Bedürfnisorientierte Pädagogik in der KitaIch sehe dich, ich schätze dich

Nele will kuscheln, Paul möchte über sein Bild sprechen und Emre braucht eine frische Windel. Wie es Fachkräften gelingen kann, den Bedürfnissen einer Kindergruppe gerecht zu werden, ohne sich selbst dabei zu überfordern.

Ich sehe dich, ich schätze dich
© FatCamera - GettyImages

Der Begriff der Bedürfnisorientierung ist seit einiger Zeit in aller Munde. Durch Blogger*innen und Autor*innen ist er vor allem in Familien schon lange angekommen. Viele Eltern wissen, dass Kinder auch ohne Manipulation, Strafen und Gewalt auf Augenhöhe und in Achtsamkeit und Gleichwürdigkeit aufwachsen können. Wir meinen: Es geht auch in pädagogischen Einrichtungen – in Krippe, Kita, Tagespflege und Schule. Immer wieder begegnet uns das Vorurteil, dass Kinder, die bedürfnisorientiert aufwachsen, immer alles bekommen, was sie möchten, und zu kleinen Egoist*innen heranwachsen. Dabei stützt sich die bedürfnisorientierte Kinderbetreuung auf Werte wie Gleichwürdigkeit, Verbindung, Selbstbestimmung, Mitbestimmung, Dialog, Respekt, Mitgefühl, Integrität, Authentizität und Verantwortung. Die Kinder erfahren im Miteinander und durch die Vorbildrolle der Fachkraft, dass jedes Kind gesehen wird. Wir verstehen die bedürfnisorientierte Pädagogik deshalb weniger als zusätzliches Konzept, sondern vielmehr als eine Haltung, die sowohl vom Team als auch von einzelnen Fachkräften gelebt werden kann. Es geht vorrangig um den Blick auf das Sein. Jeder Mensch, unabhängig vom Alter, ist Teil der Gemeinschaft und möchte entsprechend gesehen und wertgeschätzt werden. Jedes Individuum möchte sich mit seinen Gefühlen, Bedürfnissen, Grenzen und Interessen in die Gruppe einbringen und sie bereichern. Statt nur darauf zu schauen, was sein muss, können Fachkräfte den Blick darauf richten, was sein darf. Kinder erleben sich in Beziehungen, in denen sie inspiriert lernen und wachsen. Statt der Bildung möchten wir also die Beziehung in den Vordergrund stellen. Jeder und jede – egal ob pädagogische Fachkraft, Kind, Elternteil – ist Teil der Lerngemeinschaft.

Neue Impulse für die pädagogische Arbeit

Die Bedürfnisorientierung greift auf fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse in Bezug auf die Bindung, das Lernen und unter anderem die Entwicklungspsychologie zurück und räumt jedem Menschen das Recht ein, sich mit all seinen Gefühlen, Bedürfnissen und Grenzen zu zeigen. Lange Zeit sollten Kinder funktionieren und lernen, sich unterzuordnen. Doch wenn Menschen gesehen und ernst genommen werden, lernen sie ganz von selbst, für sich einzustehen und sich gleichzeitig empathisch und respektvoll in der Gruppe zurechtzufinden. Das alles geht ohne Druck und Strafen, sondern aus einer Haltung heraus, die sich durch Interesse am Gegenüber auszeichnet und durch Vertrauen und Wertschätzung geprägt ist. Mit der Bedürfnisorientierung beleuchten wir alle Bereiche, die Kinder in ihrer Entwicklung durchlaufen. Wir schauen, wie Kinder in Beziehung lernen, Konflikte und starke Gefühle leben und gewaltfrei aufwachsen können. Hierbei sind die Bedürfnisse der Fachkraft ebenso wichtig, denn nur wenn sie auf sich achtgibt und Biografiearbeit leistet, wird sie in Wohlbefinden die Bedürfnisse der Kinder wahrnehmen und stillen können.

Zu viele Bedürfnisse, zu wenig Zeit?

