Editorial

Seit Jahrhunderten gehorcht die Kunst nicht mehr normativen christlichen Vorgaben, jedenfalls in ihrem Hauptstrom. Geistliche Musik ist längst ein bescheidener Seitenstrang des musikalischen Schaffens, in der Malerei spielt die christliche Ikonographie höchstens eine Nebenrolle, Romane mit ausdrücklich religiöser Thematik sind eher selten. Der europäische Säkularisierungsprozess hat die Landschaft der Kunst tiefgreifend verändert, wie ein Rückblick auf das Mittelalter oder die Barockzeit unschwer zeigt.

Damit ist das Thema Religion allerdings nicht aus der Kunst der Moderne ausgewandert, sondern ist nach wie vor in vielfältigen Formen präsent: in Anspielungen, Zitaten oder Verfremdungen, als Frage oder auch als Leerstelle oder Provokation. Das gilt gerade auch für die religiös-kulturelle Tradition des Christentums, die Literaten, bildende Künstler oder Filmemacher auch heute noch herausfordert.

Die christlichen Kirchen tun sich mit autonomer Kunst traditionell schwer; vor allem den kirchlichen Kernmilieus fehlt es vielfach an Phantasie und Sensibilität für ein Kunstschaffen, das seinen eigenen Regeln und Maßstäben folgt. Andererseits haben die Kirchen unvermeidlicherweise mit der Kunst zu tun, sei es bei der Ausstattung von Kirchen, bei der Entscheidung über Liedtexte und -melodien für ein neues Gesangbuch oder über die Verwendung von literarischen Texten in Religionsbüchern. Beim Umgang mit Kunst neigt man in den Kirchen teilweise zur Funktionalisierung etwa von literarischen Texten für die eigenen Zwecke (das belegen nicht zuletzt manche Predigten), teilweise beschränkt sich der Horizont auf herkömmliche religiöse Gebrauchskunst mitsamt ihren Trivialitäten. Kunst als Beunruhigung und heilsame Provokation bleibt dabei außen vor. Kirche und Kunst – das ist und bleibt ein spannungsreiches Verhältnis.

Gerade deshalb haben wir uns dafür entschieden, dieses Spannungsverhältnis zum Thema unseres neuen „HK Spezial“ zu machen. In der Herder Korrespondenz finden immer wieder Beiträge ihren Platz, die sich mit dem Religiösen in aktuellen Filmen oder in der Gegenwartsliteratur befassen, sich mit der religiösen Dimension von Musik oder dem Kirchenbau beschäftigen. Das „HK Spezial“ über die Kirche und die Künste möchte diese punktuelle Berichterstattung ergänzen und ein oft wenig beachtetes Feld in den Fokus rücken. Es enthält Beiträge zu einzelnen Kunstgattungen (Musik, Literatur, Film, Architektur), zu Grundsatzfragen in den Beziehungen zwischen Kunst und Kirche sowie zum kirchlichen Engagement in diesem Bereich. Die Unterschiedlichkeit der Texte ergibt sich aus der Natur der Sache, die hier zur Verhandlung kommt.

Die Herder Korrespondenz möchte mit diesem Heft dazu beitragen, dass Missverständnisse zwischen Kirche und Künsten abgebaut werden und die Chancen einer produktiven Auseinandersetzung genutzt werden können. Zweifellos brennen zur Zeit den Kirchen und vielen ihrer engagierten Mitglieder andere Probleme stärker auf den Nägeln: weitere Erosion bis in die Kernschichten hinein, der Streit um strukturelle Reformen oder um die gesellschaftliche Präsenz des Christentums. Aber gerade in solchen Zeiten kann der Blick auf die spezifischen Ressourcen der Künste hilfreich sein.

Den Autoren dieses Heftes danken wir für ihre Bereitschaft zur Mitwirkung und für die unkomplizierte Zusammenarbeit.

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre!

Ulrich Ruh

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