Gewalt durch pädagogische Fachkräfte – ein TabuthemaBeschämen, festhalten, anschreien …

Was nicht sein darf, kann nicht sein? Übergriffiges Verhalten findet in (fast) jeder Kita statt, so der Kinderrechtler Jörg Maywald. In seinem aktuellen Buch nimmt er sich des Themas an und zeigt Wege zu einem verantwortungsvollen Umgang auf.

Beschämen, festhalten, anschreien ...
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Gewalt gegen Kinder kann massiv sein oder auf leisen Sohlen daherkommen. Sie kann den Körper und/oder die Seele des Kindes verletzen oder sich als sexualisierte Gewalt in Form eines sexuellen Übergriffs oder Missbrauchs zeigen. Professionelles Fehlverhalten und Gewalt gegen Kinder durch pädagogische Fachkräfte kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. Das Fehlverhalten kann offenkundig oder subtil sein. Es kann einmalig oder wiederholt auftreten, in aktiver oder passiver Form – durch Unterlassen einer notwendigen Fürsorgehandlung – geschehen. Die meisten Fälle sind strafrechtlich nicht relevant, oft geschieht das übergriffige Verhalten nicht bewusst, sondern entsteht im Vorbeigehen, aus ganz normalen Alltagssituationen heraus. Allen Formen von Gewalt gemeinsam aber sind der fehlende Respekt vor der Integrität eines Kindes und die Verletzung seiner Rechte auf körperliche und seelische Unversehrtheit und auf gewaltfreie Erziehung. 
Häufig überschneiden sich unterschiedliche Formen von Gewalt oder treten in Kombination auf. So verletzt körperliche Gewalt immer auch die Seele des Kindes. Bei Übergriffen unter Kindern nicht einzugreifen, stellt zugleich eine Verletzung der Aufsichtspflicht dar. Körperliche Nähe zu erzwingen ist in vielen Fällen eine Kombination aus körperlicher und sexualisierter Gewalt. 
Eine Situation, bei der immer wieder professionelles Fehlverhalten bis hin zu schwerer körperlicher und seelischer Gewalt auftritt, sind die Mahlzeiten. Zwangsfütterung, Drohungen und unzulässige Fixierungen dürfen in der Kita nicht geduldet werden – auch dann nicht, wenn eigentlich gute Absichten dahinterstehen.

Fallbeispiel: Emre will nur Nudeln essen

Die Kita „Abenteuerland“ hat im Außenbereich einen kleinen Gemüsegarten angelegt. In einer Gemeinschaftsaktion unter Beteiligung der Kinder und einiger Eltern sind Beete angelegt, Pflanzen gesät, gesetzt und regelmäßig gewässert worden. Einige Wochen später können die ersten Früchte geerntet werden, darunter auch Zucchini. Während es die meisten Kinder kaum abwarten können, ihr eigenes Zucchini-Gemüse zu kochen und zu verspeisen, ist der 5-jährige Emre gar nicht begeistert. Auf die Frage seiner Erzieherin, ob er die ihm angebotenen Zucchini nicht wenigstens kosten möchte, antwortet er bestimmt: „Ich mag nur Nudeln. Gemüse schmeckt mir nicht, das habe ich dir doch schon gestern gesagt.“ Daraufhin die Erzieherin: „Gemüse ist gesund. Wer nicht wenigstens probiert, bekommt auch keinen Nachtisch.“ 
Die Entscheidung darüber, ob und welche Nahrung ein Kind in sich einführt, ist eng mit der Kontrolle über den eigenen Körper und somit der persönlichen Integrität verbunden. Abgesehen von medizinischen Notfällen sollte kein Kind zum Essen gedrängt oder gar gezwungen werden. Aus kinderrechtlicher Perspektive ist es selbstverständlich, dass jedes Kind allein entscheidet, ob es etwas isst und was und wie viel von den angebotenen Speisen es zu sich nimmt.

