Österreich am Ende des Jahres 2004Hoffnung auf grundlegende Besserung

Österreich ist durch die EU-Erweiterung vom 1. Mai 2004 noch stärker in die Mitte Europas gerückt. Von der Alpenrepublik gehen schon seit Jahren viele politische, wirtschaftliche und auch kirchliche Initiativen in Richtung der postkommunistischen Nachbarländer aus. Allerdings ist man sich in Österreich der neuen Verantwortung oft noch nicht ausreichend bewusst.

Das nun zu Ende gehende Jahr 2004 ist ein großes, ein denkwürdiges Jahr für Europa gewesen. Denn entgegen allen Ängsten und den vielfach wuchernden Ressentiments zum Trotz war die Osterweiterung der Europäischen Union ein entschlossener und erfolgreicher Schritt zu einem ganzen und freien Europa, wie Timothy Garton Ash, der klarsichtige Chronist der Europäischen Union, schreibt. Tatsächlich haben sich noch niemals zuvor in der europäischen Geschichte so viele Länder aus der Mitte und aus dem Osten unseres Kontinents mit ihren westlichen Nachbarn auf friedliche Weise zusammengeschlossen wie jetzt – als Demokratien in einer gemeinsamen politischen, ökonomischen und sicherheitspolitischen Gemeinschaft, mit gleichen Rechten und Pflichten.

Österreich in der Mitte Europas hat es nach einer längeren Schrecksekunde, plötzlich wieder zum Handeln nicht nur für sich selbst, sondern auch für einen größeren europäischen Zusammenhang berufen zu sein, zustande gebracht, an seine große europäische Tradition anzuknüpfen und diese für die Erfordernisse der neuen Zeit zu adaptieren. So hat der damalige Bundespräsident Thomas Klestil schon vor Jahren damit begonnen, die Staatsoberhäupter aus ganz Ost-Mitteleuropa zu regelmäßigen gemeinsamen Treffen und Konferenzen einzuladen, die sich bald großer Beliebtheit erfreuten und von denen so manche Initialzündung für die Zukunft ausgegangen ist. Auch kulturell hat Österreich verstanden, noch stärker als bisher zu einem initiativen und interessanten Mittler zwischen Ost und West zu werden. Doch eine besonders unerwartete Überraschung war es, dass Österreich, das lange den Ruf hatte, in der Wirtschaft ein etwas schwächlicher Kombattant zu sein, in dem neuen, europäischen Zeitalter plötzlich ganz neue Initiativen auch in der Ökonomie zu entwickeln begann.

So konnte Österreich nach dem Fall der ökonomischen Grenzen zu seinen Nachbarn seine Exporte in die angrenzenden Länder in Ost- und Südosteuropa in geradezu stürmischer Weise ausweiten, und ein ganz besonders spektakulärer Erfolg gelang der österreichischen Mineralölfirma ÖMV, die die Mehrheitsanteile sehr vieler rumänischer Erdölquellen erwerben konnte. Auch in anderen Bereichen, etwa in der Festplattenproduktion, konnten österreichische Unternehmen ihre Position in den ost- und südosteuropäischen Ländern wie in anderen Teilen der Welt beträchtlich ausweiten. Vor allem in Nachbarstaaten wie Ungarn, Kroatien und der Slowakei steht Österreich heute in seinen Handelsbeziehungen ganz vorne in einer Spitzenposition.

Signale in Richtung Südosteuropa

Auch außenpolitisch ist das nun auslaufende Jahr für Österreich sehr positiv verlaufen, und die Berufung von Außenministerin Benita Ferrero-Waldner zur Außen-Kommissarin der EU war zweifellos ein eindrucksvoller Erfolg für die Politik des Ballhausplatzes in Wien. Und wenn erst dieser Tage Bundeskanzler Wolfgang Schüssel von den Spitzen der Europäischen Volkspartei zum Türkei-Koordinator nominiert und damit beauftragt worden ist, bis zum „Türkei-Gipfel“ im Dezember eine gemeinsame europäische Position für diese überaus heikle Frage zu erarbeiten, dann muss dies wohl als ein besonderes Zeichen der Wertschätzung und des Vertrauens gewertet werden.

