Was sind eigentlich Marienerscheinungen?Visionäre Ekstasen

Nach Lourdes, Fatima oder Medjugorje wurden jüngst auch Marpingen (Saarland) und Sievernich (Eifel) als Orte von mutmaßlichen Marienerscheinungen genannt. Was ist von solchen Visionen und Auditionen – beziehungsweise den entsprechenden Berichten darüber – zu halten? Eine theologische Aufarbeitung dieser Phänomene steht hierzulande noch aus.

Eine Marienerscheinung ist die Behauptung eines oder mehrerer Menschen, die verstorbene Mutter Jesu als lebendige Person zu sehen und/oder zu hören beziehungsweise dies getan zu haben. Dabei kann die Muttergottes sowohl im Himmel als auf Erden, allein oder mit anderen, im Schlaf- oder Trancezustand des Sehers geschaut werden, in selteneren Fällen auch als Statue, die lebendig wird. Obwohl, oder besser gesagt: Weil die meisten Menschen niemals die verstorbene Maria als derart gegenwärtig empfinden können, haben Marienerscheinungen in markanter Weise die Geschichte der Christen und damit der Menschheit geprägt.

Ein Thema im theologischen Dornröschenschlaf

Die wohl weitverbreitetste Medaille der Welt, die seit 1832 in mehrstelliger Millionenzahl geprägte „Wunderbare Medaille“ stellt eine Marienvision dar; das meistverlegte Literaturwerk des 19. Jahrhunderts ist das in 82 Sprachen übersetzte „Notre-Dame de Lourdes“ von Henri Lasserre (1869); die mit jährlich 20 Millionen Pilgern meistbesuchte Wallfahrtsstätte der Welt ist der Erscheinungsplatz Unserer Lieben Frau von Guadalupe in Mexiko. In Frankreich verbucht nach Paris der Marienvisionsort Lourdes die meisten Übernachtungen und Charterflugpassagiere; und mit sechs Millionen geschätzten Besuchern pro Jahr – unter ihnen übrigens auch zunehmend Hindus – zählt Lourdes fünf- bis sechsmal mehr Besucher als Mekka. Doch was das Leben von Millionen von Menschen wie auch immer mitgeprägt hat, muss deshalb noch lange nicht Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung werden. „Marienerscheinungen bewegten sich, wie andere Formen des Aberglaubens und des Wahns, gleichsam in der Vorhölle der Geschichte. Wurde schon die Rolle der Religion selber im modernen Europa allgemein vernachlässigt, so waren die Ausdrucksformen der Volksfrömmigkeit erst recht die verlorenen Seelen der Geschichtsschreibung.“ So charakterisiert der Historiker David Blackbourn eine Befangenheit, wie sie zum Teil heute noch bei vielen Wissenschaftlern vorherrscht (Wenn ihr sie wieder seht, fragt, wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen – Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1997, 30– 31). Seit der epochalen Hundertjahrfeier der Liebfrauenschauungen von Lourdes (1958) und der zeitgleichen Zensur humanwissenschaftlich vorgehender Theologen wie dem spanischen Jesuiten Carlos Maria Staehlin oder dem französischen Missionar der Unbefleckten Empfängnis, Xavier Recroix, befindet sich die Aufarbeitung von Marienerscheinungen seitens der Theologie ihrerseits in einer Art Dornröschenschlaf.

