30 Jahre Hospize in DeutschlandDu zählst, weil Du bist!

Hospize sind Orte des Abschieds. Es gibt sie seit 30 Jahren, als Orte einer menschenwürdigen Sterbekultur sind sie nicht mehr wegzudenken. An der Schnittstelle zwischen Nächstenliebe und medizinischer Notwendigkeit geht es in den Hospizen um ein ganzheitliches Verständnis von Mensch und Tod, Krankheit und Therapie. Damit stehen sie ganz in einer christlichen Tradition.

Sterbebegleitung
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Auch wenn bis heute nicht ganz klar ist, ob das erste stationäre Hospiz auf deutschem Boden in Aachen („Haus Hörn") oder in Recklinghausen („Hospiz zum Heiligen Franziskus") seinen Betrieb aufgenommen hat: Beide Häuser haben gerade ihr dreißigjähriges Jubiläum gefeiert. So ist die 1986 in Deutschland erstmals erfolgte Einrichtung eines Hospizes zum einen der Höhepunkt eines langen Vorlaufs, den viele bürgerschaftlich engagierte Menschen mitgetragen haben. Zum anderen entfesselte dieser Startpunkt weitere Kräfte, die das Ringen um eine menschenwürdige Sterbekultur in Deutschland umso tiefer verankerten. Es kann nicht deutlich genug herausgestellt werden, dass die Hospizbewegung in Deutschland – mehr als in vielen anderen Ländern – ursprünglich eine ehrenamtlich aufgestellte Bewegung war, die sich um Sterbende in deren häuslicher Umgebung sorgte. Erst als zunehmend deutlich wurde, dass dieses Angebot durch stationäre Hospize (oder teilstationäre Einrichtungen) ergänzt werden sollte, gründete man solche Einrichtungen der Sterbebegleitung, die wie kleine Pflegeheime organisiert sind und meist über eine begrenzte Anzahl von Betten verfügen. Nichtsdestoweniger bleibt die Hospizbewegung bis heute ehrenamtlich dominiert.

Gegenwärtig sind in Deutschland etwa 1450 ambulante Hospizdienste tätig, die sich die Arbeit auf diesem „neuen" Feld mitmenschlichen Handelns teilen. Darüber hinaus boten 2015 in Deutschland 236 stationäre Hospize (einschließlich einiger stationärer Hospize für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene) sowie 139 hospizähnlich organisierte Palliativstationen in Krankenhäusern ihre Dienste an. Bemerkenswert: Etwa 100 000 Personen sind in Deutschland in der Hospizbewegung heutzutage allzumeist ehrenamtlich organisiert (Andreas Heller und Sabine Pleschberg, Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland. Hintergrundfolie für Forschung in Hospizarbeit und Palliative Care, in: Martin W. Schnell [Hg.], Palliative Care und Hospiz. Eine Grounded Theory, Wiesbaden 2015, 61–74, 61).

Biografische Suchbewegung

Als Begründerin der modernen Hospizbewegung in Europa gilt die Britin Cicely Saunders. Sie war von Anfang an eine Frau mit einer beeindruckenden Offenheit sowohl für medizinische Fragen als auch für weltanschauliche Suchbewegungen. Beide Facetten brachte sie bei ihrem pionierartigen Einsatz zugunsten der modernen Hospizbewegung zusammen. Geboren wurde sie im Jahre 1918. Ihr 1939 in Oxford aufgenommenes Studium der Sozialwissenschaften brach sie alsbald zugunsten einer Ausbildung als Krankenschwester und einer Weiterbildung als Krankenfürsorgerin ab. Seit 1947 arbeitete sie im St. Thomas Hospital und kurz darauf im St. Luke’s Hospital in London vornehmlich mit Krebskranken.

