Mythos und Realität des evangelischen PfarrberufsVorne ist, wo der Pastor ist

Das Pfarrhaus mit musizierenden Kindern und aufopferungsvoller Pfarrersfrau prägte über Jahrhunderte das Bild vom Protestantismus. Die Realität sieht längst anders aus. Der Beruf des Pastors und der Pastorin ist geprägt von großen Erwartungen, geht nur mit viel Liebe und Humor und immer wieder neuem Interesse für Menschen, wie sie sind.

Pastorin in der evangelischen Kirche
© KNA-Bild

Was Friseure können, können nur Friseure, hieß einmal eine Werbekampagne. Gilt das auch für evangelische Pastorinnen und Pastoren? Was können sie, was NUR sie können? Katholiken können aus Laien Priester machen, Campingwagen segnen und Wein in Blut verwandeln. Evangelische Pastoren verwandeln Teenager in Konfirmanden, Sünder in gerechtfertigte Sünder und Brot in – Brot.

Da wächst bei manchen der neidische Seitenblick auf die katholischen Kollegen, und vielleicht erklärt das den Siegeszug der Albe in evangelischen Gottesdiensten. Etwas strenger in der Liturgie und der Gemeinde auch mal gerne den Rücken zugekehrt – gerade, um nicht post-vatikanisch zu sein. Während freikirchliche Pastoren freimütig bekennen: Bei uns kann notfalls jeder alles, um damit von der Sehnsucht entlastet zu sein, es gäbe etwas, was nur sie können, scheint sich diese Einsicht bei Evangelischen nur nach strengen Exerzitien einzustellen.

Aus der Sicht der Gemeinde sieht das evangelische Amtsverständnis erfahrungsgemäß ganz anders aus. Vorne ist, wo der Pastor ist. Wenn er predigt, sieht die Gemeinde zu ihm auf. Er und seine Familie leben im Pfarrhaus, die Familie steht unter besonderer Beobachtung und hat den Beruf 24 Stunden am Tag mitzutragen. Die Türen des Pfarrhauses haben offen zu stehen, bei jeder Mahlzeit wurden Fremde jedenfalls potenziell miteingeladen – manche Pfarrerskinder berichten das bis heute mit Grauen (Dazu ausführlich Cord Aschenbrenner, Das evangelische Pfarrhaus. 300 Jahre Glaube, Geist und Macht. Eine Familiengeschichte, Berlin 2015). Andere sind froh über die selbstverständliche Gastfreundlichkeit ihrer Kindheit. Sie versuchen das selber zu leben – und scheitern gelegentlich am Widerstand ihrer Partnerinnen und Partner, die eigene Berufe und ein Privatleben haben, was sie nicht mit der Gemeinde teilen wollen.

Das Idyll der blockflötespielenden und im Gottesdienst Kollekte sammelnden Pfarrerskinder ist an vielen Orten der ganz normalen Wirklichkeit getrennter Berufs- und Lebenswelten gewichen. Der am Tisch dozierende Pastor-Vater Martin Luther und die eifrige Hausfrau-Mutter Katharina von Bora gab es noch im gemalten Reformations-Panorama in Wittenberg 2017. In der Wirklichkeit der Kolleginnen und Kollegen existiert das praktisch nicht mehr. Auch wenn manche Gemeinde es gerne so hätte. Zum Geburtstag auf dem Dorf kann dreimal der Besuchsdienst kommen, er ersetzt den Pfarrer nicht. Der Pfarrer ist eben – der Pfarrer. Der Pfarrer ist anders, schrieb der evangelische Theologe Manfred Josuttis 1982. Sie wird auch auch anders, schreibt heute die Theologin Ruth Conrad.

Ich habe kürzlich eine schöne Geschichte aus Süddeutschland gehört. Der junge Kollege hatte auf seiner ersten Pfarrstelle die Kirchweih auszurichten und erwachte am Morgen danach nur mit Mühe, fand gerade so den Weg zur Kirche und wurde von seiner Gemeinde begeistert empfangen, bekam einen Talar übergestülpt und wurde auf die Kanzel getragen, und auch wieder hinunter. Hier trägt das Amt die Person. Glückselig die Gegenden, in denen der Pfarrer so getragen wird.

Pfarrermangel droht ab 2030 auch in der evangelischen Kirche

In der Vertrauenswürdigkeit der Berufsgruppen stehen Pastorinnen und Geistliche unterhalb von Taxifahrern. Ganz oben stehen Feuerwehrleute. Die Nachwuchssorgen sind nicht ganz so bedrohlich wie bei den katholischen Kollegen. Wenn die geburtenstarken Jahrgänge um 2030 in den Ruhestand gehen, werden, so die grobe Schätzung, dann werden auch ein Drittel der evangelischen Pfarrstellen nicht mehr besetzt werden können. Der demografische Wandel spielt dabei eine Rolle, aber auch ein verändertes Selbstverständnis der Studierenden. Warum soll für eine ewig lange Ausbildung bei geringem Sozialprestige und mäßigem Gehalt bei einem Rund-um-die-Uhr-Beruf das Privatleben weitgehend geopfert werden? Der Beamtenstatus reizt manche. Die Residenzpflicht bleibt Reizthema. Abgrenzungen von Teilzeitstellen erfordern hohe Selbstorganisation.