Auf der anderen Seite sind es einzig Theologen, denen wir, von den ersten Erscheinungsberichten am Ende des vierten Jahrhunderts in Byzanz bis zur Reformation, nicht weniger als 5000 Erzählungen von Marienmanifestationen verdanken – wobei im Osten die Muttergottes ab dem neunten Jahrhundert ihre Gegenwart von den Visionen in die Ikonen verlegt. Sind es anfangs nur Bischöfe und Mönche, deren Lehren und Sitten, Ordens- und Wallfahrtsgründungen auf eigene Marienvisionen und -wunder zurückgeführt werden, so breiten sich mit entsprechenden Vorbilderzählungen Muttergotteserscheinungen schließlich flutartig unter Frauen und Ungebildeten aus. Magische, sozialrevolutionäre und kirchenpolitische Manipulationen, sowie das allgemein Visionen entgegengebrachte Misstrauen der Mystiker führen zu einer strengen Reglementierung der kirchlichen Anerkennung von Marienschauungen. Mit den als Erscheinung der Heiligen Jungfrau von Guadalupe gedeuteten Visionen des neubekehrten Indios Juan Diego an der früheren Kultstätte der aztekischen Muttergottheit in Mexiko greifen die Marienvisionen 1531 auf die Neue Welt über. Während die zusehends volkstümlicheren Marienerscheinungen bei den rationalistischen Theologen und Kirchenführern des 18. Jahrhunderts in Ungnade fallen, erleben sie unter deren von Kirchenverfolgung, Romantizismus und Ultramontanismus geprägten Nachfolgern des 19. und des längsten Teils des 20. Jahrhunderts – dem so genannten „marianischen Zeitalter“ – eine spektakuläre Renaissance. Sind für das 19. Jahrhundert Berichte von Marienvisionen an nahezu hundert Orten Europas überliefert, so soll im 20. Jahrhundert die Heilige Jungfrau an unzähligen Plätzen in der ganzen Welt gesehen worden sein (Vgl. René Laurentin, Multiplication des apparitions de la Vierge aujourd’hui. Est-ce elle? Que veut-elle dire?, 5. Aufl., Fayard, Paris 1995).

Nie dagewesene Begeisterungswellen

Den Einstieg in das industrielle Massenzeitalter vollzogen die Marienerscheinungen 1832, als auf dem Höhepunkt der Pariser Cholera-Epidemie eine „Neue Medaille zu Ehren der Unbefleckten Empfängnis der Allerheiligsten Jungfrau Maria“ angeboten wird. Nur zwei Jahre später haben schon acht Millionen dieser „Wunderbaren Medaillen“ weltweit Abnehmer gefunden. Geprägt wurde sie auf Geheiß einer Marienseherin, deren Identität erst nach ihrem Tod im Jahre 1876 enthüllt wird: Schwester Catherine Labouré aus der Pariser rue du Bac, die daselbst 1830 die Jungfrau geschaut hat. Als 1846 die Hirtenkinder Mélanie Calvat (14) und Maximin Giraud (11) angeben, eine Dame sei ihnen beim Kühehüten auf der Alm von La Salette in den französischen Alpen erschienen, und ihr Bericht 1851 vom Ortsbischof als Marienerscheinung anerkannt wird, löst dies neben heftigen, auch innerkirchlichen Widersprüchen eine nie dagewesene Begeisterungswelle unter Katholiken aus. Noch gewaltiger ist die Reaktion auf die 1858 erfolgten Visionen der 14-jährigen Bernadette Soubirous an der Grotte von Massabielle in Lourdes, im Verlauf derer die Seherin eine spontan als heilkräftig erfahrene Quelle freilegt. Zuerst in Lourdes und Umgebung, dann überall in Europa und der Welt häufen sich darob Menschen – vornehmlich Kinder und Frauen –, die Maria zu sehen vorgeben. Kirchlich anerkannten Schauungen wie Pontmain (Frankreich 1871), Knock (Irland 1879), Fatima (Portugal 1917), Beauraing und Banneux (Belgien 1932 und 1933), Syrakus (Sizilien 1953; weinende Madonnenstatue), Akita (Japan 1973–1981), Betania (Venezuela 1976–1984), Kibeho (Ruanda 1981–1989) steht eine unüberschaubare Menge von kirchlich nicht anerkannten Erscheinungen gegenüber, wo ein Entscheid entweder (noch) aussteht (Marpingen 1876 und 1999), nur Teile der Botschaft anerkannt sind (Amsterdam 1945), nichts Übernatürliches festgestellt (Garabandal [Spanien] 1961– 1965) oder eindeutig ausgeschlossen wird (Medjugorje [Jugoslawien] seit 1981), wo mit Vehemenz verurteilt (San Damiano [Italien] 1964–1981), trotz Verurteilung geduldet (Heroldsbach [Deutschland] 1949–1952) oder anerkennend geschwiegen wird (Soufanieh [Damaskus] 1982–1983).

