle Kinder während des gesamten Essens auch etwas zu trinken, jedoch nur in zwei von drei ostdeutschen Kitas.
Ein weiterer überraschender Befund ist, dass sich die biografischen Partizipationserfahrungen der pädagogischen Fachkräfte aus ihrer eigenen Kindheit deutlich auf ihre aktuelle Haltung zu Partizipation auswirken. Sehen Fachkräfte das Thema Partizipation eher skeptisch, wirkt sich dies auch auf ihr Verhalten aus: Die Essenssituationen gestalten sie entsprechend weniger partizipativ.

Spielt es dabei eine Rolle, wie viele Kinder eine Fachkraft zu betreuen hat?
Zum Teil ja: Je weniger Kinder eine Fachkraft zu betreuen hat, desto häufiger greifen die Fachkräfte den aktuellen Aufmerksamkeitsfokus der Kinder verbal auf und gehen selbst sprachlich mehr auf den Fokus der Kinder ein. Sie geben ihnen mehr Zeit, um auf sprachliche Anregungen und Fragen zu reagieren. Jedoch ist der Fachkraft-Kind-Schlüssel nicht relevant dafür, ob die Fachkräfte den Kindern insgesamt mehr oder weniger Möglichkeiten zur Beteiligung einräumen. Auch ob sie selbst ein stärkeres partizipationshemmendes Verhalten zeigen oder nicht, ist unabhängig vom Personalschlüssel.

In welchen Situationen können Kinder mitbestimmen?
In den Freispielsituationen erleben Kinder die meisten Partizipationsmöglichkeiten. So können in etwa drei von vier Kitas die Kinder entscheiden, wo sie spielen. Sie erleben die Fachkräfte als zugewandt und setzen ihr eigenes Spielskript, also Inhalt und Ablauf ihres Spiels, selbstbestimmt um. Hier erleben sie, dass Aushandlungsprozesse stattfinden. Allgemein lässt sich sagen: Je weniger strukturiert eine Schlüsselsituation in der Krippe ist, desto häufiger haben die Kinder eine Wahl – etwa, wo sie sitzen, mit wem sie in Kontakt sind und wie sie (inter-)agieren.

Welche Kita-Abläufe sind besonders reguliert?
Das (Mittag-)Essen ist in Kitas eine besonders hoch strukturierte Situation. Nur in jeder dritten Kita wählen alle Kinder beim Essen ihren Sitzplatz frei aus. In etwa jeder vierten Kita haben alle Kinder die Wahl, was auf ihren Teller kommt und ob sie etwas kosten wollen oder nicht. In knapp jeder zweiten Essenssituation können nicht alle Kinder selbst entscheiden, wie viel sie essen oder trinken möchten. In ebenso vielen Kitas ist zu beobachten, dass Kinder, die in der Lage sind, Besteck zu handhaben, zumindest zeitweise ungefragt gefüttert werden.

Wie können Fachkräfte konkret für mehr Selbstbestimmung während des Essens sorgen?
Am besten setzen sie sich gemeinsam mit den Kindern an den Tisch und essen nach Möglichkeit dasselbe wie die Kinder. Es ist eine schöne Gelegenheit, um Tischgespräche anzuregen, die über die reine Essensorganisation hinausgehen. Gut ist es, den Kindern die Sicherheit zu geben, dass sie eine Wahl haben: etwa wo und neben wem sie sitzen wollen, welche Bestandteile des Essens sie kosten und welche Menge sie trinken oder essen wollen. Sie sollten Geschirr, Besteck und Lätzchen aussuchen und beim Tischspruch oder den Liedern mitentscheiden können. Kinder wollen die Essensbestandteile gern sehen und riechen können, bevor sie kosten. Auch sehr junge Kinder können – bei Bedarf natürlich mit Assistenz – Essen auf den Teller füllen. Kein Kind sollte aufessen oder austrinken müssen.

Partizipationsstudie

Ziel der Studie zur Beteiligung von Kindern im Kita-Alltag (BiKA) war die Untersuchung der Partizipationsqualität in der Krippe.
Zeitraum: 2018–2020
Alter der Kinder: 1,5 bis 2,5 Jahre
Vorgehen: An 89 Kitas in 13 Bundesländern wurde mithilfe von Videobeobachtung, Interviews und Fragebogen untersucht, wie das Kinderrecht auf Beteiligung umgesetzt wird. Der Fokus lag auf den Schlüsselsituationen Essen, Buchbetrachtung und Spielen.
Leitung: Frauke Hildebrandt (FH Potsdam), Catherine Walter-Laager (Universität Graz/Päd-QUIS gGmbH).
Ergebnisse unter: https://www.fruehe-chancen.de/