Kinder zum Probieren von ihnen möglicherweise unbekannten Speisen anzuregen und zu ermutigen sowie selbst hinsichtlich Vielfalt des Geschmacks ein gutes Vorbild zu sein und auf die Bedeutung gesunden Essens hinzuweisen, gehört zum Bildungs- und Erziehungsauftrag jeder pädagogischen Fachkraft. Eine eindeutige Grenze muss aber dort gezogen werden, wo ein Kind zum Essen bestimmter Speisen gedrängt oder gar gezwungen wird. Auch der Versuch, den Nachtisch an die Bedingung des Probierens von Gemüse zu knüpfen, überschreitet bereits diese Grenze und stellt eine Form psychischen Drucks dar. 
Selbst in dem Fall, dass sich der Junge aufgrund der Verlockung des Nachtischs dazu entschließt, das Zucchini-Gemüse zu probieren, ist nicht davon auszugehen, dass dies seine Einstellung ändern wird. Im Gegenteil, seine Abneigung gegen Gemüse kann sogar verfestigt und um den Aspekt des Machtkampfs zusätzlich emotional aufgeladen werden. 
Üblicherweise haben Kinder ein gutes Gespür für ihren eigenen Geschmack und dafür, nach welchen Lebensmitteln ihr Körper verlangt. Die unter vielen Erwachsenen verbreitete Vorstellung, dass Kinder nur Süßes essen wollen, hält einer empirischen Überprüfung nicht stand. Eine Voraussetzung dafür, dass Kinder das zu sich nehmen, was ihr Körper benötigt, und ihren eigenen Geschmack entwickeln, besteht allerdings darin, ihnen qualitativ hochwertiges, ausgewogenes und gesundes Essen zur Verfügung zu stellen. Ausnahmen sind in den Fällen notwendig, wenn Kinder zum Beispiel unter einer Nahrungsmittelunverträglichkeit oder einer Stoffwechselerkrankung leiden. Das Verbot, bestimmte Lebensmittel zu essen, oder eine notwendige Medikamentengabe sind dann jedoch nicht pädagogisch begründet, sondern beruhen auf einer medizinischen Indikation, die dem Kind gegenüber verständlich gemacht werden kann.

Was in diesem Fall getan werden sollte

Zwar wendet die pädagogische Fachkraft in dem geschilderten Fall keinen unmittelbaren Zwang zum Essen an, aber sie setzt den Jungen psychisch unter Druck, das Gemüse doch „wenigstens zu probieren“. Entlastend kann angeführt werden, dass sich die Fachkraft möglicherweise von der allgemeinen Begeisterung für das selbst gezogene und nun geerntete Gemüse hat mitreißen lassen und vor diesem Hintergrund kein Verständnis für die Weigerung des Jungen aufbringen kann. Dennoch sollte sie auf ihr Verhalten angesprochen werden, mit dem Ziel einer Einstellungs- und Verhaltensänderung. Da Zwang zum Essen und damit verbundener seelischer Druck häufig vorkommen, ist davon auszugehen, dass zahlreiche pädagogische Fachkräfte in ihrer eigenen Kindheit und Jugend diesbezüglich belastende Erfahrungen gemacht haben, verbunden mit der Gefahr, diese schlechten Erfahrungen in ihrer beruflichen Praxis (unbewusst) an die Kinder weiterzugeben. 
Daher empfiehlt es sich für jede Kita, sich explizit auf Regeln beim Essen zu verständigen, die sich an den Rechten der Kinder und an allgemeinen Fachstandards orientieren.

Warum wird Gewalt tabuisiert?

