ProtestantenWas in der Kirche gelten soll

„Kirchliche Lebensordnungen“ sind ein protestantisches Spezifikum. In den evangelischen Kirchen der Bundesrepublik gibt es gleich zwei neue Lebensordnungen, die den Ist- wie den Sollzustand von Kirche beschreiben.

Im Herbst 2002 sollen Bischofskonferenz und Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) „Leitlinien kirchlichen Lebens“ verabschieden. Ein entsprechender Entwurf wurde unlängst veröffentlicht (Texte aus der VELKD, Nr. 104). Die Evangelische Kirche der Union (EKU), der andere große Zusammenschluss von Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), verfügt schon seit 1999 über eine neue „Ordnung des kirchlichen Lebens“. Beide neuen „Lebensordnungen“ haben Vorgänger aus dem Jahr 1955, also der Zeit des kirchlichen Wiederaufbaus nach Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg. Damals entstand beispielsweise auch das „Evangelische Kirchengesangbuch“, das vor einigen Jahren vom neuen „Evangelischen Gesangbuch“ abgelöst wurde (vgl. HK, Februar 1994, 89 ff.). Zwischen der Aufbauzeit der frühen fünfziger Jahre und der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert lagen für die evangelischen Kirchen in Deutschland schwierige, teils sogar turbulente Jahrzehnte mit herausragenden Stationen wie dem 68er-Umbruch und der kirchlichen Wiedervereinigung nach 1989.

Das spiegelt sich schon im Aufbau sowohl des VELKD-Entwurfs wie der EKU-Ordnung wider. Die Behandlung der einzelnen Themen vom Gottesdienst über die Diakonie bis zur Öffentlichkeitsarbeit beginnt jeweils mit einem Kapitel „Wahrnehmung der Situation“. Dem folgen Ausführungen zur „biblisch-theologischen Orientierung“ (EKU) beziehungsweise zu „biblischen Grundlagen und theologischer Orientierung“(VELKD) und dann die einschlägigen Regelungen und Richtlinien für das kirchliche Leben.

Wesen und Auftrag der Kirche

Das Schwergewicht der EKU liegt, zwar nicht der Zahl der Kirchenmitglieder, wohl aber der Anzahl der Gliedkirchen nach, in den neuen Bundesländern (Rheinland und Westfalen im Westen, Berlin-Brandenburg, Kirchenprovinz Sachsen, Anhalt, Pommern, und Oberlausitz im Osten). Es nimmt deshalb nicht wunder, dass die EKU-Lebensordnung öfters und ausführlicher als der VELKD-Entwurf auf die Unterschiede zwischen Ost und West eingeht. Natürlich kann die EKU, zu der Gemeinden mit lutherischem wie mit reformiertem Bekenntnisstand gehören, auch nicht auf die gebotene innerprotestantische Differenzierung verzichten, etwa bei den Ausführungen zum Abendmahl oder zur Kirchenordnung. Im Vorwort zum VELKD-Entwurf heißt es, der Text bemühe sich um „weitgehende Kompatibilität“ mit der Lebensordnung der EKU. Tatsächlich sind die beiden kirchlichen Lebensordnungen über weite Strecken entweder textidentisch oder enthalten den gleichen Text mit kleinen sprachlich-stilistischen Abweichungen. Auch in der Großgliederung sind die Unterschiede nicht erheblich. Insgesamt ist der EKU-Text aber konziser, wobei die wirkliche Probe aufs Exempel natürlich erst nach Veröffentlichung der Endfassung der VELKD-Leitlinien möglich sein wird.

Am Anfang stehen bei EKU wie VELKD grundsätzliche Überlegungen zum Wesen und Auftrag der Kirche in einer offenen Gesellschaft in der Tradition des reformatorischen Kirchenverständnisses. Hervorgehoben werden in diesem Zusammenhang unter anderem die Unterscheidung zwischen sichtbarer und geglaubter Kirche sowie das allgemeine Priestertum der Gläubigen. Der lutherische Entwurf hat im Eingangsteil einen eigenen Passus über Ämter in der Kirche: „Nun ist es um der äußeren Ordnung willen ebenso wie wegen der Unterschiedlichkeit der Begabungen notwendig, dass es innerhalb der kirchlichen Institution verschiedene Ämter und Berufe gibt, die jeweils eine spezielle Ausbildung erfordern.“ Im einzelnen befassen sich die Lebensordnungen beziehungsweise Leitlinien mit der Feier des Gottesdienstes, mit Taufe und Abendmahl, mit Konfirmation und Konfirmationsvorbereitung, mit kirchlicher Trauung und Bestattung. Es geht um Kirchenmitgliedschaft und um Seelsorge, um den Umgang der Kirche mit Geld und Vermögen, um kirchliche Öffentlichkeitsarbeit und um ihre Verantwortung in Politik und Gesellschaft.