Ihre weltanschauliche Haltlosigkeit, die von einem atheistischen Grundtenor durchzogen war, kam in Bewegung, als sie das Buch „Der Mann – Zum König geboren" der Schriftstellerin Dorothy Sayers (gest. 1957) las. Dieses ursprünglich als Hörspiel für das Radio konzipierte Werk, das sich an Menschen ohne christliches Vorwissen wendet, handelt vom Leben Jesu und ist in zwölf miteinander verknüpfte Teile strukturiert. Auf Cicely Saunders machte es einen so tiefen Eindruck, dass sie sich für das Christentum zu öffnen begann. Sie empfing Kraft aus der Überzeugung, dass Gott sie gewandelt hatte und sie sich ihm ganz überlassen sollte. Das Geschehene deutete sie für sich als ein Bekehrungserlebnis und fragte sich, wie sie ihr Leben fortan gestalten sollte. Immer deutlicher gelangte sie zu der Überzeugung, dass sie mehr wollte als die Fürsorge für Sterbenskranke. Zunehmend sah sie die Notwendigkeit, im Dienste eines möglichst ganzheitlichen Verständnisses von Krankheit und Sterben in die Schmerzkontrolle und Schmerztherapie von Schwerstkranken einzugreifen.

So kam es ihr gelegen, dass ihr der leitende Arzt am St. Thomas Hospital das Studium der Medizin nahelegte. Sie folgte seinem Rat, begann im Alter von 33 Jahren ihr Medizinstudium und beendete es 1957 mit einem hervorragenden Staatsexamen. Als frisch ausgebildete Ärztin und mit ihrer Praxiserfahrung als Krankenschwester arbeitete sie zwischen 1958 und 1965 an zwei verschiedenen Krankenhäusern. Hier engagierte sie sich im Rahmen ihrer Begleitung sterbender Menschen zugleich für die tiefere Erforschung und die verbesserte Umsetzung von Schmerztherapien bei sterbenskranken Patienten. Sie bediente sich der Gabe von Schmerzmitteln – genauerhin: Morphinen –, wie sie es schon im St. Luke’s Hospital kennengelernt hatte, und dosierte diese für jeden Patienten individuell. Alsbald begann sie die Morphinpräparate mit Heroin zu vermischen, um den Sterbenskranken ein schmerzfreies Leben zu ermöglichen und ihnen so den Freiraum zu geben, dass sie sich in Ruhe auf ihren Tod vorbereiten konnten. Auch in der Kontrolle anderer Symptome bei sterbenskranken Menschen (Kurzatmigkeit, Husten, Erbrechen und vieles mehr) gewann Saunders neue Einsichten. Über die körperlichen Symptome der Betroffenen hinaus sorgte sich die Medizinerin auch um die psychosozialen Komponenten des totalen Schmerzes: „Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir es im Umgang mit totalem Schmerz mit einem Phänomen zu tun haben, das körperliche, emotionale, soziale und spirituelle Komponenten hat", stellt Saunders heraus.Kurzum: Gewissermaßen als Spiegel ihrer Biografie, die sich als medizinischer und spiritueller Suchweg charakterisieren lässt, fand Saunders zu ihrer Lebensaufgabe: „das Hospiz als Treffpunkt von (Natur-)Wissenschaft und Religion", wie sie selbst pointiert hervorhebt.

Das Hospiz – Ein Ort zwischen Medizin und Spiritualität

Wer die Welt als Sterbender sieht, nimmt sie oftmals anders wahr als in seinem früheren Alltag. So steht jeder sterbende Mensch für eine ganz eigene Sicht auf die Welt. Mit dieser Offenheit ihres Herzens nahm Saunders 1967 – zwei Jahre nach der Grundsteinlegung – die ersten Kranken in ihrem St. Christopher’s Hospiz auf.Mit Zähigkeit und Zielorientierung gestaltete sie dieses Hospiz zu einer weithin anerkannten Institution aus: spezialpflegerisch und medizinisch exzellent, ergänzt durch ausgezeichnete hospizinterne Forschung und Schulung sowie durch vielfältiges Engagement für Soziales und Spirituelles in der Begleitung der Sterbenden und ihrer Angehörigen.Zur anfänglich angezielten religiösen Ausrichtung des von ihr gegründeten St. Christopher’s Hospizes sagt sie: „In der ursprünglichen Formulierung unserer Ziele und Grundlagen ging es uns darum, dass unsere Arbeit die Liebe Gottes zeigen sollte, die sich gerade auch in allen wissenschaftlichen Mitteln zur Linderung von Schmerz und Bedrängnis manifestiert, aber auch die menschliche Freiheit anerkennt."