Gibt es bei der Ausstattung etwas zu beachten?
Damit die Kinder besser Inhalt und Füllhöhe des Servierten erkennen können, sind kleine durchsichtige Schüsseln, Becher und Kannen auf dem Tisch empfehlenswert. Kleine Servierkellen können auch junge Kinder handhaben. Alle Möbel und Hilfsmittel, die die Bewegungsfreiheit von Kindern einschränken, wie etwa Gitterbetten, Hochstühle oder Stuhlbretter, sollten ersetzt werden. So können Kinder sich selbst hinsetzen oder -legen und aus eigener Kraft auch wieder aufstehen.

Worauf sollten Fachkräfte besonderes Augenmerk legen?
Gerade bei sehr jungen Kindern klaffen das Bedürfnis nach Autonomie und ihre tatsächliche Selbstständigkeit auseinander, was einerseits für Entwicklung, andererseits für Frust sorgt. Wenn Erwachsene die Kinder in ihren Handlungsabsichten unterstützen möchten, neigen manche dazu, sich bei solchen Assistenzhandlungen teilweise grenzverletzend zu verhalten.
Unsere Studie zeigt, dass gerade die Assistenzhandlungen von pädagogischen Fachkräften sehr häufig nicht partizipativ sind. Und zwar immer dann, wenn sie ungefragt erfolgen, wenn dabei die Handlung des Kindes unterbrochen oder gleich ganz anstelle des Kindes ausgeführt wird. Es kommt auch vor, dass die Assistenz sogar mit einem grenzüberschreitenden Körperkontakt oder Kommentar einhergeht.

Was sind dies für Assistenzhandlungen?
Dazu gehört unter anderem, ein Kind ungefragt hochzuheben, auf einen Stuhl zu setzen, den Stuhl an den Tisch zu schieben, die Ärmel hochzuschieben, Gegenstände zurechtzurücken oder Gesicht und Hände zu säubern. Das sind immer auch Handlungen, die mit unmittelbarer Nähe oder sogar direktem Körperkontakt einhergehen. Gerade von solchen Situationen sollte kein Kind überrascht werden.

Wie können Fachkräfte hier sensibler reagieren?
Damit Assistenzhandlungen wirklich eine Hilfe darstellen und das Kind in seinem Bedürfnis nach Selbstbestimmung gestärkt wird, sollte das Kind immer zuvor gefragt werden und auch ablehnen dürfen. Häufig reicht es schon, dem Kind sprachlich zu assistieren. Fachkräfte können etwa Lösungsvorschläge formulieren, anstatt nonverbal direkt mit Händen „einzugreifen“.

Die Fragen stellte Barbara Brengartner, Redaktion kindergarten heute.

Reflexionsfragen fürs Team

Biografische Reflexionsarbeit kann dabei helfen, sich der eigenen Haltung zur Partizipation bewusst zu werden. Im Team lassen sich verdeckte Handlungsmotive herausarbeiten, um das pädagogische Selbstverständnis weiter zu professionalisieren.

1) Schlüsselsituationen analysieren
Worüber können die Kinder bei den sie selbst betretenden „ureigensten“ Angelegenheiten mitbestimmen?
Dürfen sie selbst entscheiden,

  • wo, mit wem und was sie spielen,
  • wie sie die Spiel- und Bildungsmaterialien verwenden,
  • wer sie wickelt,
  • wann und was sie essen,
  • wann, wo und wie lange sie schlafen,
  • wer sie tröstet?

2) Assistenzhandlungen überprüfen

  • Wie gestalten wir Situationen, in denen Kinder Assistenz benötigen?
  • An welchen Signalen erkennen wir Assistenzbedarf?
  • Wird jedes Kind immer zuerst gefragt, bevor wir assistieren?
  • Was tun wir sprachlich und nichtsprachlich, damit das Kind seine Handlungsabsicht umsetzen kann?

3) Umgang mit Beschwerden

  • Woran erkennen wir, dass ein Kind sich beschwert, insbesondere im Krippenbereich?
  • Wie reagieren wir auf Äußerungen von Beschwerden?

4) Umgang mit kritischen Situationen

  • Was haben wir im Team im Falle von herausfordernden pädagogischen Situationen zur Vorbeugung, Unterstützung und Intervention vereinbart?
  • Wie gehen wir mit Konflikten zwischen Kindern um?
  • Was tun wir, wenn wir Fehlverhalten oder Grenzüberschreitungen durch Kolleg*innen gegenüber Kindern beobachten?

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