Den Begriff Halluzination nicht psychopathologisch verengen

An Marienerscheinungen scheiden sich die Geister, und genau deshalb bedarf es hier deren Unterscheidung. Wie Kardinal Joseph Ratzinger, Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, in seinem „Kommentar zum Geheimnis von Fatima“ unter der Überschrift „Die anthropologische Struktur der Privatoffenbarungen“ betont, „müssen wir vor dem Mühen um eine Auslegung der Botschaft (...) ihren anthropologischen (psychologischen) Charakter etwas aufzuhellen versuchen“ (in: Kongregation für die Glaubenslehre: Die Botschaft von Fatima, 13. Mai 2000, Bonn, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, [Verlautbarunschaft (beide Promotion 1996) gen des Apostolischen Stuhls 147], 37). Psychologisch ist das Wahrnehmen einer empirischnicht vorhandenen Person, wie bei Erscheinungen der Fall, als Halluzination zu beburg. Von 2001 bis 2003 war zeichnen, wobei dieser Begriff keinesfalls psychopathologisch eingeengt werdensollte. Denn Halluzinationenkönnen sich nicht nur bei Geisteskrankheiten einstellen, sondern auch im Zusammenhang von veränderten Bewusstseinszuständen, wie sie mit Drogen, Musik, Traumata, hypnotischer Konzentration oder eidetischen Fähigkeiten einhergehen. Bezüglich ihrer „psychischen Bedingungen“ unterscheidet Bernhard Grom „auditive und visionäre Offenbarungserlebnisse (...), die spontan auftreten und bei denen das Überwältigtwerden von einer emotionalen Erregung, die Psychodynamik, im Vordergrund steht“, und solche, „die absichtlich herbeigeführt werden und meistens kognitiv komplex sind“ (Religionspsychologie, Kösel/Vandenhoeck & Ruprecht, München/Göttingen 1992, 302). So stellte sich nur die erste Vision der Bernadette Soubirous spontan ein, als Auswegreaktion auf eine lebensbedrohliche Stresssituation. Ihre 17 weiteren Erscheinungen traten willentlich auf. Dabei benutzte die Seherin rhythmisch-repetitives Rosenkranzgebet und Konzentration auf Kerzenlicht als hypnagogische Hilfsübungen. Ähnlich verlangte 1999 eine der jungen Frauen in Marpingen als Kind ihrer Zeit laute Popmusik, um ihren visionären Zustand erreichen zu können. Dass Marienerscheinungen von den Sehern herbeigeführt und gesteuert werden können, ist ein wichtiges Indiz für deren psychische Gesundheit: „Im Allgemeinen sind Ekstasen um so wahrscheinlicher Symptome einer psychischem Störung, je unkontrollierbarer, der willentlichen und kognitiven Steuerung entzogen sie hereinbrechen und je destabilisierender, das heißt aufwühlender, verwirrender, erschöpfender, vereinsamender und desintegrierender sie wirken. Sie sind um so weniger pathologieverdächtig, je mehr sie kontrolliert, integriert, erfrischend, ermutigend, sozial motivierend und produktiv verlaufen“ (Grom, 272).