So konzentrierte sich das Leben im St. Christopher’s Hospiz wie in einem Mikrokosmos. Saunders verglich die Einrichtung metaphorisch mit einem Dorf, in das Menschen hineingeboren werden und an ihr Lebensende gelangen, in dem Menschen lehren und lernen, in dem Menschen pflegen und sich pflegen lassen, in dem Menschen in Krankheit und in Gesundheit leben. Zugleich suchte sie dieses Dorf als einen besonderen Ort für die Vorbereitung auf den Tod zu gestalten: „Der Gedanke, sich auf den ,guten Tod‘ vorzubereiten, und die Idee des geheiligten Lebens und geheiligten Sterbens bei Jeremy Taylor und die ganze mittelalterliche Tradition dessen, was, glaube ich, ,seine Seele zu machen‘ genannt wurde – all das gibt es seit langer Zeit."Um den Gefühlen von Traurigkeit und Dankbarkeit Raum zu geben sowie die Erinnerung an Verstorbene und deren Vergegenwärtigung zu unterstützen, entwickelte Saunders eigene Rituale. So fragt sie bei Abschiedsfeiern, ob jemand etwas über den verstorbenen Menschen sagen möchte. „Und dann", so fährt Saunders fort, „erzählen die Leute. Es kommt vor, dass die Kapelle bei diesen Gelegenheiten ganz voll ist. Manchmal sind es auch nicht so viele Leute, aber es nimmt immer eine ganze Anzahl daran teil. Das ist eine Gelegenheit des Zusammenkommens, von der viel Kraft ausgeht."

Orientierung für ihre gestaltende Arbeit im Hospiz fand Saunders in den Texten des Alten und des Neuen Testaments: „Ich lese jeden Tag die Psalmen und versuche, mein Leben auf die Heilige Schrift zu beziehen", sagt sie. Überdies sah sie sich durch Texte der mittelalterlichen Mystik getragen, die zur Innenschau anregen und zum inneren Gespräch ermutigen: „Ich lese Juliana von Norwich im Original, auf Mittelenglisch, was wundervoll ist. (...) Ich komme immer wieder auf sie zurück, und sie ist zu meiner Lieblingslektüre geworden, denn auch bei ihr geht es wiederholt um Offenbarungen der Liebe." Bisweilen fasst sie ihre Hoffnung auf den Jesus der Passion auch in persönliche Worte: „Leiden war – und ist – der Ort, wo Christus geehrt wird. Er ist da, ob er erkannt wird oder nicht. Die einfachen Wahrheiten, die er so viel besser versteht, als wir es je können: dass auch er solche Abhängigkeit kannte, dass auch er sogar sein eigenes Kreuz hat von einem anderen tragen lassen müssen – diese Wahrheiten scheinen auch für Ohren, denen sie ganz ungewohnt sind, eine Bedeutung zu haben und kaum der Erklärung zu bedürfen. Ich denke, das liegt daran, dass Menschen, die so sehr leiden, dort sind, wo Jesus sich am tiefsten mit uns identifiziert."