Vielleicht noch wichtiger für die Zukunft könnten eine ganze Reihe von Zeichen sein, die in den vergangenen Wochen von Österreich in Richtung Südosteuropa ausgegangen sind, wo Österreich einerseits immer schon beträchtliches Ansehen genossen hat, andererseits aber in einzelnen Regionen mit ressentimentgeladenen Reaktionen und Erinnerungen im Gefolge einer nicht immer sehr glücklichen Handlungsweise in der Vergangenheit kämpfen muss. So bemüht man sich in Wien schon seit einiger Zeit sehr intensiv, gerade in diesen Regionen mit Gesten der Verständigung für ein neues, freundlicheres Klima zu sorgen. Dies gilt vor allem für Slowenien, mit dem es schon seit Jahren immer wieder Spannungen wegen der slowenischen Volksgruppe in Südkärnten gibt, und wo das Ringen um die Erhaltung eines freien und ungeteilten Kärnten nach dem Ersten Weltkrieg und im Gefolge des Zweiten Weltkrieges auf beiden Seiten manche Wunden hinterlassen hat. Noch ärgere historische Belastungen sind im Verhältnis zu Serbien zu berücksichtigen, mit dem schon in den Tagen der alten Habsburger-Monarchie wiederholt ernste Konflikte ausgefochten wurden, die dann bekanntlich im Jahr 1914 in die Katastrophe des Ersten Weltkrieges hineingeführt haben.

Die österreichische Diplomatie bemüht sich daher jetzt, gerade gegenüber diesen Nachbarn ein hohes Maß an Verständigungsbereitschaft zu signalisieren, und so kam es erst kürzlich zu einem Ereignis, das ohne Beispiel ist: Zum erstenmal in der Geschichte wurde ein Kärntner Slowene zum österreichischen Botschafter in der Republik Slowenien ernannt und nach Ljubljana (Laibach) entsandt. Der neue österreichische Botschafter, als Kind zweisprachig aufgewachsen, hatte einen Vater, der Leiter der Schulabteilung für die slowenische Minderheit im Kärntner Landesschulrat und Vorsitzender des Rates der Kärntner Slowenen war. Valentin Inzko, ein überzeugter Katholik, war viele Jahre zusammen mit einem Kärntner deutscher Zunge im Schlichtungsausschuss des Kärntner Diözesanrates für die Beilegung ethnischer Differenzen in Kärntner Pfarreien tätig. Seinem Sohn hat Inzko nicht nur seinen Vornamen weitergegeben, sondern auch ein umfangreiches „Versöhnungs-Knowhow“. Und so setzt der Sohn Valentin Inzko jetzt das Werk seines Vaters als österreichischer Botschafter in der slowenischen Hauptstadt fort.

Es sind aber auch vielfältige Bemühungen im Gange, die österreichischen Beziehungen mit Serbien, die im alten Österreich einige Zeit hindurch den Charakter einer Erbfeindschaft annahmen, allmählich in neue Bahnen zu bringen. So erregte es einiges Aufsehen, dass kürzlich eine repräsentative Delegation aus der Steiermark unter Führung von Landeshauptfrau Waltraud Klasnic zu einem offiziellen Besuch nach Serbien reiste, und dort nicht nur die Hauptstadt Belgrad, sondern auch die wichtige Industriestadt Novisad besuchte, wo sich die Festung Peterwardein erhebt, die noch aus der Zeit Prinz Eugens mit vielfältigen österreichischen Erinnerungen verbunden ist. Außerdem stockte die Regierung in Wien das EU-Kontingent der österreichischen Bundesheersoldaten im Kosovo auf, die dort gemeinsam mit Soldaten aus Deutschland und der Schweiz stationiert sind, um die friedliche Entwicklung in dieser unruhigen Provinz zu sichern.

