Die Russische Orthodoxe Kirche und Präsident Putin„Gute Früchte der Zusammenarbeit“

Seit Ende der Sowjetunion ist die Russische Orthodoxe Kirche wieder in ihre Stellung als nationale Institution eingerückt. Diese Entwicklung hat sich unter Präsident Putin fortgesetzt, der sich selber als orthodoxer Christ präsentiert. Kirche und Putin-Administration arbeiten gut zusammen, wobei die Kirche Gefahr läuft, instrumentalisiert zu werden.

Die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) war seit dem18. Jahrhundert Staatskirche. Zar Peter der Große hatte das Amt des Patriarchen abgeschafft und 1721 eine von ihm konzipierte Kirchenleitung, den Heiligen Synod, in den Staatsapparat integriert. Damit fand in Russland die Phase der byzantinischen „Symphonia“, des ideellen Gleichgewichts von Kaiser und Patriarch, von Staat und Kirche, ihr Ende. Die ROK wurde zur hochprivilegierten Institution, die das Volk in patriotischer Liebe zu Kaiser und Vaterland zu halten hatte. Sie lebte im Goldenen Käfig, was Ende des 19. Jahrhunderts Geistliche und Laien veranlasste, eine Reform der Kirche an Haupt und Gliedern, nicht zuletzt die Trennung der Kirche vom Staat, zu fordern. Die Oktoberrevolution 1917 brachte diese Trennung, aber in unerwarteter Form. Religionsbedrückung in wechselnder Schärfe wurde kennzeichnend für die gesamte Sowjetperiode. In den zwanziger und dreißiger Jahren, insbesondere im Zuge von Stalins „Großen Säuberungen“ 1936 bis 1938, wurde in der Sowjetunion das institutionelle religiöse Leben vernichtet, auch die ROK. Fast alle Kirchen waren geschlossen, Geistliche jeglichen Ranges verhaftet oder „abgetaucht“– viele erschossen oder auf andere Weise umgebracht. Der Glaube lebte seit 1938 nur noch in den „Katakomben“. Allein die ROK hat in diesen Jahren mehrere Tausend Märtyrer hervorgebracht. Die katastrophale militärische Lage im „Großen Vaterländischen Krieg“ (1941–1945) zwang Stalin, alle Reserven zu mobilisieren – auch die Orthodoxe Kirche. Die noch nicht verhafteten Bischöfe huldigten dem „Großen und weisen Führer“ und der glorreichen Sowjetmacht und riefen zum heroischen Kampf gegen die „teutonischen Horden“ auf; die Orthodoxen finanzierten durch Sammlungen eine Panzerkolonne und eine Flugzeugstaffel.

Rasanter Wiederaufbau nach dem Ende der Sowjetunion

Stalin revanchierte sich 1943 mit der Anerkennung der ROK, später auch anderer Religionsgemeinschaften. Ihnen wurde eine winzige, streng kontrollierte Nische am Rande der Sowjetgesellschaft zugestanden: Das Modell der „Konzessionierten Kirche“ sah nur den reinen Vollzug des liturgischen Rituals im „Kultgebäude“ vor, nicht aber karitativ-soziale Tätigkeit, Katechese und Öffentlichkeitsarbeit. Alles unterlag strengster staatlicher Kontrolle.

Der Name Michail Gorbatschow steht auch für die Renaissance der Religion in der zerfallenden Sowjetunion. Nachdem Gorbatschow den Rückhalt der Partei verloren hatte, bemühte er sich um die Gläubigen. Nicht zuletzt durch seine vergleichsweise liberale Religionspolitik wurde „Gorbi“ zum Sympathieträger im Westen. Das Millennium der „Taufe Russlands“ (1988), das Gorbatschows Amtsvorgänger auf den kirchlichen Raum hatten beschränken wollen, wurde nun im Moskauer „Bolschoi-Theater“, in Konzertsälen, in städtischen und staatlichen Gebäuden gefeiert. Vor den Kameras der Welt empfing Gorbatschow die Führung der ROK. Verschiedentlich wurden säkularisierte orthodoxe, aber auch nicht-orthodoxe Kirchen den Gemeinden zurückgegeben.