Letztgenannte positive Unterscheidungsmerkmale fehlen jedoch den heutigen Marienerscheinungen im Westen. Waren im 19. Jahrhundert noch, genau so wie in der heidnischen Antike, Erscheinungen von übernatürlichen Wesen (Engel, Teufel, Verstorbene, weiße Liebfräuleins, seien sie nun Feen oder Marien – selbst in Lourdes weiß man nicht recht, welches Wesen Bernadette wirklich zu schauen glaubte) fester Bestandteil der Erlebniswelt der europäischen Volkskultur, ist dies heute nicht mehr der Fall. Dies gilt im Gegensatz zu den nicht-westlichen Kulturen, aus denen sich überdurchschnittlich viele Vertreter etwa 1999 in Marpingen einfanden. Dies erklärt zum einen, weshalb bei uns heute Marienvisionen nur noch in sozialen und kirchlichen Randgruppen stattfinden, zum anderen, weshalb Erscheinungen für die Beteiligten keinen psychosozialen Heilungsprozess mehr ermöglichen können: Integrismus und Integration schließen sich gegenseitig aus. Zwar wurden Tranceerlebnisse, seien es visionäre, mediumistische oder schamanistische Ekstasen, immer schon zu überzeugungsverstärkenden Orakelfunktionen instrumentalisiert. Es ist jedoch ein Unterschied, ob strafandrohende Liebfrauen (wie in La Salette, wo sich die Dame über Ackerbau ebenso auslässt wie über die Apokalypse) und blutvergießende Engel (wie bei den Marienschauungen in Fatima) die Interessen, Empfindungen und Glaubensvorstellungen der überwiegenden Gesamtheit einer Orts- und Weltkirche widerspiegeln, oder eben nicht. In letzterem Fall nämlich können öffentlich-rituell ausgetragene Ausnahmezustände als Ausdrucksformen „mystischer Aggression“ (Ioan M. Lewis, Ecstatic Religion. A Study of Shamanism and Spirit Possession, 2. Aufl., Routledge, London 1989, 90) nicht mehr kathartisch funktionieren. Aber genau danach verlangen die Seher unbewusst. „Ein Leben in Abhängigkeit, der Außenseiterstatus und nicht nur die schiere Armut: das sind die immer wiederkehrenden Themen im Leben der Visionäre. Hinzu kommt die Erfahrung der emotionalen Verletzlichkeit durch den Verlust von Angehörigen oder durch brüchige Familienverhältnisse“ (Blackbourn, 46). Diese psychosoziale Charakterisierung der Madonnenseher trifft nicht nur auf das 19., sondern auch auf das 20. und beginnende 21. Jahrhundert zu. Ihre Erscheinungen stellten dabei für viele Seher „den unerwarteten, glücklichen Schicksalsumschwung“ ihres bisherigen „Aschenbrödeldaseins“ dar : „Ansonsten arm, geschunden und machtlos, standen sie jetzt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit“ (52).

Diese Feststellung betrifft allerdings über die Seher hinaus auch ihr soziales, kulturelles und kirchliches Milieu, das sich so gegenüber den irdischen Machthabern – und seien es die kirchlichen – als vom Himmel erhöht ansehen kann. Dies gilt für das saarländische Marpingen im preußischen Kulturkampf ebenso wie für das kroatische Medjugorje im serbischen (Post-)Kommunismus, wo die Franziskanerpatres sich gegen die Bischöfe auflehnen, und natürlich für all jene Erscheinungen, auf die sich kirchliche Sondergruppen in ihrem Kampf gegen das Zweite Vatikanische Konzil stützen. Die Wünsche, Ängste und Traumata, welche individualpsychologisch die Schauungen bei den Sehern auslösen, sind dabei immer auch kollektive Ängste, wie etwa die regelrechten Visionswellen im Vor- und Nachkriegseuropa zeigen. Deshalb üben Marienerscheinungen je nach Ort und Zeit eine magnetische Anziehungskraft auf zum Teil gewaltige Menschenmassen aus.