Die Entwicklung der FPÖ als Lehrbeispiel

Aber auch private Initiativen fördern von Österreich aus die Sorge für Menschen in den neuen EU-Ländern, so unter anderem die „Bischof-Johann-Weber-Stiftung“, die dem Grazer Diözesanbischof anlässlich seines silbernen Bischofsjubiläums vor zehn Jahren zum Geschenk gemacht wurde, und die bisher 75 jungen Menschen aus zahlreichen ost- und südosteuropäischen Ländern ein Studium an verschiedenen Universitäten und Akademien ermöglicht hat. Diese Studenten gehören der römisch-katholischen, der griechisch-katholischen, mehreren orthodoxen und auch der evangelischen Kirche an, wobei Rumänien, Ungarn und Polen am stärksten in der Vielfalt der Länder vertreten sind, deren Studierende durch die Stiftung gefördert worden sind. Bischof Weber, inzwischen emeritiert, sagte bei der Zehn-Jahres-Feier des Fonds, er sehe diese Stiftung als Frischwasserquelle für eine ganze Reihe von Ländern und als Beitrag zur Freiheit des Denkens. So vielversprechend diese gesamte Entwicklung mit all ihren Facetten ist – es ist seltsam, dass sie gerade in Österreich keineswegs immer einhellig als so positiv empfunden wird, wie man annehmen sollte. Denn nicht wenige Österreicher haben den Hang, sich mit einer gewissen Vorliebe auf ihre ureigenen Probleme zurückzuziehen und die Sorgen der anderen Völker nicht gar so wichtig zu nehmen. Offenbar wirkt da bei nicht wenigen Österreichern der Umstand nach, dass die rot-weißrote Republik allzu lange die Folgen einer von außen her diktierten Großmachtpolitik anderer Länder zu ertragen hatte.

Auf diese Weise lebten die Österreicher Jahrzehnte hindurch im Windschatten der Weltpolitik, die sie meist nur als passive Zuschauer oder gar als Leidtragende miterlebten, so dass sie kaum Lust verspürten, ihre Zuschauerloge zu verlassen und sich die Finger durch aktives Mittun zu verbrennen, wie das in der Vergangenheit so manchesmal geschehen ist. Dazu kommen so manche unleugbaren Belastungen durch den Fortschritt der europäischen Integration, die argen Missmut erzeugen, wenn man beispielsweise nur den lawinenartigen Zuwachs des Lastauto-Schwerverkehrs auf den österreichischen Straßen und Autobahnen der Alpen-Transversalen bedenkt, der immer wieder Proteste der betroffenen Bevölkerung auslöst, vor allem in Tirol entlang der Brenner-Autobahn, doch nicht nur dort. Außerdem gibt es das Phänomen, dass allzu viele Politiker in Österreich ähnlich wie in anderen europäischen Ländern da und dort der Versuchung nachgeben, den Verantwortlichen der jeweils nächst höheren europäischen Ebene alle Verantwortung für unpopuläre Maßnahmen zuzuschanzen, und sich selbst in die bequeme Rolle eines populistischen Kritikers vor Ort zurückzuziehen. Diese latente Versuchung wird in Österreich noch zusätzlich durch die Regierungsbeteiligung der Freiheitlichen Partei gefördert, die einen nicht zu unterschätzenden Unsicherheitsfaktor für die gesamte österreichische Politik mit sich bringt. Denn nach den anfänglich großen Wahlerfolgen Jörg Haiders zu Beginn seines Einstiegs in die österreichische Bundespolitik durch die Koalition mit der ÖVP im Jahr 2000 folgten bald vernichtende Wahlniederlagen der Haider-Partei auf Grund ihrer ausgeprägten Demagogie und der ausgeklügelten Strategie von Bundeskanzler Schüssel.