Nach dem Ende der Sowjetunion (31. Dezember 1991) verloren die kommunistischen Funktionäre an Einfluss – und die ROK suchte ihre Stellung von vor 1917 zurückzugewinnen. Neue Religionsgesetze (Oktober 1990) trugen zur Normalisierung bei. Sie unterbanden die Einflussnahme des Staates auf das innerkirchliche Leben und stellten alle Religionsgemeinschaften auf die gleiche gesetzliche Grundlage: die tausend-jährige Orthodoxe Kirche, Muslime, Katholiken, Juden, Lutheraner und Baptisten – Scientologen, Moon und andere Neureligionen. Die ROK hat diese gleichmacherischen Gesetze bekämpft und mit massivem „Lobbying“ in der Duma Erfolg gehabt – ein Beweis ihres gewachsenen Einflusses: 1997 unterzeichnete Boris Jelzin ein Religionsgesetz, das in der Präambel der russischen Orthodoxie vor allen anderen Religionen die erste Stelle einräumt – jener Kirche, die – wie es in der Präambel heißt – Geschichte und Kultur Russlands maßgeblich geprägt hat.

Der rasante Wiederaufbau der ROK seit dem Zerfall der Sowjetunion war nicht ohne staatliches Entgegenkommen möglich. Heute zählt sie 22 000 Gemeinden (1914: 54 000) in aller Welt, und die Zahl der geistlichen Ausbildungsstätten (72) liegt heute höher als 1914 (61). Die fast 600 Klöster machen mehr als die Hälfte des Bestandes von 1914 (1025) aus. Die ROK beziffert ihre Glieder heute mit 80 bis 100 Millionen. Solch eine Zahl soll suggerieren, dass fast alle Russen wieder orthodox sind. Diverse soziologische Untersuchen kamen zu dem Resultat, dass nur 1,3 Prozent derer, die sich selbst als orthodox bezeichnen, die Grundpflichten der Orthodoxie erfüllen; drei Prozent erfüllen sie teilweise. Immerhin entsprechen etwa zehn Prozent derer, die sich orthodox nennen, der westlichen Vorstellung von „praktizierenden Christen“. Typischerweise erklärt ein wechselnder Prozentsatz der angeblich Orthodoxen, überhaupt nicht getauft zu sein. Die alte Gleichung aus der Zarenzeit russisch = orthodox gilt also heute wieder: Ein wahrer Russe ist orthodox – ob getauft oder ungetauft.

Putin – ein orthodoxer Neophyt

Die ROK ist heute statistisch und ihrer öffentlichen Stellung nach die bedeutendste gesellschaftliche Organisation in der Russischen Föderation. Keine Partei, kein Politiker kann es sich leisten, ihr statistisches und politisches Potenzial zu ignorieren. Selbst kommunistische Parteiführer zeigen sich in der Öffentlichkeit gern mit dem Patriarchen. Schon Boris Jelzin hatte intensive Beziehungen zum Patriarchen gepflogen. Für Karikaturisten war Jelzin ein beliebtes Motiv, wenn er in Kirchen ungeschickt Kerzen entzündete und dem Patriarchen genossenhaft die Hand schüttelte. Nicht nur in kirchlichen Kreisen ist man überzeugt, dass Jelzin 1996 ohne die massive kirchliche Unterstützung nicht wieder zum Präsidenten gewählt worden wäre.