Während bei Bereichen wie Diakonie, gesellschaftliche Verantwortung oder Seelsorge neben den Ausführungen zur gegenwärtigen Situation und zur biblisch-theologischen Grundlegung nur wenige Regelungen aufgeführt sind, enthalten die Ordnungen bei den kirchlichen „Amtshandlungen“ naturgemäß mehr Einzelrichtlinien. Es wird darin beispielsweise festgehalten, welche Bedingungen für Taufspendung, kirchliche Eheschließung, Zulassung zur Konfirmation oder kirchliche Beerdigung gegeben sein müssen und wer wofür zuständig ist. Zum Teil sind die Rechtsvorschriften mit Sollbestimmungen verbunden, wie etwa im VELKD-Entwurf beim Thema „Ehe, Familie, Partnerschaft“, wo sich auch Ausführungen über die Förderung von Ehe und Familie, die Sorge der Kirche um Unverheiratete und Alleinlebende sowie zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften finden. „Die Meinungsbildung ist noch nicht abgeschlossen.“ So hält die EKU-Lebensordnung im Passus über die Segnung homosexueller Menschen oder ihrer Partnerschaft fest. Auch die Leitlinien der VELKD können hier nur den bestehenden innerkirchlichen Dissens notieren: „Eine abschließende theologische Wertung eheähnlicher Lebensformen scheint zur Zeit in den Kirchen nicht möglich zu sein.“

Keine katholische Entsprechung

Leitlinien für das kirchliche Leben spiegeln – ausdrücklich oder auch unausdrücklich – immer auch die Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit, offiziellen Vorgaben und Kirchen- beziehungsweise Gemeindealltag wider. „Die christliche Gemeinde versammelt sich im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes zum Gottesdienst und lädt dazu ein“ – so die Präambel der EKU-Lebensordnung bei den Richtlinien zum Gottesdienst. Nach Auskunft der einschlägigen Statistik leisten aber im Durchschnitt der EKD-Gliedkirchen an den „Zählsonntagen“ nur etwa vier Prozent der Gemeindemitglieder dieser Einladung auch Folge. Auch die Ausführungen der beiden Texte zu „Lernen, Lehren, Konfirmation“ beschreiben einen Weg Jugendlicher zu einem selbständigen Glauben, den de facto nur sehr wenige aus dieser Altersgruppe gehen.

Bei EKU wie VELKD wird auch die ökumenische Dimension heutigen kirchlichen Lebens angesprochen. Im einschlägigen Passus der EKU-Lebensordnung ist zu lesen: „Je weniger die Kirchen um das ringen, was sie sind, und je mehr sie auf das achten, wovon sie leben, umso mehr werden sie ihre Gemeinschaft entdecken und zugleich die ihnen aufgetragene Botschaft weitergeben.“ Der VELKD-Entwurf nimmt deutlicher zur ökumenischen Aufgabe Stellung und nennt als einzig möglichen Weg zur Überwindung der Trennung, „dass man die Verschiedenheiten und auch Gegensätze zwischen den Kirchen ehrlich benennt und offen diskutiert“. Übereinstimmend enthalten beide Texte die Einladung katholischer Christen zum evangelischen Abendmahl, ohne dass dabei die katholische Kirche als solche genannt würde: „Im Rahmen eucharistischer Gastbereitschaft sind auch Glieder solcher christlicher Kirchen eingeladen, mit denen noch keine Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft besteht, selbst wenn diese Gastbereitschaft offiziell nicht erwidert wird.“ Viele Gemeindemitglieder, so die Situationsbeschreibung im VELKD- Entwurf fragten, warum nicht alle Kirchen Abendmahlsgemeinschaft miteinander hätten.

Die Lebensordnung der EKU enthält einen klaren Hinweis auf ihre eigenen Grenzen: „Alle Ordnungen des kirchlichen Lebens haben dienenden Charakter. Sie müssen auf neue Herausforderungen hin überprüfbar sein.“ Es werde auch in Zukunft immer wieder Anlässe geben, die Ordnung des kirchlichen Lebens zu verändern; die Frage nach der angemessenen Ordnung des Gemeinschaftslebens der Kirche entscheide sich jeweils neu an der Auslegung des biblischen Auftrags. Das Vorwort zum VELKD-Entwurf wiederum macht darauf aufmerksam, die Gliedkirchen schätzten den Ordnungsbedarf unterschiedlich ein, was sich auch in den Erwartungen an die Neufassung äußere: „Manche möchten den Ordnungscharakter deutlicher herausstellen, andere sind stärker an Argumenten für den Verständigungsprozess interessiert. Wieder andere stellen einen Ordnungsversuch in der vorliegenden Form überhaupt in Frage.“ Es wird ausdrücklich festgehalten, die Gliedkirchen der VELKD müssten entscheiden, welche Verbindlichkeit die Leitlinien in ihrem Bereich haben sollten.

In der katholischen Kirche gibt es keine solchen Lebensordnungen entsprechenden offiziellen Texte. Vieles, was an Regelungen etwa zu Gottesdienst, Sakramenten und kirchlichen Amtshandlungen darin enthalten ist, wird auf katholischer Seite universalkirchlich durch das kirchliche Rechtsbuch normiert. Eine katholische Parallele zu den Lebensordnungen/Leitlinien mit ihrer Verbindung von Situationsanalyse, biblisch-theologischer Grundlegung und rechtsförmigen Richtlinien oder Forderungen ist am ehesten in den Beschlüssen der Würzburger Synode der deutschen Bistümer aus den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu erkennen. Auch sie sind unverkennbar vom Geist ihrer Zeit geprägt und haben gleichzeitig in vieler Hinsicht auch heute noch wegweisende Funktion. Sie mussten übrigens von den einzelnen Bistümern formell in Kraft gesetzt werden. In der Sache würde eine „Lebensordnung“ für die katholische Kirche in Deutschland in den meisten Bereichen heute nicht viel anders ausfallen als die einschlägigen Texte auf evangelischer Seite, weder bei den innerkirchlichen Themen noch bei der Frage nach der gesellschaftlichen und politischen Verantwortung oder dem Öffentlichkeitsauftrag. Die Unterschiede im Kirchenverständnis und das jeweilige geschichtliche Erbe werden deswegen nicht planiert; aber die Schwierigkeiten des Lebens in der offenen Gesellschaft sind den beiden großen Kirchen in Deutschland gemeinsam.

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