Unter dem Eindruck dieser Rückschläge und der zunehmenden Verunsicherung ihrer eigenen Anhänger fragt sich die FPÖ in vielen Fällen nur noch, welche taktischen Vorteile sie aus diesem oder jenem Beschluss der Regierung ziehen könnte, und ihre primäre Sorge ist es kaum mehr, jene Maßnahmen zu fordern oder zu unterstützen, die von der Sache her unbedingt notwendig wären. Genau diese Art der Politik hat die Haider-Partei weithin um ihre Glaubwürdigkeit gebracht, und daher hat die FPÖ eine ganze Kette von Wahlschlappen hinnehmen müssen, deren Ende einstweilen noch gar nicht abzusehen ist. So ist die Entwicklung der Freiheitlichen Partei in Österreich zu einem Lehrbeispiel dafür geworden, wie populistische Parteien gebremst werden können, wenn sie Verantwortung übernehmen müssen und die Wähler dabei entdecken, dass zur Lösung von Problemen demagogische Kunststücke in der Regel nicht ausreichen.

Für die Regierung Schüssel stellt sich trotz dieser insgesamt recht günstigen Lage intern die Frage, wie lange sie noch die Koalition mit der Freiheitlichen Partei weiterführen will, die beständig die Gefahr eines plötzlichen Auseinanderbrechens aus irgendeinem nicht vorhersehbaren Grund in sich trägt. Bislang zeigt sich allerdings keine tragfähige Alternative. Denn jeder Versuch der ÖVP, etwa mit der Sozialdemokratie wieder ins Gespräch zu kommen, ist einstweilen ohne Erfolg geblieben. Außerdem ist das Misstrauen und der Widerwille in breiten Kreisen der Bevölkerung gegenüber einer etwaigen Neuauflage der Koalition mit den Sozialdemokraten zur Zeit wohl noch zu stark, und die langen Jahre mit allzu starren Koalitionsvereinbarungen zwischen „rot“ und „schwarz“ wirken eben noch als eindringliches Warnzeichen nach. Auf Grund dieser Situation hat es bereits mehrmals Versuche von Seiten der ÖVP gegeben, mit den Grünen ins Gespräch zu kommen, und so hat sich zur allgemeinen Überraschung schon vor einiger Zeit in Oberösterreich eine schwarz-grüne Landesregierung konstituiert, die bisher überraschend gut funktioniert. Zu diesem Erfolg hat zweifellos der tüchtige oberösterreichische Landeshauptmann Josef Pühringer beigetragen, der gerade im grünen Themenbereich persönlich sehr stark engagiert ist. Auf Bundesebene scheint jedoch für einen ähnlichen Versuch die Zeit noch nicht reif zu sein, der allerdings vielen Anzeichen zufolge gerade von katholischen Wählern als durchaus interessant aufgenommen würde.

Bei allen Überlegungen über künftige Entwicklungen kommt immer wieder aufs neue jener Politiker ins Gespräch, der auf Seiten der ÖVP immer schon für Überraschungen gut war: Es geht hier um den seinerzeitigen „schwarzen“ Vizebürgermeister von Wien, Erhard Busek, dem in der traditionell „roten“ Bundeshauptstadt schon vor Jahren erstaunliche Wahlerfolge für die Volkspartei gelungen sind, und der sich als einfallsreicher Vizekanzler einen Namen gemacht hat. Innerhalb der ÖVP gilt er aber manchen Spitzenfunktionären als allzu unkonventionell und „fortschrittlich“, und so wurde er auf die europäische Ebene gehievt, wo er nun schon einige Jahre als Beauftragter der EU für den außerordentlich komplexen Raum Südosteuropas auf dem Balkan verantwortlich ist. Busek zählte zusammen mit dem bisherigen EU-Kommissar Franz Fischler lange Zeit zum innersten Kreis der „Europäer“ innerhalb der ÖVP. Vor allem diese beiden Politiker waren es, die viele Jahre hindurch ihre Landsleute immer wieder beschworen, sich nicht von ständig neuen Gefahren- und Untergangsprophezeiungen am europäischen Horizont verwirren zu lassen, sondern doch die ganz neuen und konkreten Chancen und Möglichkeiten im neu entstehenden Europa zu nützen.