In noch stärkerem Maße als Jelzin verdankt Vladimir Putin seine Wahl zum Präsidenten (26. März 2000) der ROK und ihrem Patriarchen. Jelzin hatte Putin im August 1999 zu seinem Nachfolger erkoren. Seitdem präsentierte sich der einstige KGB-Offizier als praktizierender orthodoxer Christ. Plötzlich erfuhr die Öffentlichkeit, dass Putin als Kind heimlich getauft worden und seine Mutter Glied einer orthodoxen Gemeinde sei. Von heute auf morgen lernte er, sich korrekt zu bekreuzigen, sich in der Liturgie im richtigen Moment zu verneigen, die Ikonen – und dem Patriarchen demütig die Hand – zu küssen. Natürlich ist Putin Glied einer Moskauer Gemeinde; seit August 1999 ist er ein häufiger Gast beim Patriarchen. Um sicherzustellen, dass bei der Präsidentenwahl alles wunschgemäß verläuft, verschaffte Jelzin seinem Favoriten einen unschätzbaren Amtsbonus: Am 31. Dezember 1999 präsentierte er der verblüfften Fernsehnation Putin als „Geschäftsführenden Präsidenten“. Allerdings sieht die russische Verfassung ein solches Amt nicht vor. Um Jelzins nicht-verfassungsgemäßes Vorgehen zu verschleiern, sollte das Kirchenoberhaupt dem „Geschäftsführenden Präsidenten“ vor den Kameras des Staatsfernsehens seinen patriarchalen Segen erteilen. Die telephonische Aufforderung Jelzins erreichte Patriarch Aleksij, als er eine Liturgie zelebrierte: Er musste sie abkürzen. Er war aber keineswegs verärgert, im Gegenteil: Der Patriarch äußerte sich voller Stolz, dass er Jelzin diesen Dienst leisten durfte.

Putin hatte den seit 1996 ruhenden Tschetschenienkrieg Ende 1999 neu entflammt: Das tschetschenische Feindbild sollte die Nation in patriotischem Geist hinter Putin sammeln. Sein Schlachtruf „Wider die tschetschenischen Banditen und Terroristen“ wurde zum Wahlkampfslogan. Für das Wahlergebnis war mitentscheidend, dass der Patriarch den Tschetschenienkrieg ganz im Sinne von Putins neuem Patriotismus kirchlich verbrämte. Aleksij trug, beginnend mit einem Hirtenbrief vom 12. November 1999, Putins Schlachtruf in die Kirche und rechtfertigte so den Tschetschenienkrieg. Kirchliche Bestattungsrituale für gefallene Offiziere wurden zu nationalen Manifestationen; Tschetschenienkämpfer erhielten kirchliche Orden. Übrigens haben damals sogar Weltkirchenrat und Konferenz Europäischer Kirchen, die der ROK stets gewogen waren, Patriarch Aleksij in einem gemeinsamen Brief wegen seines martialischen Hirtenbriefes kritisiert.

Nach der Vereidigung Putins als Präsident der Russischen Föderation am 7. Mai 2000 zelebrierte der Patriarch für ihn in der Mariä-Verkündigungs-Kirche im Kreml einen Gottesdienst und segnete Putin. Seine Ansprache gipfelte in den Worten: „Ich versichere Ihnen, dass die ROK der Staatsgewalt unerschütterlich zur Seite stehen wird(...) Möge Sie Gott der Herr segnen und Sie bei den vor Ihnen liegenden Aufgaben zum Ruhme des Vaterlands und zum Wohle der darin Lebenden begleiten.“

Eine neue Staatsideologie mit orthodoxem Kern

Der neue „Russische Patriotismus“ sollte nach dem Zusammenbruch des Kommunismus das ideologische Vakuum füllen und die frustrierten Menschen vom sozialen Absturz und von ihrer neuen Armut ablenken. Die neue Staatsideologie hat einen – demonstrativ herausgestellten – orthodoxen Kern: Die Geschichte Russlands erstrahlt wieder in orthodoxem Glanz, die russische Kultur betont stolz ihre orthodoxe Prägung. Präsident Putin macht die Kooperation mit der Orthodoxen Kirche zu einem tragenden Pfeiler seiner Innenpolitik. Photos von Putin mit dem Patriarchen – in Kirchen, Klöstern, auf Militärparaden und andernorts – gehören heute zum politischen Alltag.