Die insgesamt sehr lückenhafte Datenlage sowohl bei den Aufsicht führenden Behörden als auch bei den Trägern und Einrichtungen sowie die – abgesehen von wenigen Ausnahmen – unzureichende fachliche und mediale Thematisierung lässt vermuten, dass es sich bei dem Thema „Fehlverhalten und Gewalt durch pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen“ weitgehend um ein gesellschaftliches Tabu handelt. Wie aber kann dieses Stillschweigen erklärt werden? Warum wird in diesem Berufsfeld so wenig über mangelnde Professionalität gesprochen, obwohl doch ein gewisses Ausmaß an Fehlverhalten in jeder Berufsgruppe zu erwarten ist? 
Einer unvoreingenommenen und selbstbewussten Thematisierung professionellen Fehlverhaltens in Kitas stehen zum einen naheliegende Interessen der in diesem Feld tätigen Fachkräfte und Institutionen entgegen. Es ist schmerzhaft, über eigene Fehler oder das Fehlverhalten von Kolleginnen und Kollegen zu sprechen. Das positive Selbstbild und darüber hinaus das Image einer gesamten Berufsgruppe können dadurch beschädigt werden. Auch eine falsch verstandene Solidarität („Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“), die das „Überleben“ in einem harten beruflichen Alltag erleichtern soll, kann eine Rolle spielen. 
Die Furcht vor arbeitsrechtlichen Folgen und in manchen Fällen sogar strafrechtlichen Sanktionen tragen ebenfalls dazu bei. Bei Leitungen und Trägern kann die Sorge hinzukommen, dass das positive Bild der Institution in der Öffentlichkeit durch die Thematisierung unprofessionellen Verhaltens Schaden nehmen könnte. Nicht zuletzt fördert das Fehlen einer positiven Leitorientierung – eine Ethik pädagogischer Beziehungen – die Neigung zu Stillschweigen und Verheimlichung. 
Zum anderen können mangelndes Hinsehen und Gutgläubigkeit bei den Eltern zur Tabuisierung von Fehlverhalten beitragen. Eltern haben ein großes Interesse daran, dass ihr Kind gut und sicher untergebracht ist. Nach dem Motto „Dass nicht sein kann, was nicht sein darf“ ist bei ihnen möglicherweise eine Neigung vorhanden, Missstände nicht erkennen zu wollen oder sogar zu leugnen – aus Angst, dass eine Thematisierung auf dem Rücken ihres Kindes ausgetragen werden könnte oder sogar den Kita-Platz gefährdet. Dies gilt besonders dann, wenn die Kita und der Träger über keine Beschwerdemöglichkeiten verfügen oder diese nicht bekannt sind.