Der Tod von Kardinal König hat alles überschattet

In diesem Punkt verstand sich Fischler sehr gut mit dem langjährigen Bundespräsidenten Thomas Klestil, der bis zu seinem plötzlichen Tod im vergangenen Sommer ebenfalls immer wieder gemahnt hatte, Österreich dürfe die neuen Chancen im größeren Europa ja nicht verschlafen. Klestil harmonierte von Anfang an mit Bundeskanzler Schüssel nicht allzu gut, und er hatte vor allem einen ausgeprägten Widerwillen gegen die Regierungskoalition mit der Freiheitlichen Partei, so dass er in seinem Amt als Bundespräsident eine Zeit lang sogar daran dachte, Franz Fischler zum neuen Bundeskanzler zu bestellen. Die überragenden Wahlerfolge von Wolfgang Schüssel verhinderten jedoch jede Konkretisierung derartiger Überlegungen, bis der unerwartete Tod von Thomas Klestil einen Schlussstrich unter alle derartigen Gedanken zog, und eine vorgezogene Bundespräsidentenwahl im vergangenen Sommer notwendig wurde. Alle diese Ereignisse im jetzt zu Ende gehenden Jahr wurden schließlich überschattet vom Tod des beliebten Kardinals Franz König, von dem unzählige Menschen in einer ergreifenden Begräbnisfeier im Wiener Stephansdom Abschied nahmen. Der Kardinal hatte sich sein Leben lang für die Einheit der Christen über alle konfessionellen Grenzen hinweg sowie für das Gespräch und die Annäherung von Juden, Christen und Muslimen in unserer eins werdenden Welt und sehr nachdrücklich für die Erneuerung der Kirche im Sinn des Zweiten Vatikanischen Konzils eingesetzt. Als schließlich in den achtziger Jahren die Kirchenführung in Rom dazu überging, für einige Zeit nur noch betont konservative, ja restaurative Bischöfe in Österreich zu ernennen, setzte der Kardinal deutliche Zeichen, die erkennen ließen, wo sein Herz schlug. Denn im Zweifel war Kardinal König immer auf Seiten der Menschen, die sich bedrückt fühlten, und in den Reihen derer, die neue Horizonte anvisierten. Und es war bewegend, dass bei dem eindrucksvollen Begräbnis seines Vorgängers der gegenwärtige Erzbischof von Wien, Kardinal Christoph Schönborn, Worte fand, die aufhorchen ließen, weil sie Verständnis für die aktuellen Sorgen des breiten Kirchenvolkes signalisierten, und gleichzeitig auch das private Drama des verstorbenen Bundespräsidenten in nobler Weise kurz erwähnten, der geschieden und wiederverheiratet war, was ihm von katholischen Kernschichten übel genommen wurde. Die Tatsache, dass in Österreich jetzt schon fast jede zweite Ehe geschieden wird, ist jedoch ein trauriges Faktum, das nicht nur die so genannten Prominenten betrifft.

Mit der Bundespräsidentenwahl im Herbst ist schließlich ein neuer Abschnitt in der politischen Entwicklung Österreichs eingeleitet worden. Als Kandidaten für diese Wahl stellten sich für die ÖVP Außenministerin Benita Ferrero-Waldner, die in ihrem Kampf gegen die Sanktionen der EU-Staats- und Regierungschefs beträchtliche Popularität gewonnen hatte, und für die SPÖ der Präsident des Nationalrates, Heinz Fischer, ein überzeugter Sozialdemokrat und eloquenter Parlamentarier, der nach einem moderaten Wahlkampf das Rennen knapp für sich entscheiden konnte. Bei diesem Wahlergebnis dürfte das Bemühen nicht weniger Wähler ausschlaggebend gewesen sein, die überwiegend „schwarze“ Regierungsmannschaft durch einen kräftigen roten Tupfen an der Staatsspitze wenigstens etwas auszutarieren. Der neue Bundespräsident sagte nach seiner Wahl zur Charakteristik seiner Person, er habe sich immer bemüht, objektiv und ausgleichend zu wirken, und er agiere mit Vorliebe im Hintergrund, weil sich im Scheinwerferlicht die Standpunkte nur verfestigen würden. So habe er im Lauf der vergangenen Jahrzehnte für fünf verschiedene Parteivorsitzende der SPÖ immer wieder Kompromisspapiere formuliert und auf Parteitagen die Antragsprüfungskommission geleitet, damit „bloß nichts Unvorhergesehenes passiert“.