Alle Marienseher haben sich vorher schon mit den entsprechenden Inhalten befasst

Dass sich seit Lourdes die Visionen vor oftmals ausdrücklich herbeigefordertem Publikum abspielen, ist ein distinktives Novum im Vergleich zu früheren Zeitaltern. Psychologisch gesehen stellt das Erscheinungspublikum dabei für die Visionäre eine motivierende Kontrollgruppe dar, deren Wirkung diejenige ihrer privaten Seelenführer ergänzt. Bezüglich der Qualität ihrer Supervision gibt es jedoch große Unterschiede zu vermerken: Einer Bernadette, die erst nach ihrer ersten Vision zum Beichtvater geht, der seinerseits seine Vorgesetzen zu Rate zieht, tritt die gewaltige Mehrheit jener Fälle entgegen, wo die intimen Interaktionen zwischen Seelenführer und Seherin deren Schauungen zum Teil überhaupt erst auslösen. Doch steht fest, dass alle Marienseher sich vorher schon mit jenen Inhalten befasst haben – und sei es auch nur passiv im Religionsunterricht –, die sie nachher in ihren Visionen und Auditionen wiedergeben. Es wird von der Kirche ja auch ausdrücklich erwartet, dass bei Marienerscheinungen nur Glaubensinhalte vorgetragen werden, die schon vorher bekannt waren. Dann können die ab Lourdes jedesmal flugs herbeiströmenden Teilnehmer die Erscheinungen zu regelrechten Happenings und interaktiven Performances ausbauen, welche Woodstock und Aktionstheater als gekünstelte Nachahmungen erscheinen lassen. Seherinnen wie Bernadette entpuppen sich in den Augen von hingerissenen Zeitgenossen als wunderbare Schauspielerinnen, während Lucias Fabulierlust auch schon vor ihren Erscheinungen bekannt war. Die sukzessive Preisgabe von weltbewegenden Geheimnissen, wie sie Mélanie in La Salette oder Lucia in Fatima übermittelt worden wären, erlauben es überdies, auch nach dem Event ganze Verehrerscharen in Atem zu halten. Der Kult, der im 20. Jahrhundert um Pop- und Filmstars entsteht, entwickelte sich als Prototyp zuerst um die modernen Marienseher, mit allen Vor- und Nachteilen für die Betroffenen, die sehr unterschiedlich damit umzugehen vermögen.

Haben die Schauungen von La Salette und Lourdes noch die bedeutendsten Romanciers inspiriert, so traten um die Jahrtausendwende Visionsmadonnen plötzlich bei techno-trendigen Designern etwa der Pariser Place St-Sulpice in Erscheinung – zeitgleich zum Härtelwald in Marpingen. Religiöse Reaktion und alternative Avantgarde bedienen sich gleichsinnig entfremdender Marienvisionen zur Abhebung gegen die bürgerliche Behaglichkeit. Dabei benutzen moderne Marienerscheinungen vorbehaltlos die kommunikationstechnischen Errungenschaften jener Moderne, gegen die sie sich abzugrenzen glauben. So formulierte beispielsweise der Verantwortliche eines ultrakonservativen Supportervereins die Erscheinungen der Muttergottes in Marpingen: „Wenn die Seherinnen online sind...“. Erst dadurch, dass Lourdes bequem mit der Eisenbahn und nunmehr mit dem Flugzeug zu erreichen ist, konnte es zu Europas größtem Wallfahrtsort werden – auch oder gerade weil die Verantwortlichen im Heiligtum ihre Botschaft stets den sich wandelnden kirchlichen und gesellschaftlichen Erwartungen anzupassen wussten. So haben dort heute Bekehrung zu Gott und Hinwendung zu den Kranken das Spektakulär-Wundersame in den Hintergrund gedrängt. Wem es derweil nach Wunder verlangt, der tourt heutzutage dank spezialisierter Reiseunternehmen zu immer neuen Visionsstätten, auch oder gerade wenn diese kirchlich nicht anerkannt worden sind. Während 1999 in Marpingen die örtlichen Autoritäten – fromme Marienverehrer, aber sozial und kirchlich in der Mitte angesiedelt – mit aller Kraft gegen den „Erscheinungsrummel“ ankämpften, verschmäht das am Rande des Wohlstandseuropa gelegene Medjugorje das Millionengeschäft mit den Pilgern offenbar nicht. Die dort immer noch zu festgelegter Stunde stattfindenden Manifestationen der Muttergottes, die anthropologische Dynamik des Wallfahrens und des Betens sowie eine als idyllisch empfundene Landschaft liefern Suchenden genau jenen andauernden Ausnahmezustand, nach dem sie offenbar so verlangen. Deshalb können auch die kanonischen Negativurteile der zuständigen Bischöfe, ja selbst das Verbot kirchlicher Wallfahrten seitens der Glaubenskongregation (wie im Falle Medjugorje) nicht den modernen Pilger abschrecken, der auf der Suche nach Erbauungs- und Heilungserlebnissen selbst entscheidet, wann er der Kirche Folge leistet, und wann nicht.

