Der Kirchenvater Augustinus im modernen MaghrebEin Sohn der Imazighen

Der Kirchenvater Augustinus prägt das Denken des Abendlandes. Seine nordafrikanische Herkunft wird allerdings nicht weiter beachtet. Maghrebinische Romane dagegen kreisen um die Frage, was der Mann aus Hippo Regius für die moderne Identität Algeriens und Tunesiens bedeutet.

Blick auf die Stadt Annaba
© Azzedine Rouichi/Unsplash

Ein junger Mann, geboren und aufgewachsen in Nordafrika, wandert mit knapp 30 Jahren der Arbeit wegen nach Europa aus, erlebt dort turbulente Jahre mit Erfolgen, aber auch schweren Krisen und kehrt schließlich über das Mittelmeer nach Afrika zurück, um in der Heimat ein neues Leben zu beginnen – was wie die Geschichte eines modernen Migranten anmutet, ist in Wahrheit die sehr verkürzte, aber darum nicht weniger packende Lebensgeschichte des 354 n. Chr. im heutigen Algerien geborenen Kirchenvaters Augustinus.

Als langjähriger Bischof der nordafrikanischen Hafenstadt Hippo Regius (heute Annaba in Algerien) und einer der großen Theologen der westlichen Kirche hat er die Geistesgeschichte des Abendlandes maßgeblich mitgeprägt. Sein schriftliches Œuvre, verfasst in seiner Muttersprache Latein, ist so umfangreich, dass im Mittelalter das Bonmot kursierte, wer behaupte, alle Schriften des Augustinus gelesen zu haben, müsse ein Lügner sein.

Nordafrikaner erzählen die „Confessiones“ neu

Dass dieser Vordenker des Abendlandes auch eine afrikanische Seite hatte, ist erst vor wenigen Jahren, auch angeregt durch die Debatte um den Postkolonialismus, stärker ins Bewusstsein gerückt, und dies nicht nur in Europa, sondern auch in den Maghrebstaaten Tunesien und Algerien. Dort sind seit der Jahrtausendwende, von Europa weitgehend unbeachtet, eine Reihe von französischsprachigen Romanen erschienen, in denen maghrebinische Schriftsteller die Bedeutung des Augustinus und damit auch der vorislamischen Geschichte für das Selbstverständnis ihrer Region ausloten.

Zu den einheimischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die sich mit Augustinus beschäftigen, gehören so unterschiedliche Persönlichkeiten wie der in Frankreich lebende, aus einer algerisch-marokkanischen Familie stammende Autor Kebir Ammi (geboren 1952), der einen modernen Wanderer in die Welt des Augustinus eintauchen lässt, der Algerier Abdelaziz Ferrah (1939–2011), der über seine berufliche Tätigkeit als Geograph das Interesse an der antiken Geschichte Nordafrikas entdeckte und Augustinus’ Autobiographie „Confessiones“ („Bekenntnisse“) neu erzählt, und die Tunesierin Claude Pujade-Renaud (geboren 1932), die Augustinus’ Persönlichkeit aus der Perspektive seiner langjährigen, in den „Confessiones“ erwähnten Lebensgefährtin beschreibt.

Erkennbar wird in allen Romanen die Suche nach der eigenen Identität. In Nordafrika, das zahlreiche Hochkulturen hat kommen und gehen sehen, ist die Frage, wie die historische Vielfalt in ein modernes, kohärentes Selbstbild integriert werden kann, bis heute ein zentrales Anliegen. In Algerien etwa gehören rund 20 bis 30 Prozent der Einwohner der Bevölkerungsgruppe der „Berber“ (Eigenbezeichnung: Imazighen) an, die sich auf die vorarabische Urbevölkerung Nordafrikas zurückführen und über eine eigene Sprache und Schrift verfügen. Erst im Jahr 2016 wurde das sogenannte Tamazight nach einer jahrzehntelangen Bürgerrechtsbewegung als Amtssprache neben dem Arabischen anerkannt.