Der Episkopat des Moskauer Patriarchats ist in das diplomatische Protokoll eingebunden und hat gegenüber anderen Religionsgemeinschaften einen bevorzugten Platz. Metropolit Kirill von Smolensk, „Außenminister“ der ROK, und andere Geistliche sind als Referenten in den Diplomatenschulen gefragt. An einer Konferenz „Religion und Diplomatie“ (2001) unterstrich Patriarch Aleksij in der Eröffnungsrede: „Ich möchte dem Außenministerium der Russischen Föderation meine Anerkennung aussprechen dafür, dass es sich stets hilfsbereit zeigt, die Probleme der orthodoxen Gemeinden, Priester und Gläubigen im Ausland lösen zu helfen.“

Staatsgebäude, Staatslimousinen, Büros, Schlachtschiffe, Kasernen, Kampfflugzeuge, Atomwaffen werden von Geistlichen gesegnet; Regimenter stehen vor dem Patriarchen Spalier und führen Prozessionen durch. In der offiziellen „Patriarchats-Zeitschrift“ finden sich häufig militärisch akzentuierte Photos. Überhaupt spielen Militär und Kirche im öffentlichen Leben Russlands heute eine große Rolle. So erklärte Metropolit Kirill schon 1992, dass die Russische Kirche immer auch für die sowjetischen Streitkräfte gebetet habe. Und am 2. März 2000 erklärten Verteidigungsminister und Patriarch gemeinsam: „Kirche und Armee blicken auf viele Jahrhunderte erfolgreicher Zusammenarbeit zurück.“ 1995 bestimmte die ROK einen für die Streitkräfte zuständigen Bischof; seit 1993 schon gibt es (bisher noch zivile) Militärgeistliche. Diese haben allerdings keine seelsorgerliche, sondern „patriotische“ Aufgaben: Sie zelebrieren Liturgien und verschönern militärische Anlässe mit kirchlichem Prunk. Kritische Beobachter meinen, dass diese Militärgeistlichen de facto die sowjetischen „Politoffiziere“ ersetzen, und nennen sie „Politoffiziere im Priesterrock“, weil sie den Rekruten die neue orthodox-patriotische Staatsideologie vermitteln. Muslime weisen darauf hin, dass sich hier wieder die Privilegien der Russischen Kirche zeigen, denn den muslimischen Soldaten stehen keine Geistlichen zur Verfügung.

Zar Nikolaj der Heilige

Auf dem Millenniums-Bischofskonzil des Jahres 2000 hat die Russische Kirche etwa 1100 Glaubenszeugen aus der Sowjetzeit heiliggesprochen – darunter den letzten Zaren, Nikolaj II., und seine mit ihm 1918 ermordeten Angehörigen. Dass orthodoxe Opfer des Sowjetregimes in die Schar der Heiligen aufgenommen werden müssen, war in der ROK bald unbestritten. Streit gab es lediglich um die Kanonisierung der Zarenfamilie. Ende der neunziger Jahre bestand der Episkopat (wie auch heute noch) zu einem erheblichen Teil aus Hierarchen, die noch unter dem Sowjetregime aufgewachsen und im sowjetischen Geist erzogenen waren. Für sie kam eine Kanonisierung des „Blutzaren“, auf dessen Geheiß am Petersburger „Blutsonntag“ (9. Januar 1905) Elitetruppen mehr als hundert friedliche Demonstranten erschossen hatten, nicht in Frage. Nikolaj II. galt ihnen – getreu sowjetischer Sprachregelung – als höchster Repräsentant des zaristischen Imperialismus. Der vielleicht markanteste Gegner dieser Kanonisierung war ausgerechnet der Vorsitzende der Kanonisierungskommission der ROK: der einflussreiche Metropolit Juvenalij von Krutitzy und Kolomna. Das stellte die Heiligsprechung von Zar Nikolaj in Frage. Doch seit 1998 wurden die Argumente der Kanonisierungskommission gegen die Romanows immer vager, der ermordete Zar erhielt immer mehr die Züge eines Heiligen.