Den christlichen Passionsgedanken sieht Cicely Saunders direkt mit ihrer Hospizinitiative verbunden: „Das St. Christopher’s Hospiz wurde gegründet und ist gewachsen aus dem Glauben, dass Gott in Jesus Christus für alle seine Menschenkinder durch den Tod gegangen ist." An anderer Stelle unterstreicht sie diese persönliche Überzeugung: „Wenn ich nicht glauben würde, dass es Gott selbst ist, der in Jesus Christus das Verlorensein und all das erlitten hat – der Gott, von dem John Austin Baker sagt: Die Hände, die uns im Leben halten, sind durchbohrt mit unvorstellbaren Nägeln – wenn ich nicht glaubte, dass Gott den Schmerz und die Trauer all seiner Kinder teilt, dann wäre er kein Gott, dem ich vertrauen könnte."Im Sinne einer persönlich an sie ergangenen Berufung stellt Saunders rückblickend ihre Überzeugung heraus: „Gott auf meiner Seite zu haben, und zu wissen, dass dies (die Initiierung eines Hospizes) das war, was Gott von mir wollte. ,Ich werde dir die Gelegenheit geben, du musst sie nun selber in die Hand nehmen.‘ Das war der stärkste Anreiz, den man überhaupt haben kann. Und nachdem dann Antoni (ein ,Gründungspatient‘) gestorben war, war es auch die Kreativität, die sich manchmal aus der Trauer entwickeln kann – der Ansporn, Dinge besser zu machen."

Mit ihrer großen Offenheit für Menschen aller Weltanschauungen hatte Saunders die Leitung ihres Hospizes bis 1985 inne. Bis zum Jahr 2000 – da war sie schon 82 Jahre alt – amtierte sie als Vorsitzende der Einrichtung, und bis zu ihrem Tode mit 87 Jahren im Jahre 2005 als deren Präsidentin. Über dieses ortskonkrete Engagement hinaus inspirierte sie die Hospizbewegung europaweit.

Hospizbewegte Pioniere in Deutschland

Fast alle bundesdeutschen Begründer von Hospiz-Initiativen waren zuvor in England und haben sich von Cicely Saunders und ihrer Bewegung anregen lassen. Heinrich Pera und Paul Türks gehörten dabei zu den Männern der ersten Stunde.

Heinrich Pera (1938-2004) steht für die Anfänge der Hospizbewegung in der ehemaligen DDR. Durchzogen von Praktika im Krankenhaus und einem abgebrochenen Medizinstudium beendete er sein Theologiestudium in Erfurt und wurde katholischer Priester. Ergänzend absolvierte er eine Krankenpflegerausbildung. Seit 1968 war er durch seine Besuche in Krakau mit den Pionieren der polnischen Hospizbewegung vernetzt. 1985 erhielt er den entscheidenden Lebensimpuls während einer Reise nach England, als er mit der dortigen Hospizbewegung in Kontakt kam. Mit diesem Erfahrungshintergrund stellte er im Wendejahr 1989 in Halle einen internationalen Hospizkongress auf die Beine und amtierte zwischen 1992 und 1997 als Gründungsvorsitzender der „Bundesarbeitsgemeinschaft Hospiz". In dieser Funktion war ihm die institutionelle Verknüpfung der damals in Deutschland entstehenden örtlichen Hospizdienste ein erstrangiges Anliegen.Seine religiös begründete Sorge für die Schwerkranken und Sterbenden brachte Pera in ein Spannungsverhältnis zur politischen Ideologie der DDR, so dass er sich alltagspraktisch vielerlei Schikanen ausgesetzt sah. Umgekehrt schmerzte es ihn, dass nach der Öffnung der Grenzen viele bewährte Trägerinnen und Träger der Hospizbewegung aus DDR-Zeiten gen Westen abwanderten.