In Tunesien ist der Anteil der Imazighen geringer, dafür aber das Erbe der antiken Karthager (und Römer) prominent: Nach den karthagischen Feldherren Hannibal und Hamilkar sind ein Fernsehsender und eine Metrostation benannt, Straßennamen in Tunis erinnern an den lateinischen Romanautor Apuleius, der im zweiten Jahrhundert n. Chr. in Nordafrika geboren wurde, sowie an Königin Dido, die legendäre Gründerin Karthagos, dessen Ruinen nur wenige Kilometer vom modernen Stadtzentrum entfernt zu bewundern sind. Auch die arabische Tradition fehlt nicht: Dem Historiker und Gelehrten Ibn Khaldoun, der 1332 in Tunis geboren wurde, ist ein Denkmal an einer der Hauptstraßen gewidmet.

Dass Augustinus zu diesem vielstimmigen Erbe gehören und sogar eine besondere Rolle darin einnehmen könnte, war im Maghreb dagegen lange Zeit nicht selbstverständlich. Die arabische Gelehrsamkeit hatte sich über Jahrhunderte vor allem mit dem Erbe der antiken griechischen Philosophie beschäftigt, während die lateinischen Denker, selbst wenn sie Nordafrikaner waren, wenig Aufmerksamkeit erhielten. Die modernen Romane, die Augustinus als Sohn Afrikas zeigen, können daher nicht an regionale Traditionen anknüpfen.

In Europa ergab sich dagegen das umgekehrte Bild: Augustinus’ Werke wurden über Jahrhunderte gelesen, seine afrikanische Herkunft aber, die Augustinus selbst mehrfach betont, war kein Gegenstand des Interesses. Selbst die Tatsache, dass der Name seiner Mutter Monnica von einer regionalen vorchristlichen Gottheit „Mon“ abgeleitet ist, der Kirchenvater also wohl zumindest mütterlicherseits von der einheimischen Urbevölkerung abstammte, änderte daran nichts. Als der Humanist Francesco Petrarca in seinem Mitte des 14. Jahrhunderts publizierten philosophischen Dialog „Secretum meum“ („Mein Geheimnis“) Augustinus zu seinem fiktiven Gesprächspartner wählt, lässt er ihn zwar ein „afrikanisches Gewand“ tragen, aber abgesehen von der äußeren Erscheinung hat die Herkunft des Augustinus keinen Einfluss auf den Inhalt des Werks.

Bedeutung erlangte „Augustinus der Afrikaner“ dagegen plötzlich und auf unrühmliche Weise im 19. Jahrhundert, als die Franzosen als Kolonialherren nach Nordafrika kamen und den Anspruch erhoben, die wahren Erben des untergegangenen „lateinischen Afrika“ („Afrique latine“) zu sein – und zu dessen Vermächtnis gehörte in kolonialer Sicht selbstverständlich auch Augustinus. Während einige koloniale Autoren wie der Franzose Louis Bertrand (1866–1941) darauf den Anspruch einer kulturellen Überlegenheit Frankreichs gründeten, hofften andere, durch die Person des Augustinus die nordafrikanischen „Berber“ gegen die Araber aufzuwiegeln. Wenn die Berber erst einmal erkannt hätten, dass der von den Franzosen so geschätzte Augustinus einer der ihren sei, dann würden sie sich, so räsonierte noch der Journalist und Reiseschriftsteller René Pottier (1897–1968) in seiner 1945 erschienenen Monographie „Saint Augustine le Berbère“, mit den Franzosen gegen die Araber verbünden.

Die durch die Kolonialzeit geprägte eurozentrische Sicht verhinderte in den unabhängig gewordenen Maghrebstaaten zunächst eine vertiefte Beschäftigung mit seiner Person. Eine Annäherung erfolgte zumeist punktuell und pragmatisch: „Augustinus der Philosoph“ erschien wie andere historische Persönlichkeiten der Region auf nationalen Münzen und Briefmarken, ein algerischer Wein firmiert unter dem Namen „Saint Augustin“, und die Augustinusbasilika an der Stätte seines Bischofssitzes im algerischen Annaba ist Ziel von Besucher- und Pilgergruppen.