Die Berufszufriedenheit in den Bereichen Seelsorge und Verkündigung ist stabil hoch

Andererseits haben Untersuchungen zum Bild der Pastorinnen und Pastoren im Norden gezeigt, dass die Berufszufriedenheit in den Bereichen Seelsorge, Verkündigung und Lebensbegleitung konstant stabil hoch ist (Gothart Magaard und Wolfgang Nethöfel [Hg.], Pastorin und Pastor im Norden. Antworten – Fragen – Perspektiven, Berlin 2011, auch unter www.pittkowski.de/pbefr_gesamt.pdf).

Entscheidend scheint das hohe Selbstwirksamkeitserleben zu sein, verbunden mit hohen Freiheitsgraden in der Berufsausübung. Evangelische Letztinstanz ist nicht der Propst und nicht der Kirchengemeinderat, sondern das eigene Gewissen. In welchem Beruf ist das schon so? In der Pastorenbefragung geben über 70 Prozent das Gewissen an und setzen es höher als Schrift und Bekenntnis, Dienstrecht und Vorgesetzte – das ist befreiend und beängstigend zugleich.

Bei den katholischen Kollegen gibt es immer eine noch höhere Instanz. Da gibt es Dinge, die man nicht sagen darf und die die Einstellung verhindern. Die Hemmschwelle ist höher, tatsächlich das eigene Gewissen voranzustellen, jedenfalls laut. Im evangelischen Konvent darf man so etwas als Argument anführen. Die Autorität der Vorgesetzten ist gegen den Willen des Ortspastors wie ein „Pappschwert im Regen“, so eine Pröpstin. Jedenfalls bei uns im Norden.

Wesentliche Arbeitsmittel des Pastors und der Pastorin sind und bleiben das Wort, das Wort und das Wort. Während der katholische Kollege das ganze Zeichenrepertoire der Messe zur Verfügung hat, die Glöckchen und das Vortragekreuz, das ewige Licht und den Knochen des Ortsheiligen, bleibt das Wort als Hauptarbeitsmittel des evangelischen Pastors in Verkündigung, Seelsorge und Gebet. Evangelische versuchen, sich den liturgischen Zeichenvorrat anzueignen, überlegen teils, ob die Pyxis konsekrationsfördernd aufs Korporale gehört – es bleiben Versuche liturgischer Kontingenzbewältigung, die am reformatorischen Abgrund balancieren.

Das Wort ist große Gabe und große Gefahr. Denn: Predigende verrecken auch an ihrer Sprache (vgl. Erik Flügge, Der Jargon der Betroffenheit. Wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt, München 2016). Zugleich entstehen wunderbare Dinge im Atelier Sprache in Braunschweig, Predigtslams wachsen zwischen Husum und Hildesheim, und im Facebook-Forum helfen die Geschwister sich mit Gottesdienstentwürfen und Predigtfeedbacks bis zum Morgengrauen.

Andererseits ist das Amt ein öffentliches Amt mit hohen Erwartungen. Die Anzahl der Pastorinnen und Pastoren, die über Burnout und Erschöpfung klagen, steigt bei hoher Dunkelziffer. Einer der Gründe wird immer wieder bestätigt – dass der berufliche Erfolg nicht messbar ist. Noch nicht einmal mit Zielsteuerung und Aufgabenkritik. Wer in anderen freien Berufen arbeitet, kann erfolgreich abgeschlossene Projekte abrechnen, seinen Erfolg am Umsatz bemessen, sich durch Kennzahlen beweisen. Im Pfarrberuf ist das eine Unmöglichkeit.

Die evangelische Kirche hat gegen Ende der Neunzigerjahre versucht, Erfolgskriterien einzuführen, und ist damit weitgehend gescheitert. Worte wie Taufquote und Missionserfolg, Kopfgeld pro Gottesdienstbesucher, Zufriedenheit mit der Pfarrperson nach Punktesystem gehören für die meisten weder zum Selbstbild noch zum Rollenverständnis. Erfolg ist keiner der Namen Gottes, hat der Religionsphilosoph Martin Buber gesagt.

Persönlich gesagt

Ein großartiger Beruf. Ein unmöglicher Beruf. Der nur geht mit viel Liebe und Lachen und einem immer neuen Interesse an Menschen, wie sie eben sind. Der nur geht mit einem stabilen Gefühl für die eigene relative Unwichtigkeit. Wir heben die Welt nicht aus den Angeln, wenn wir immer wach sind. Das Ausmaß unserer Erschöpfung ist kein Kriterium für die Qualität unserer Arbeit. Nur wenn wir auch empfangen und ausruhen, können wir immer neu aufwachen und weitermachen. Und zugleich ist es wie bei den Feuerwehrleuten: Jeder einzelne Kontakt macht einen Unterschied.

Was Friseure können, können nur Friseure. Vielleicht gilt das für jeden Beruf. Auch für Pastorinnen und Pastoren mitten im Leben – solange sie es mit Leidenschaft tun. Und mit dem Gefühl der Grenze ihrer eigenen Person. „Fürchte Dich nicht“ ist unser Lebensmotto. Dabei gibt es jeden Tag tausend gute Gründe, sich zu fürchten. Oder, ohne Negation gesprochen: Seid mutig. Gott geht mit.

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