Trotz dieser Erschwernisse seiner Arbeit blieb Pera seiner Grundüberzeugung treu, dass er „Sterbebegleitung als Weggefährtenschaft" (Benno Littger, Christliche Hospiz- und Palliativkultur. Grundlagen, Erfahrungen und Herausforderungen, Würzburg 2014, 163) verstand, indem er die Individualität des Sterbenden nach Kräften gefördert sehen wollte und sich offen zeigte für alle Menschen, ohne dabei seine eigenen religiösen Überzeugungen zu verleugnen. Eindringlich unterstreicht Pera: „In einer solchen Weggemeinschaft wird für alle Beteiligten sichtbar, erfahrbar, was verlässliche Zuwendung und konkrete Nächstenliebe vermag, auch und gerade in Stunden der Trauer, der Schmerzfinsternis und des immer endgültiger werdenden Abschieds. Eine solche Weggemeinschaft ist dann Quelle für eine aufkeimende Hoffnung über den Tod hinaus."Eine zweite Schlüsselgestalt für die Hospizbewegung in Deutschland war der Oratorianer Paul Türks (1920-1998). Nachdem er als Priester seelsorglich immer wieder mit den Nöten junger unheilbarer Kranker befasst gewesen war, nahm er sich des Hospizanliegens in Aachen an. Er initiierte – unterstützt durch eine Gruppe von Gleichgesinnten um Clementine Louven – das als „Haus Hörn" bekannt gewordene Hospiz unter dem Dach des bereits 1968 gegründeten Altenheims gleichen Namens.

Türks wirkte weit über seine Gründung in Aachen hinaus zugunsten der Hospizbewegung. So warb er um Akzeptanz für die Hospizbewegung unter den Bischöfen, nachdem sich die Deutsche Bischofskonferenz 1978 ebenso wie das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche Deutschlands massiv gegen jedwede Förderung von stationären Hospizen ausgesprochen hatte. Auf der einen Seite hielt er den kirchlich Verantwortlichen vor, dass sie – anders als er selbst – niemals nach England gereist seien, um sich dort Hospize anzusehen und mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ebenso wie mit den Patientinnen und Patienten ins Gespräch zu kommen. Auf der anderen Seite ließ er die Kirchenleitungen teilhaben an seinen eigenen Erfahrungen mit den Hospizen und der Hospizbewegung in England. Die Wirkung dieser Aufklärungsarbeit kann rückblickend kaum überschätzt werden: „Die Ende der Achtzigerjahre beginnende inhaltliche Neuausrichtung der Deutschen Bischofskonferenz muss zu einem Großteil als Verdienst von Türks᾽ Engagement gewürdigt werden." (Littger 186) Tatsächlich setzte sich Türks über Jahre hinweg bis in die Kurie mit diplomatischem Geschick für ein angemessenes Verständnis der Hospizidee ein.Ebenso wie sich Türks wiederholt auf Zeugnisse von Cicely Saunders berief, machte er sich in ihrem Sinne alltagspraktisch für eine ausgefeilte Palliativmedizin stark, stimmte mit ihr in ihrer christlichen Grundausrichtung überein, suchte gleichfalls die Individualität der Sterbenden mit ihren je persönlichen Wünschen zu fördern, bezog die Angehörigen der Sterbenden in das begleitete Abschiednehmen ein und warb unter den Kirchenoberen unermüdlich um Unterstützung für das Hospizanliegen.

Die Hospizbewegung in Deutschland – Bürgerschaftliches Engagement

Tatsächlich ist die „Geschichte der Krankenpflege und der Begleitung Sterbender eng verwoben mit der Entwicklung und Ausbreitung des Christentums" (Sandra Gehnke, Sinnerfahrung und Todesbewusstsein. Der Mensch in der Auseinandersetzung mit Leiden, Sterben und Tod. Die notwendige Kompetenz der Leidensfähigkeit auf der Grundlage der Logotherapie sowie Chancen und Perspektiven für die Hospizbewegung, Frankfurt 2004, 345f.). So verdient es Beachtung, dass die Aufnahme von Fremden, Schwachen oder Kranken sowie deren gastliche Beherbergung eine für die Antike im Wesentlichen neue Idee war und sie zur Erfüllung einer religiösen Pflicht wurde. Seit dem 20. Jahrhundert zeichnet die Hospizarbeit im Sinne einer ganzheitlichen Sorge für Sterbende eine auch für Saunders charakteristische und ansonsten eher seltene Verbindung von Spiritualität und moderner Medizin aus.

