Sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche„Plump, infantil, schlicht, polemisch“

Neun Mythen über den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche – und wie sie von Expertinnen und Experten eingeordnet werden.

[1] In Sportvereinen ist es mit dem Missbrauch genauso schlimm wie in der Kirche

Das ist kein Argument, sondern nur die Feststellung einer Tatsache. Sexualisierte Gewalt gegen Kinder ist weit verbreitet: 9 Prozent der Mädchen und 3 Prozent der Jungen sind davon betroffen. Aber es ist ein plumper und infantiler Trick, sich durch den Hinweis auf die Vergehen anderer selbst aus der Schusslinie nehmen zu wollen. Mit Recht erwarten wir von den Priestern mehr als nur Durchschnitt. Wo Jesus draufsteht, muss auch Jesus drin sein. Ein sexuell gewalttätiger Priester verletzt bei den missbrauchten Kindern das Vertrauen in die Menschen und erschwert so den Weg zu erfüllten Beziehungen, er verdunkelt zusätzlich die Gotteserfahrung und verbaut damit oft einen Zufluchtsort der Seele in den Wirrungen des Lebens. Ein missbrauchender Priester ist noch in einem anderen Sinn gemeingefährlich: Schon ein einzelner priesterlicher Gewalttäter unterminiert das kollektive Vertrauen in die ganze Gemeinschaft der Gläubigen.

Godehard Brüntrup SJ ist Professor für Philosophie an der HfP in München

[2] Das Thema Missbrauch wird instrumentalisiert, um Reformen in der Kirche durchzudrücken

Mit der Debatte um die systemischen Ursachen von sexualisierter und geistlicher Gewalt eng verbunden sind alle die Themen, die uns in der katholischen Kirche seit Jahrzehnten begleiten: die Geschlechtergerechtigkeit, der freie Zugang aller Menschen zu Weiheämtern, die Frage von Macht und Gewaltenteilung. Man muss akzeptieren, dass die Gründe für sexualisierte und geistliche Gewalt in der Kirche auch in den bisher nur angstbesetzt diskutierten Themen zu finden sind. Als Antwort auf den Missbrauchsskandal und als Weg zur Lösung der systemischen Ursachen gibt es den Synodalen Weg. Und ja, damit haben sich die vielen Themen in der Kirche endlich Bahn gebrochen; dass wir endlich in der Lage sind, über die kirchliche Sexualmoral, das Weiheamt für Frauen oder die Entwicklung synodaler Strukturen angstfrei zu diskutieren, ist auch ein Ergebnis dieses gemeinsamen Wegs. Der Vorwurf, hier würde die Missbrauchskrise instrumentalisiert, ist ein sehr schlichter und polemischer Versuch, die wichtigen und richtigen kirchenpolitischen Debatten zu diskreditieren.

Johannes Norpoth ist Sprecher des Betroffenenbeirats bei der DBK

[3] Missbrauch hat auch mit Homosexualität zu tun

Das ist falsch und belastet homosexuelle Katholiken gleich zweifach: Sie weichen von der kirchlichen Lehre ab und werden auch noch für den Missbrauch verantwortlich gemacht. Anders herum wird ein Schuh daraus: Strukturelle Homophobie führt in der Kirche dazu, dass homosexuelle Menschen ihre Wünsche nach Nähe und ihre Liebesfähigkeit nicht angstfrei leben können. Dadurch kann Homosexualität im Extremfall auf erschreckende Abwege geraten: Verdrängung, Selbsthass und auch Missbrauch. Wenn die katholische Kirche den Segen gleichgeschlechtlicher Liebe anerkennt, wirkt sie einem wichtigen Faktor entgegen, der klerikalen Missbrauch begünstigt. Schwule, lesbische und queere Menschen, die in der Kirche zu sich und ihrer Art zu lieben stehen, sind ein Geschenk des Himmels. Gut also, dass #OutInChurch so bald auf das Münchner Missbrauchsgutachten gefolgt ist. Mit ihrem überzeugenden Auftreten haben Schwule und Lesben die Kirche an einen Punkt gebracht, an dem sie wieder frische Luft atmen kann.