Gottes übernatürliche Gnade ist im menschlichen Tun zu suchen

Umgekehrt kann die kirchliche Anerkennung einer Marienerscheinung keinesfalls zum Glauben an sie verpflichten. Lediglich folgendes will damit ausgesagt sein: „Die betreffende Botschaft enthält nichts, was dem Glauben und den guten Sitten entgegensteht; es ist erlaubt, sie zu veröffentlichen, und die Gläubigen sind autorisiert, ihr in kluger Weise ihre Zustimmung zu schenken“ (Kongregation für die Glaubenslehre, 36). Wohl bemerkt betrifft dies nur den Inhalt der übermittelten Botschaft, nicht die Faktizität des Erscheinens Marias. Eine etwaige Heiligsprechung der Seher will ihrerseits nur die Person der Seher, nicht aber deren Schauungen zur Ehre der Altäre erheben. Kann auch der Inhalt einer Botschaft unbeschadet seines Ursprungs theologisch wahr sein, so bringt es doch die Kirche stets in Verlegenheit, wenn etwa Maximin von La Salette dem Pfarrer von Ars oder Margaretha Kunz von Marpingen später gestehen, sie hätten ihre Erscheinungen nur erfunden, während ihre vermeintlichen Schauungen dem Volke in Zeiten schwerster Bedrängnis unleugbar wertvollen Trost und Widerstandskraft verliehen haben (vgl. Bernhard Schneider, „Un Lourdes allemand? Le ,cas‘ Marpingen (1876 et 1999) et le dossier de l’expertise ecclésiastique“, in: Dondelinger, 181– 204).

„Das ist der Finger Gottes“ (Ex 8,15) – diese Schlüsselaussage des bischöflichen Anerkennungsschreibens (1862) der Visionen von Lourdes stellt über alle pastoralen Anliegen hinaus die fundamentale Frage nach Gottes Wirken in dieser Welt. Getreu dem christologischen Paradigma der ungetrennten und unvermischten Einheit zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen ist aber Gottes übernatürliche Gnade nicht über oder neben, sondern im menschlichen Tun zu suchen. Die modernen Marienerscheinungen sind dabei als leibliche Vollzüge geistlicher Inhalte zu verstehen, eine Art interaktiver Darstellungskunst und archaischer Liturgie, deren geglücktes Gelingen wesentlich vom menschlichen Unbewussten abhängt (vgl. Patrick Dondelinger, „Ana Maria Mendieta. Körper, Kunst und Kult“, in: Peter Fischer [Hg.], Ana Mendieta. Body Tracks, Kunstmuseum Luzern, Luzern 2002, 57–73). Stellt dieses Geschehen anthropologisch nicht Unsinn oder Irrsinn, sondern Sinn dar, dann kann es auch theologisch sinnvoll sein. Dazu müssen allerdings Erscheinungen zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit den richtigen Personen stattfinden. Dies war 1858 in Lourdes eindeutig der Fall – hundert Jahre später weitaus weniger.

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