Die mittlerweile auf Putins großrussisch-nationale Welle eingestimmte kirchliche Basis verlangte nachdrücklich die Kanonisierung der ermordeten Romanows, von denen bereits Ikonen kursierten. Außerdem übte Putin in diesem Sinne Druck auf seinen Freund, den Patriarchen, aus. Dem Präsidenten lag sehr viel daran, seine imperiale Staatsideologie durch einen heiligen Zaren der Neuzeit zu schmücken – als glänzende orthodoxe Brücke zwischen dem russischen Kaiserreich und dem Reiche Putins. Hatte es Patriarch Aleksij noch abgelehnt, an der Beisetzung der Gebeine der ermordeten Romanows (18. Juli 1998) mitzuwirken, und seinen Bischöfen verboten, an der Totenliturgie nur teilzunehmen, so beschlossen der gleiche Patriarch und die gleichen Bischöfe zwei Jahre später die Kanonisierung der Romanows. Dieser Vorgang symbolisiert eindrücklich das Miteinander von Kirche und Staat – und, genau genommen, die Instrumentalisierung der Kirche durch den Staat.

Nach der „Wende“ entfaltete die Russische Kirche die These, die ehemalige Sowjetunion sei ihr angestammtes „Kanonisches Territorium“, wo nicht-orthodoxe christliche Kirchen, also auch die seit Jahrhunderten in Russland ansässigen Katholiken und Lutheraner, nur Gastrecht genießen. Sie dürfen hier nicht missionieren und schon gar nicht um glaubenslose Russen werben: Das sei „Proselytismus“. Auf den so genannten „religiösen Boom“ anfangs der neunziger Jahre, der freikirchliche Gruppierungen und Neureligionen aus dem Westen und dem asiatischen Südosten nach Russland spülte, reagierte die ROK reflexartig mit Abwehr. Das Religionsgesetz, das Präsident Jelzin im September 1997 unterzeichnete, entspricht genau dem Konzept des „Kanonischen Territoriums“ der ROK: Wie erwähnt, ist in der Präambel dieses Gesetzes die Orthodoxie als wichtigste Religion in der Russischen Föderation herausgestellt. Das Gesetz beschränkt neue Religionsgruppen auf dem „Kanonischen Territorium“ der ROK in ihren Entfaltungsmöglichkeiten.

Das Kanonische Territorium der Russischen Kirche

Das Konzept des „Kanonischen Territoriums“ richtet sich auch gegen die katholische Kirche, die in Russland vor allem als Kirche der Polen wahrgenommen wird – von Polen aber fühlt sich Russland und seine Orthodoxie seit 400 bis 500 Jahren bedroht. Vor diesem Hintergrund kam es zur Konfrontation zwischen dem Moskauer Patriarchat und dem Vatikan, als Rom am 11. Februar 2002 die vier Apostolischen Administraturen in Russland (Moskau, Saratow, Nowosibirsk und Irkutsk) zu vollgültigen Diözesen erhob. Es geht nicht um die höchstens 500 000 Katholiken in Russland (0,4 Prozent der Bevölkerung). Es geht ums Prinzip: Im heutigen Russland soll es keine katholischen Diözesen geben (im Zarenreich gab es solche). Das Moskauer Patriarchat warf dem Vatikan Proselytismus und aggressive Missionsideologie vor.

Russische Beamte, die früher Kommunisten waren und heute orthodox sind, handeln nach den Grundsätzen des russischorthodoxen Kanonischen Territoriums: Aus allen Teilen Russlands kommen Klagen, dass Gesuche christlicher Gemeinden an lokale Behörden, verstaatlichte, aber leerstehende Kirchgebäude anmieten zu dürfen, abgelehnt werden. Es handelt sich dabei natürlich um Gemeinden, die nicht der ROK unterstehen wie orthodoxe Splittergruppen (zum Beispiel Gemeinden der orthodoxen Auslandskirche auf russischem Boden). Die lokalen Beamten sind heute meist auf „ihre“ Patriarchatskirche fixiert und laden vielfach durchsetzungsfähige Vertreter der ROK als Beisitzer in die entsprechende Kommission ein. Diese wollen dann fast jede verstaatlichte christliche Kirche dem Moskauer Patriarchat zuschanzen. Grotesk wird es, wenn die ROK einstige Gotteshäuser der Altgläubigen, Katholiken oder Lutheraner für sich beansprucht.