In Familien sind es die Bedürfnisse weniger Menschen, die in Balance gebracht werden müssen. In Kitas hingegen interagieren große Gruppen von Kindern mit wenigen erwachsenen Bezugspersonen. Die Herausforderung liegt hier darin, die vielen Interessen und Gefühle gegenüberzustellen und auszuhandeln. Wir unterscheiden zwischen dem Singlebedürfnis (das Bedürfnis eines Kindes), dem Duobedürfnis (zweier Kinder), dem Gruppenbedürfnis (der Gruppe) und dem Fachkraftbedürfnis. Am herausforderndsten sind die Gruppenbedürfnisse. Hier haben mehrere Kinder in der Gruppe unterschiedliche Bedürfnisse, die nach Erfüllung rufen. Diese Situation tritt in der Praxis am häufigsten auf, da die Rahmenbedingungen eine 1:1-Begleitung der Kinder gar nicht zulassen. Es geht an dieser Stelle nicht vorrangig um die Erfüllung aller Bedürfnisse. Zunächst einmal geht es darum, die Bedürfnisse der Beteiligten zu benennen und nach Priorisierung anzugehen. Wenn es nicht gelingt, alle Bedürfnisse zu erkennen und zu beantworten, bitten wir um ein großes Durchatmen. Klopfen Sie sich selbst auf die Schulter und erkennen Sie Ihre Leistung an. Ein liebevoller Satz zu sich selbst wirkt Wunder, zum Beispiel: „Ich gebe gerade alles, was ich kann!“ So können Sie zu Emil sagen: „Ich sehe, dass du gerade meine Nähe brauchst und kuscheln möchtest. Ich wickle jetzt Lisa und anschließend setze ich mich zu dir!“ Wenn Kinder erfahren, dass sie gesehen werden, werden sie selbst hilfsbereiter, einfühlsamer und lernen schrittweise, die eigenen Belange – je nach Alter und Bedürfnis – aufzuschieben. Der Personalmangel bleibt ein belastender Faktor in den pädagogischen Einrichtungen. Die meisten Einrichtungen sind weit vom empfohlenen Schlüssel entfernt. Besonders in stressigen Situationen, wie beispielsweise beim Anziehen in der Garderobe, spüren Fachkräfte häufig Überforderung. Wichtig ist es hier, Ruhe zu bewahren und einen Schritt nach dem anderen zu gehen. Der Stresspegel sollte achtsam im Blick behalten werden, um das eigene Bedürfnis nach Ruhe, Entspannung, Wertschätzung oder Unterstützung zu benennen und zu priorisieren. Es ist wichtig, sich rechtzeitig Hilfe von Kolleg* innen zu holen, und wenn das nicht geht, die eigenen Angebote und Erwartungen herunterzuschrauben und an die Situation anzupassen. Vielleicht können die Fingermalfarben heute im Schrank bleiben oder der geplante Ausflug verschoben werden. Stress ist ein großer Feind, der es erschwert, sich feinfühlig und achtsam auf die Kinder einzustellen. An dieser Stelle ist häufig weniger mehr und die Kinder profitieren von der Präsenz der Fachkraft, die den Tagesablauf und die Angebote an die Situation anpasst.