Die in der Hospizarbeit engagierten sowie weltanschaulich offenen haupt- und ehrenamtlich Tätigen dürfen als Multiplikatoren für Leidensfähigkeit zwischen Leben und Tod, Ankunft und Abschied gelten. Sie stellen die Einbettung der Hospizarbeit in das Gemeinwesen sicher. In der Tat kennzeichnet die bundesdeutsche Gesellschaft eine neue Aufmerksamkeit für das je individuelle Sterben, zu der seit den Achtzigerjahren auch der Einsatz der Hospizbewegung beigetragen hat: Unverkennbar gibt es ein neues gesellschaftliches und öffentliches Interesse an einem anderen Umgang mit dem Sterben. Daniela Tausch-Flammer vom Hospiz Stuttgart spricht hier vom „inneren Hospiz" und meint damit eine von der Hospizbewegung erzeugte, neue Grundhaltung gegenüber dem Sterben. So führe Sterben im Sinne der Ganzheitlichkeit nicht vom Leben weg, sondern zum Leben hin. Zudem sei das Sterben keine bekämpfenswerte Krankheit, sondern ein Vollenden des Lebens. Auch mit Blick auf den institutionellen Rahmen der Hospizbewegung kommt den freiwilligen ehrenamtlichen Helfern, die neben den Hauptamtlichen die Sorge für die Sterbenden mittragen, die Aufgabe von „Fachleuten fürs Alltägliche" zu.

Im Rückblick auf Deutschland waren die Jahre zwischen 1970 und 1979 durch eine Ablehnung des Hospizgedankens geprägt, die Jahre von 1980 bis 1989 durch einen Aufschwung vor allem aufgrund der Pionierleistungen einzelner gekennzeichnet, bevor es seit 1990 mit Blick auf die Hospizbewegung zu einer „Etablierung als Bürgerbewegung" und zu einer breiten gesellschaftlichen Akzeptanz für das Konzept der ganzheitlichen Sterbebegleitung gekommen ist. Für eine nicht einmal 40 Jahre alte Bewegung muss die erzielte Prägekraft als weitreichend bezeichnet werden: Sie beeinflusste sowohl die gesellschaftliche Wahrnehmung des Todes, wie sie auch die mittlerweile erreichten Standards im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer grundlegte. Beides hat sie aktuell gegenüber einer wissenschaftlich zunehmend dominant auftretenden Palliative Care zu verteidigen, um das Hospizwesen zwischen medizinischen und sozial-spirituellen Notwendigkeiten ausbalanciert zu halten.

In jedem Falle umschließt die aktuelle Rede von der Hospizbewegung (beziehungsweise vom Hospiz) viele für die westlichen Kulturen historisch identitätsstiftende Kristallisationspunkte. Eben deshalb versteht sich das hospizlich ausgerichtete Engagement bis heute als „Fortsetzung christentumsgeschichtlich fundierter Traditionen in den Bereichen Gastfreundschaft, Krankensorge und Sterbevorbereitung" (Hubertus Lutterbach, Leben bis zum letzten Augenblick – Das Hospiz, in: Vom Jakobsweg zum Tierfriedhof. Wie Religion heute lebendig ist, Kevelaer 2014, 127-158, 148).

Ohne Frage hallen diese Schlüsselpotenziale auch im aktuellen hospizlichen Mühen um eine authentische und ganzheitliche Unterstützung von sterbenden Menschen wider. So mag die gesellschaftliche Anerkennung der Hospizarbeit zugleich ein Ausdruck dafür sein, in welch hohem Maße die Werte, die das „innere Hospiz" und das „äußere Hospiz" tragen, kompatibel sind mit den öffentlich hoch geachteten Trends der Individualisierung und des Strebens nach Ganzheitlichkeit. Zuletzt sind die Hospizbewegung und die Hospize ein Beleg dafür, dass sich die aktuell häufige Institutionendistanzierung und -skepsis dann abschwächen oder sich sogar in ihr Gegenteil verkehren, wenn Institutionen für Menschlichkeit und Glaubwürdigkeit stehen, wenn sie ein Miteinander auf Augenhöhe ermöglichen, ja wenn sie die Zusage von Cicely Saunders erlebbar machen: „Du zählst, weil Du bist!"

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