Ansgar Wucherpfennig SJ ist Rektor der Phil.-Theol. Hochschule St. Georgen

[4] Die Kirche wird dem Thema mit ihrer eigenen Gerichtsbarkeit schon gerecht werden

Die kirchliche Gerichtsbarkeit kann nicht beanspruchen, sexualisierter Gewalt umfassend gerecht zu werden. Die Taten sind vom weltlichen Recht mit schweren Strafen bedroht. Täter sind nach diesem Recht zu bestrafen, auch Kleriker. Weil es sich auch nach kirchlichem Verständnis um Straftaten handelt, kann und muss die kirchliche Gerichtsbarkeit zusätzlich gegen Täter aus den eigenen Reihen vorgehen – etwa indem sie ihnen nach Verbüßung ihrer weltlichen Strafe die Gele- genheit nimmt, im kirchlichen Umfeld neue Straftaten zu begehen. Dass sie dieser Aufgabe gerecht werden, haben kirchliche Autoritäten bislang nicht bewiesen. Das gilt für zahllose Bischöfe, die Fälle sexualisierter Gewalt vertuscht haben und denen der Schutz von Tätern und Institution wichtiger war als Opferschutz. Das gilt für einen emeritierten Papst, der bis heute in verstörender Weise Straftaten marginalisiert, und für einen amtierenden Papst, der zum Amtsverzicht bereiten Bischöfen signalisiert: Macht ruhig weiter – so schlimm war es nicht!

Georg Bier ist Professor für Kirchenrecht an der Universität Freiburg

[5] Die Betroffene hat den Priester doch provoziert

Beim Victim Blaming (Täter-Opfer-Umkehr) wird durch den Verweis auf vermeintlich provozierendes Verhalten oder vermeintlich aufreizende Kleidung versucht, die Schuld an der Tat bei den weiblichen Betroffenen abzuladen – mit verheerenden Folgen für die Mädchen und Frauen, die diese Schuldzuweisungen häufig internalisieren, sich schämen und deshalb über die Taten schweigen. Dabei sind es immer die Täter, die schuldig sind! In der katholischen Kirche war und ist es vor allem das immer noch weit verbreitete Bild der Frau als per se sündhafte und verführerische Eva-Nachfahrin, das in einigen Fällen sogar von den Tätern selbst strategisch eingesetzt und als Ausrede für ihre Taten benutzt wurde. Deshalb ist es höchste Zeit, dieses empörende Victim Blaming endlich zu entlarven, zu bekämpfen und zu beenden! Und es gilt, Strukturen, Denkmustern und Frauenbildern entgegenzuwirken, die Missbrauch begünstigen und zur Täter-Opfer-Umkehr einladen. Die Schuld muss endlich wieder allein dort abgeladen werden, wo sie hingehört: bei den Tätern.

Johanna Beck ist Mitglied im ZdK und im Betroffenenbeirat bei der DBK

[6] Die Betroffenen hätten sich schon viel früher melden können

Sexuelle Misshandlung ist schwerer Machtmissbrauch in unterschiedlichen Gewändern auf vielen Ebenen. Die misshandelnde Person beginnt einfühlsam, geduldig, umsichtig das Vertrauen der Bezugspersonen zu gewinnen, um die Kritikfähigkeit und Wachsamkeit des Umfeldes auszuschalten. Da hinein webt die misshandelnde Person ihre Zuwendung, ihr Verstehen, das Ansehen ihres Opfers. „Ich habe das, was dir guttut, was dich glücklich macht, was dich wertschätzt.“ Die misshandelnde Person benutzt das Opfer in vielen Formen zu ihrem Machtgewinn. Dabei muss der misshandelnden Person die Schuldverschiebung von sich auf das Opfer gelingen, um selbst nicht an der Schuld zu zerbrechen. Das Opfer selbst übernimmt die Schuld, um nicht in der Ohnmacht des Opfers unterzugehen. Ziel des lang dauernden Heilungsprozesses ist, die Schuld der misshandelnden Person zurückzugeben, und das erklärt das langjährige Schweigen des Opfers.