Eine Tagung, die im Jahr 2001 in Algerien stattfand und eng von staatlichen Stellen begleitet wurde, hatte den „afrikanischen Augustinus“ zum Thema. Auf tunesischer Seite bemühen sich vor allem kulturelle Vereinigungen um das Erbe des Augustinus: Mit der „Via Augustina“ existiert ein im Jahr 2013 eröffneter Fernwanderweg, der die afrikanischen und europäischen Wirkungsstätten des Kirchenvaters verbindet und von allgemein kulturell interessierten Gästen ebenso genutzt wird wie von den etwa 20.000 Christen des Erzbistums Tunis. Seit 2019 organisiert die tunesische Vereinigung ATLAS (Association Tunisienne pour le Leadership, l’Auto-développement et la Solidarité) jährliche „Augustinustage“, bei denen augustinisches Erbe experimentell mit praktischen Anliegen wie der Entwicklung einer robusten Zivilgesellschaft verknüpft werden soll. Personen aus Wissenschaft und Gesellschaft des Maghreb, Europas und der USA finden sich dabei in lockerer Form unter dem Schlagwort „Augustinus“ zusammen.

Die maghrebinischen Augustinusromane, die ein Projekt der Latinistin Anja Bettenworth (Universität zu Köln) und der Romanistin ClaudiaGronemann (Universität Mannheim) untersucht, bemühen sich dagegen um die Klärung der grundlegenden Frage, was die Wiederaneignung einer antiken Persönlichkeit überhaupt zu einer modernen nordafrikanischen Identität beitragen kann.

Aufschlussreich ist der im Jahr 2004, zur Zeit der berberischen Bürgerrechtsbewegung, in Algier erschienene Roman „Moi, Saint Augustin, fils d’Aferfan de Thagaste“ („Ich, der Heilige Augustinus, Sohn des Aferfan aus Thagaste“) des Autors Abedelaziz Ferrah. Aus der Ich-Perspektive und mit konsequent berberischem Blickwinkel (äußerlich markiert unter anderem durch die Verwendung berberischer statt lateinischer Eigennamen) werden hier die autobiographischen „Confessiones“ des historischen Augustinus nacherzählt und von kolonialen Deutungen befreit.

Kennzeichen der Berber, so Ferrah, sei neben der Bindung an ihre afrikanische Heimat ihre Anpassungsfähigkeit, mit der sie aus ihrer wechselvollen Geschichte die besten Elemente herauszufiltern imstande seien. Die Biographie des Augustinus, der auf verschiedenen Wegen nach dem Lebenssinn suchte, ehe er in Europa zum Christentum konvertierte, dann nach Afrika zurückkehrte und von dort aus seine weltweite Wirkung entfaltete, zeige daher typisch berberische Eigenschaften. Die Leidenschaft wiederum, mit der sich Augustinus für die Einheit von europäischen und afrikanischen Christen und gegen die zu seiner Zeit starke afrikanische „Nationalkirche“ der Donatisten gewandt habe, sei ein Zeichen für das weltoffene Erbe der Berber, das den Imazighen bewusst gemacht werden müsse.

Die Wiederaneignung der eigenen antiken Geschichte bedeutet für Ferrah und die anderen Autoren vor allem die Freiheit, aus hergebrachten Denkschablonen ausbrechen und sich selbst neu erfinden zu dürfen – als Tunesier und Algerier, als Erben einer gemeinsamen afrikanisch-europäischen Geschichte und nicht zuletzt als gleichberechtigte Teilhaber jener Geistesgeschichte der Menschheit, die tiefer reicht als die Krisen in Vergangenheit und Gegenwart. „Und wie sehen uns eigentlich die Europäer?“, wurde ich vor einiger Zeit von einer algerischen Kollegin gefragt. „Wissen sie, was Augustinus für uns bedeutet?“

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