Erste Schritte zur Umsetzung

Sie sollten sich bewusst sein, dass der Schritt zur Bedürfnisorientierung nicht von heute auf morgen gelingt. Es sind Prozesse, die das Team gemeinsam erfahren darf. Es geht darum, sich über ein gemeinsames Bild vom Kind zu verständigen. Erarbeiten Sie zunächst die Bedürfnisse, Gefühle und Grenzen der Beteiligten – dies sind die drei Grundpfeiler der Bedürfnisorientierung. Wichtig ist auch immer, den Blick zurück zu wagen und sich mit der Betreuungsbiografie auseinanderzusetzen, um sich der eigenen schwarzen Flecken und Glaubenssätze bewusst zu werden. Ein weiterer zentraler Punkt ist die Gewaltfreiheit (Erstellung eines Schutzkonzeptes, Ethik der pädagogischen Beziehungen). Natürlich ist es hilfreich, das entwicklungspsychologische Wissen über die kindliche Entwicklung regelmäßig aufzufrischen, um das Verhalten der Kinder korrekt einordnen zu können. Um Einrichtungen auf dieser Reise zu unterstützen, begleiten wir Teams in Online-Webinaren oder Fortbildungen auf ihrem Weg und senden Impulse. Hierfür haben wir die BO-Akademie gegründet, die sich zum Ziel gemacht hat, Einrichtungen mehr Handlungssicherheit zu vermitteln. Unser Fortbildungsangebot wächst Schritt für Schritt. Auch möchten wir an unsere Podcasts erinnern, die Fachkräfte auf ihrem Weg begleiten können. Schauen Sie gern überall, wo es Podcasts gibt, nach „Der Kitapodcast“ von Lea Wedewardt, „Kindheiterleben“ von Kathrin Hohmann oder auch beim Niedersächsischen Institut für frühe Bildung (nifbe) „Auf die ersten Jahre kommt es an!“. Auch wenn es nicht immer einfach ist – es lohnt sich, die Bedürfnisse der Kinder in den Mittelpunkt zu stellen. In unserer Arbeit erleben wir Einrichtungen, in denen Wohlbefinden, Selbstwirksamkeit und Respekt mit Leben gefüllt werden. Orte, an denen Konflikte nicht gescheut, sondern als Motor der Entwicklung betrachtet werden. Wir sehen Kinder aufwachsen, die ihre Wurzeln (Bindung) spüren und gleichzeitig ihre Flügel ausbreiten, erste Flugversuche unternehmen und ihre Autonomie ausleben dürfen. Wir erleben Einrichtungen, in denen das „Nein“ eines Kindes respektiert und geachtet wird. Die Kinder erleben sich als Teil der Gemeinschaft und gehen gern in die Kita.

Bedürfnisorientiert

heißt…

  • sich ganz auf die Bedürfnisse der Kinder (Eltern) einzustellen,
  • die Grenzen der Kinder (Eltern) zu wahren,
  • die Bedürfnisse der Kinder (Eltern) ernst zu nehmen,
  • Kinder (Eltern) in Entscheidungen mit einzubeziehen,
  • feinfühlig „Beschwerden“ von Kindern (Eltern) wahrzunehmen,
  • Vertrauen aufzubauen.

heißt NICHT…

  • Kindern (Eltern) alle Wünsche zu erfüllen,
  • Kindern (Eltern) alle Wünsche sofort zu erfüllen,
  • Kindern (Eltern) alle Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen,
  • Konflikte zu umgehen,
  • Kindern (Eltern) jeglichen Ärger und Frust zu ersparen,
  • eigene Bedürfnisse als Fachkraft zu übergehen,
  • eigene Bedürfnisse als Fachkraft zu leugnen,
  • eigene Bedürfnisse als Fachkraft zu verdrängen,
  • eigene Grenzen als Fachkraft zu übergehen,
  • nie Nein zu sagen.

bedeutet VIELMEHR…

  • auch Nein zu sagen!
  • Bedürfnisse von Kindern (Eltern) UND Fachkräften wahrzunehmen,
  • Grenzen von Kindern (Eltern) UND Fachkräften wahrzunehmen,
  • Bedürfnisse von Kindern (Eltern) UND Fachkräften ernst zu nehmen,
  • Grenzen von Kindern (Eltern) UND Fachkräften ernst zu nehmen,
  • Bedürfnisse von Kindern (Eltern) UND Fachkräften zu verbalisieren,
  • Grenzen von Kindern (Eltern) UND Fachkräften zu verbalisieren.
  • Kompromisse zwischen den verschiedenen Bedürfnissen ALLER (Kinder, Eltern und Fachkräfte) zu finden und in Verbindung zu sein.
  • Empathie für die eigenen und die Bedürfnisse anderer zu entwickeln.
  • Aus einer „erlernten Hilflosigkeit“ in die Verantwortung zu kommen.

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