Helga Peteler, Dr. med., ist Ärztin für Psychotherapie und Psychosom. Medizin

[7] Die Betroffenen bekommen riesige Summen Schmerzensgeld

Die Opfer kirchlicher Gewalttaten bekommen kein Schmerzensgeld, sondern eine freiwillige Leistung ohne jede Form von Rechtsanspruch. Die in der Öffentlichkeit viel zitierte Zahl von 50000 Euro stellt nur den maximalen Betrag dar, der aus dem Anerkennungssystem der Bischofskonferenz zugestanden werden kann. Das ist aber – leider – nur eine theoretische Größe. Der überwiegende Teil der Anträge wird bisher mit Beträgen von unter 20000 Euro beschieden. Ungeachtet dessen: Das erlittene Leid lässt sich mit keinem Betrag anerkennen, ganz gleich wie hoch dieser auch sein mag, und: Oftmals sind die Beeinträchtigungen und Schädigungen bei den Opfern so groß, dass von Erwerbsfähigkeit und damit der Möglichkeit zur Sicherung des eigenen Einkommens nicht die Rede sein kann. Viele der Opfer sind daher von staatlichen Unterstützungen abhängig. Da sind oft die aktuellen Anerkennungsleistungen, auch wenn sie in adäquater Höhe zugestanden werden, allenthalben ein Tropfen auf den heißen Stein.

Johannes Norpoth

[8] Erwachsene können keine Opfer von Missbrauch werden

Es gibt irreführende Vorstellungen über Täter und Opfer, zum Beispiel:

1) Erwachsene könnten „nein“ sagen.

2) Wenn sie dies nicht tun, handle es sich um konsensuelle sexuelle Akte, die nicht als Missbrauch zu klassifizieren seien.

3) Die aktenbasierten Missbrauchsgutachten weisen überwiegend männliche Kinder und Jugendliche als Opfer auf.

Dem ist entgegenzusetzen:

1) Auch Erwachsene erleiden sexuelle/sexualisierte Gewalt, bei der sie aus vielen Gründen unfähig sind, „nein“ zu sagen.

2) Seelsorgeverhältnisse sind a priori asymmetrisch und keine Beziehung „auf Augenhöhe“, so dass konsensueller Sex ausgeschlossen ist.

3) Aus fehlenden Akteneinträgen und dem auf Minderjährige begrenzten Design von Gutachten kann nicht abgeleitet werden, dass der Missbrauch von Erwachsenen nicht existiert.

Im Übrigen kennt auch geltendes Kirchenrecht „schutz- und hilfebedürftige Erwachsene“ und nennt in diesem Zusammenhang als Tatbestandteil das Ausnutzen von „Macht und/oder Abhängigkeitsverhältnissen“.

Ute Leimgruber ist Professorin für Pastoraltheologie an der Uni Regensburg

[9] Irgendwann muss es doch auch wieder gut sein!

Wie oft bin ich schon mit diesem Satz konfrontiert worden! Wer fordert, dass es so schnell wie möglich „wieder gut sein“ solle, und den Abgrund unbesehen zuschütten möchte, sorgt damit selbst dafür, dass es eben NICHT wieder gut werden kann. Wie soll etwas gut werden, wenn das Schlimme und Verbrecherische ausgeblendet wird – nur um „subkutan“ weiterzuschwelen und zu zerstören? Wie kann es eine menschenfreundlichere Kirche geben, wenn nicht vorher das menschenfeindliche Fundament reformiert wird? Nein, die Kirche muss diesen steinigen Weg konsequent weiter- und zu Ende gehen. Sie muss die Missbrauchsabgründe ausleuchten, aufarbeiten und entsprechende Konsequenzen ziehen, denn nur „die Wahrheit wird euch befreien“ (vgl. Joh 8,32). Erst wenn die Betroffenen Gerechtigkeit und Wieder-Gut-Machung erfahren, können wir etwas Neues, Besseres erbauen und es „wieder gut sein“ lassen.

Johanna Beck

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