Professionell mit Fehlverhalten umgehen

Gewalt und unprofessionelles Verhalten kommen in jeder Kindertageseinrichtung vor. Zwar kann eine Kita das Glück haben, von schweren Formen von Gewalt durch Fachkräfte (bisher) verschont worden zu sein. Leichtere Formen übergriffigen Verhaltens und der Missachtung von Kinderrechten lassen sich aber im Alltag jeder Kita beobachten. Ziel muss sein, dieses Fehlverhalten in den Blick zu nehmen, daraus Konsequenzen zu ziehen und die Gewalt in der Institution Schritt für Schritt immer weiter zurückzudrängen. 
Wenn Fehlverhalten oder Gewalt durch eine pädagogische Fachkraft bekannt wird, entsteht in dieser Situation oftmals ein Gefühl der Panik, das dann – weil sie so schwer erträglich ist – mit den Worten abgewehrt wird: „Das darf doch nicht wahr sein!“ Auch wenn Unglaube und Verleugnung als Abwehrreaktionen in einer Krisensituation psychologisch nachvollziehbar sind, taugen diese nicht für einen professionellen Umgang mit Fehlverhalten und Gewalt durch Fachkräfte. Sie sollten deshalb so schnell wie möglich überwunden werden zugunsten einer nüchternen Anerkennung der Realität. Eine Fehleinschätzung wäre auch die Behauptung, dass professionelles Fehlverhalten in „unserer“ Einrichtung nicht vorkommen kann. 
Eine zweite Reaktion kann darin bestehen, sich der Hoffnung hinzugeben, dass möglicherweise alles gar nicht so schlimm ist und vielleicht nur ein Missverständnis vorliegt. Daran anknüpfend wird die Illusion gepflegt, für das Kind wäre kein Schaden entstanden, die Eltern müssten nicht informiert werden und alles könne so weitergehen wie bisher. Alternativ oder im Wechsel hierzu kann das Bedürfnis entstehen, „sofort“ drastische Maßnahmen zu ergreifen, beispielsweise einer Fachkraft zu kündigen, den Träger zu informieren und/oder die Polizei einzuschalten. 
Auch die Verharmlosung oder Dramatisierung von Vorfällen hilft nicht weiter. Eine Verharmlosung unterstützt die Realitätsverweigerung. Da die Folgen für Kind und Eltern unterschätzt werden, bleiben die notwendigen Konsequenzen aus und es können keine weiterführenden Lehren aus dem Geschehen gezogen werden. Außerdem besteht die Gefahr, dass sich das Fehlverhalten fortsetzt oder sogar an Intensität zunimmt. Bei einer Dramatisierung hingegen werden vorschnell Schlüsse gezogen und die Folgen für Kind und Eltern überschätzt. Dies führt zu übersteigerter Aufregung, die das Kind zusätzlich belastet. 
Bei den Kolleginnen und Kollegen im Team kann außerdem ein Gefühl ungerechtfertigter Kontrolle und der Einschränkung ihres Handlungsspielraums entstehen. Dies geht oft mit der Konsequenz einher, sich lieber nicht mehr über eigene Unsicherheiten im Verhalten austauschen zu wollen, weil dann schnell die Gefahr erneuter Dramatisierung und Stigmatisierung besteht. 
Die Feststellung individueller Schuld und eine klare Benennung der Verantwortlichkeiten sind entsprechend den Gegebenheiten des Einzelfalls unvermeidlich und notwendig. In vielen Fällen reicht dies aber nicht aus, da weitere Ursachen wie zum Beispiel die strukturellen Bedingungen des Arbeitsplatzes oder mangelnde Unterstützung ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, was bei einer Fokussierung auf eine einzelne Fachkraft leicht übersehen wird. Umgekehrt genügt es aber auch nicht, das Fehlverhalten allein mit schwierigen Arbeitsbedingungen erklären oder sogar entschuldigen zu wollen. Eine persönliche Verantwortung der handelnden Fachkraft bleibt auch unter ungünstigen Bedingungen bestehen. Wenn eine Kita es versäumt, Fehlverhalten und Gewalt durch Fachkräfte wahrzunehmen und eindeutig zu benennen, und es stattdessen bei Ignoranz und Verleugnung bleibt, geht damit ein hohes Risiko der Wiederholung und Verschlimmerung einher. Eine positive Perspektive entsteht erst dann, wenn das Wegsehen beendet wird. Um die Krise als Chance für notwendige Veränderungen zu sehen, sollte sich die Einrichtung als lernende Organisation verstehen, Konsequenzen aus schlechten Erfahrungen ziehen, ein institutionelles Schutzkonzept erarbeiten und sich einer kinderrechtsbasierten Berufsethik verpflichten.    

Kinder nicht zum Essen zwingen

  • Die Entscheidung darüber, ob und welche Nahrung ein Kind in sich einführt, ist eng mit der Kontrolle über den eigenen Körper und der persönlichen Integrität verbunden.
  • Jedes Kind entscheidet allein, ob es etwas isst und, wenn ja, was und wie viel es von den angebotenen Speisen zu sich nimmt.
  • Die Verantwortung für das Speisenangebot und die bei Tisch geltenden Essensregeln liegt bei den Erwachsenen. Die Kinder werden daran altersangemessen beteiligt.
  • Abgesehen von medizinischen Notfällen sollte kein Kind zum Essen gedrängt oder gar gezwungen werden.
  • Zwang zum Essen ist eine Form von körperlicher und seelischer Gewalt, die bei Kindern zu Essstörungen und weiteren Auffälligkeiten führen kann.
  • Es empfiehlt sich, dass sich Leitung und Team einer Kita auf klare und verbindliche Essensregeln verständigen, die an den Rechten der Kinder orientiert sind.

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