Wenige Tage nach der Amtsübernahme durch Heinz Fischer in der Präsidentschaftskanzlei in Wien sagte Fürst Karl Schwarzenberg, ein Nachkomme des österreichischen Feldmarschalls, der 1813 zusammen mit den russischen und preußischen Armeen Napoleon die entscheidende Niederlage in der Völkerschlacht bei Leipzig zugefügt hatte, er vermisse in Österreich den Mut zur Größe: „Dass man mit souveräner Gelassenheit sagt: Ja, wir sind ein kleines Land – na und? Dieses ,Na und?‘, das fehlt mir.“ Im gleichen Interview sagte Schwarzenberg, der im Zweiten Weltkrieg nach der Enteignung der Schlösser seiner Familie in Böhmen das Land wie alle anderen Deutschsprechenden verlassen musste und nach dem Zusammenbruch des KP-Regimes in der CSR im Jahr 1989 von Václav Havel, dem ersten wieder frei gewählten Präsidenten der Tschechischen Republik, zum Kanzler in Prag ernannt wurde, im Zusammenhang mit dem Staatsbegräbnis von Bundespräsident Klestil: „Wir sind immer noch ein barockes Land, in dem Begräbnisse große Feste sind, die ja irgendwie fröhlich enden. Tod und Erlösung. Da geht es tief hinein in die katholische Seele. Wir sind zwar nicht mehr fromm und schimpfen fallweise über die Kirche, aber Restbestände sind in uns verwurzelt. Und die Predigt von Kardinal Schönborn aus diesem Anlass fand ich bemerkenswert, man könnte sie in manche Zimmer hängen...“ Mit diesen Worten wurden Zusammenhänge angesprochen, die für das Verständnis Österreichs wichtig sind, und es war gewiss mehr als ein Zufall, dass beim Staatsbegräbnis für Thomas Klestil in Wien mit sehr vielen Trauergästen aus aller Welt nicht nur Russlands Präsident Wladimir Putin, sondern auch eine Delegation aus den USA gekommen ist, die unter Führung des Gouverneurs von Kalifornien, Arnold Schwarzenegger, stand, einem gebürtigen Österreicher. Er sagte bei dieser Gelegenheit: „Ich war immer ein Österreicher, ich bin immer ein Österreicher und werde immer ein Österreicher sein. Das ist das wichtigste. Ich freue mich jedenfalls, dass ich gleichzeitig mit dem israelischen Staatspräsidenten nach Wien komme. Denn ich halte es für außerordentlich wichtig, dass Israel und Österreich zwar ihre Vergangenheit nicht vergessen, jedoch eine gemeinsame Zukunft ansteuern.“