Die postsowjetische russische Administration hat sich intensiv für die Wiederbeschaffung russisch-orthodoxen Immobilienbesitzes im Ausland eingesetzt – von Kirchen und Klöstern, die russische Emigranten und ihren Nachkommen unter großen persönlichen Opfern 80 Jahre lang unterhalten haben. Diese sind meist Glieder der Russischen Orthodoxen Auslandskirche oder des Pariser russischen Erzbistums. In zentraler Lage westlicher Metropolen stellen diese Immobilien heute unvorstellbare Werte dar, auf die Jelzin und Putin mit fragwürdigen Mitteln ihre Hand zu legen suchten: durch Unterwanderung und Spaltung der Auslandsgemeinden mit Hilfe „neurussischer“ Emigranten, durch von russischen Botschaften finanzierte Prozesse. Pfingsten 1997 und am 6. Januar 2000 besetzten in Palästina Milizen Yassir Arafats Klöster der Auslandskirche, vertrieben die Mönche und sicherten so die „unfreundliche“ Übernahme der Klöster durch das Moskauer Patriarchat. Koordiniert wurden diese Aktionen vom russischen Generalkonsulat in Gaza. Anfang Januar 2000 waren Boris Jelzin und Patriarch Aleksij im Heiligen Land gewesen und hatten Yassir Arafat (sicher nicht ohne finanzielle Zusagen) um wirksame Unterstützung beim Erwerb des fraglichen Klosters der Auslandskirche gebeten – mit Erfolg. Wenn die Russische Orthodoxe Auslandskirche und das Moskauer Patriarchat in diesen Monaten zur Einheit zu finden scheinen, dann ist zweifellos auch das ein Erfolg Putins. Die Schwesterkirchen hatten sich im Kalten Krieg zutiefst verfeindet. Putin aber ist an der Auslandskirche besonders interessiert, weil sie in aller Welt Gemeinden hat: Jedes russische Gotteshaus im Ausland muss eine Vertretung der Russischen Föderation werden, erklärte er 2003. Das Moskauer Patriarchat erwies sich offenkundig lange als störrisch. Deshalb lud Putin (nach inoffiziellen Vorgesprächen) die Bischöfe der Russischen Auslandskirche zum 24. September 2003 ins russische Generalkonsulat nach New York ein, als er an einer UNO-Vollversammlung teilnahm. Der Patriotismus der Auslandskirche traf sich glücklich mit Putins national-orthodoxer Staatsideologie – man verstand sich offenbar prächtig. Schließlich konnte auch die ROK den Wünschen Putins nicht entgegenstehen. Die vielleicht bevorstehende Vereinigung der lange verfeindeten Schwesterkirchen geht eindeutig auf die Initiative des russischen Präsidenten zurück. Bereits in seinem Rechenschaftsbericht zum Jahre 1997 hatte der Patriarch mit Blick auf das Verhältnis von Staat und Kirche erklärt: „Die Zusammenarbeit trägt gute Früchte!“ Von einer Staatskirche kann dennoch nicht die Rede sein. Die ROK muss sich damit abfinden, dass der Präsident zuweilen andere Prioritäten setzt: So ließ er nicht zu, dass Patriarch Aleksij an den beiden offiziellen Vereidigungen des Präsidenten teilnahm: Seinen Segen konnte der Patriarch nur gesondert in einer speziellen kirchlichen Feier spenden. Putins großrussisch-orthodoxe Staatsideologie verbrämt die Russische Föderation mit kirchlicher Gloriole – verstaatlicht zugleich aber die Russische Kirche bis zum gewissen Grade. Die Zusammenarbeit von Russischer Kirche und der Putin-Administration funktioniert gut. Davon profitiert zwar die Kirche in hohem Maße, wobei sie aber Gefahr läuft, vom Staat und seinen Repräsentanten instrumentalisiert zu werden.

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