Eine besorgniserregende Welle von Kirchenaustritten

In der Zwischenzeit hatte die österreichische Kirchenkrise immer dramatischere Konsequenzen heraufbeschworen. Mit der Ernennung des Ordenspriesters Hans Hermann Groer, der in Wien bis dahin faktisch unbekannt gewesen war, und der gegen den Willen der Ortskirche einfach zum Erzbischof und schließlich zum Kardinal von Wien, also zum Nachfolger von Kardinal König ernannt worden ist, begann das unglaubliche Drama, das schon wenige Jahre später mit dem Rücktritt Groers nach massiven Beschuldigungen wegen angeblicher pädophiler Übergriffe beendet werde musste, ohne dass geklärt wurde, was wirklich geschah. Mittlerweile war aber schon der zunächst in Regensburg tätige Philosophieprofessor Kurt Krenn erst zum Weihbischof von Wien und dann zum Diözesanbischof von St. Pölten ernannt worden, wieder gegen den Willen der betroffenen Ortskirche. Hier wurde offensichtlich ein geheimer „Feldzugsplan“ exekutiert, der in der Folge auch eine ganze Reihe weiterer österreichischer Diözesen heimsuchte. So ist in den folgenden Jahren unter ähnlich harschen Bedingungen ein neuer Erzbischof in Salzburg bestellt worden, es folgten zwei neue Militärbischöfe, ein neuer Weihbischof in Salzburg, sowie der neue Diözesanbischof in Vorarlberg. Er wurde jetzt, am Höhepunkt der schweren Krise, von Rom als Visitator nach St. Pölten geschickt, wo er nach eingehender Überprüfung zunächst die Schließung des Priesterseminars anordnete und schließlich den Rücktritt von Bischof Krenn veranlasste. Dies ist allerdings erst nach einer persönlichen Intervention von Johannes Paul II. gelungen, der Bischof Krenn zu einem solchen Rücktritt persönlich aufforderte. Kurz darauf reagierte Krenn mit seinem nun endlich Wirklichkeit gewordenen Rückzug, der in der Kirche Österreichs mit ebensolcher Erleichterung zur Kenntnis genommen wurde wie der plötzlich radikal geänderte Ernennungsmodus für die neuen Bischöfe in Österreich, der nun auf einmal jede Bevormundung der betroffenen Ortskirchen unterlässt, und keinen wie immer gearteten ideologischen Beigeschmack mehr aufweist. Auf diese Weise sind in der Tat mehrere ganz vorzügliche Bischöfe ernannt worden, so unter anderem der neue Salzburger Erzbischof Alois Kothgasser und der neue, junge Tiroler Diözensanbischof Manfred Scheuer, so dass es endlich die Hoffnung auf eine grundlegende Verbesserung der kirchlichen Situation in Österreich gibt.

Kaiser Karl I. war in Österreich nie sonderlich beliebt

In einem Interview für die Tageszeitung „Die Presse“ erklärte der Wiener Pastoraltheologe Paul Zulehner zu diesem Thema, das viele österreichische Katholiken zutiefst verletzte und in die innere Emigration trieb, Bischof Krenn habe so etwas wie seine Selbstabsetzung betrieben, indem er überall Priester hinsetzte, wobei Quantität vor Qualität ging. Er habe sich außerdem von der österreichischen Bischofskonferenz und ihren Beschlüssen abgekoppelt und bemühte sich, seine Mitarbeiter in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihm zu halten: „Das ist ihm am Schluss auf den Kopf gefallen, da sind ihm dann andauernd Fehlgriffe personalpolitischer Art passiert.“ Zur Person des Visitators und neuen St. Pöltener Bischofs Klaus Küng meint Prof. Zulehner: „Es müsste ihm unbedingt gelingen, sich von dem Verdacht loszulösen, doch nur die Fortsetzung des alten Kirchenkurses zu sein. Dann wäre er nicht die Lösung, sondern nur die Verlängerung des Problems. Die Stunde der Wahrheit kommt, ob er Brückenbauer ist.“ Mittlerweile ist es zu einer neuen, besorgniserregenden Welle von Kirchenaustritten vor allem in St. Pölten und in Wien gekommen. So hat beispielsweise in den Bezirksämtern von Wien die Zahl der Kirchenaustritte im Juli um 36,2 Prozent und im August gar um 39 Prozent zugenommen. Kardinal Schönborn bemerkte unter dem Eindruck dieser niederschmetternden Ziffern, die letzten Wochen seien ihm wie „Blei in den Flügeln vorgekommen“. Er erinnerte dann aber an die positiven Erlebnisse und Erfahrungen mit dem Mitteleuropäischen Katholikentag sowie an die Stunden des Abschieds mit Kardinal König und Bundespräsident Klestil, die für viele eine neue Erfahrung von Kirche gewesen seien. Schönborn: „Und dann dieser nicht enden wollende Eisregen den ganzen Sommer über. Noch und noch Skandale, negative Schlagzeilen und bei vielen Menschen ein: Mir reicht’s!“ Vor Religionslehrern zeigte der Wiener Kardinal Verständnis für die Verärgerung, den Zorn und die Resignation unter engagierten Christen angesichts der jüngsten Vorkommnisse. Katholiken sollten aber „trotz aller Krisen in der Kirche nicht jammern, sondern positiv nach vorne blicken“. Mittlerweile kündigte Rom die Seligsprechung des letzten österreichischen Kaisers, Karl I. aus dem Haus Habsburg für Anfang Oktober an. Noch einmal taucht in diesem Zusammenhang der Name von Bischof Krenn auf, denn er war gerade Präsident der Kaiser-Karl-Gebetsliga, die schon seit Jahren diese Seligsprechung betreibt, die am Ende des langwierigen 55-jährigen Seligsprechungsprozesses stand. Doch Rom verhinderte die Teilnahme des Bischofs von St. Pölten, und so kam es ohne ihn auf dem Petersplatz zu der üblichen Zeremonie, an der viele Mitglieder des österreichischen Hochadels und auch einige höherrangige österreichische Politiker teilnahmen. Eine breite Anteilnahme der österreichischen Bevölkerung blieb jedoch aus, denn Kaiser Karl, dessen Regierungszeit sich auf die letzten beiden Jahre des ersten Weltkrieges vor dem Zerfall Österreich-Ungarns und der Ausrufung der Republik in Wien beschränkt, ist in Österreich nie sonderlich populär gewesen. Seine sterblichen Überreste ruhen seit seinem Tod im Jahr 1922 in der Kirche „Nossa Senhora da Monte“ in Funchal auf der portugiesischen Insel Madeira, wohin ihn die Alliierten nach zwei vergeblichen Restaurationsversuchen in Ungarn deportiert hatten. Eine Überführung in die Franziskanergruft in Wien sei nicht vorgesehen, erklärte der gegenwärtige Chef des Hauses Habsburg, Otto von Österreich. Geblieben ist somit eine Zeremonie, die wohl als Huldigung für das Haus Habsburg, für das glückliche Österreich gedacht war, das dem Katholisch-Christlichen stets treu war, in der Reformation ebenso wie bei der Abwehr der kriegerischen Türken, wie die „Frankfurter Allgemeine“ hintersinnig schrieb.

Doch das Vermächtnis, dass sich die Österreicher der Völker im Südosten Europas annehmen sollen, ist geblieben, und so ist es gewiss von Interesse, dass der Styria-Verlag in Graz, der als „katholischer Pressverein“ schon im Jahr 1868 gegründet worden ist, und mit Ausnahme der sieben Jahre der nationalsozialistischen Okkupation zwischen 1938 und 1945 bis heute ununterbrochen aktiv ist, in den letzten Jahren begonnen hat, neben seinem österreichischen Verlagsprogramm auch slowenische und kroatische Tageszeitungen herauszugeben. So beschränkt sich die Styria nicht auf die „Kleine Zeitung“, die nun schon seit 100 Jahren in der Steiermark und Kärnten erscheint, und dort eine außerordentlich starke Verbreitung hat, sondern sie erwarb auch die in Wien seit vielen Jahren erscheinende wichtige Tageszeitung „Die Presse“ und ebenso die ausgezeichnet redigierte katholische Wochenzeitung „Die Furche“, die Friedrich Funder im Jahr 1945 in Wien zum erstenmal herausgebracht hat. Außerdem hat die Styria nunmehr die größte kroatische Tageszeitung „Vecernji list“ in Zagreb in ihren Verlag integriert, und außerdem gibt sie seit einigen Monaten die slowenische Zeitung „zurnal“ in ihrem Verlagsprogramm heraus. Damit ist es der Styria unter ihrem gegenwärtigen Vorstandsvorsitzenden Horst Pirker gelungen, gegenüber dem lange Zeit marktbeherrschenden Boulevard-Konzern der „Kronenzeitung“ in Wien, in der seit vielen Jahren Bischof Krenn eine wöchentliche Kolumne schreibt, und dem Wiener Magazin-Konzern der ebenfalls boulevard-gemässen „News“ eine Alternative herauszubringen, die zunehmendes Interesse findet.

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