KirchengeschichteWas ist häretisch?

Auf Irenäus von Lyon (ca. 140–200 n. Chr.) hat sich der Apostolische Nuntius zuletzt berufen, um bei den Katholiken in Deutschland die Einheit mit der Weltkirche anzumahnen. Wer ist dieser Kronzeuge, den Papst Franziskus jüngst zum Kirchenlehrer ernannt hat?

Irenäus hatte Glück. Oder hatte die göttliche Vorsehung ihre Hände im Spiel? Als 177 in Lyon und dem benachbarten Vienne ein Pogrom gegen Christen, vor allem gegen die „Säulen der Gemeinde“, losbrach, kam der angesehene Presbyter mit dem Leben davon. Er wurde verschont, weil er gerade auf einer theologischen Vermittlermission war. Inhaftierte Mitbrüder und Mitschwestern hatten ihn mit einem Empfehlungsschreiben nach Rom geschickt. Die angehenden Märtyrer und Märtyrerinnen wussten, dass ihr Wort in der Kirche schwer wog. Man ging davon aus, dass ihr Fürbittgebet bei Gott Gehör finden werde. Und so nutzten etliche Bekenner die ihnen verbleibende Zeit, um im Gefängnis sogenannte Friedensbriefe zu verfassen, die in kirchlichen Streitigkeiten schlichten sollten. Thema des Lyoner Schreibens an den römischen Bischof Eleutherus waren die Montanisten.

Die um etwa 160 im kleinasiatischen Phrygien entstandene prophetische Bewegung zog seinerzeit viele Christen an, die – schon damals ein Thema! – über die Verweltlichung der Kirche enttäuscht waren. Ihr Gründer Montanus erwartete das baldige Ende der Welt. Er warb für eine rigorose Askese, die Auflösung der Ehe und die Bereitschaft zum Martyrium. Dass Frauen als Prophetinnen auftraten und priesterliche Funktionen ausübten, war für die Großkirche ein Grund mehr, diese „Neue Prophetie“ zu beargwöhnen und schließlich als „Häresie“ zu verurteilen. „Häresien“ sollten den geistlichen Postboten aus Lyon fortan nicht mehr loslassen. Sie wurden sein Lebensthema.

Das Lebensthema des Irenäus war der Kampf gegen Häresien. Der Begriff bezeichnet laut Kirchenrecht das hartnäckige Leugnen einer zu glaubenden Wahrheit.

Seine Kindheit und Jugend verbrachte der um 140 geborene Irenäus in Smyrna, dem heutigen Izmir, an der Westküste Kleinasiens. Wann und warum er seine Heimat verließ, ist nicht überliefert. Er emigrierte nach Südgallien und ließ sich im prosperierenden Lyon nieder. Zwischen dem Zentrum der „drei Gallien“ und Kleinasien bestanden enge wirtschaftliche Bindungen, die auch das Leben der Lyoner Christengemeinde beeinflussten. So pflegte die junge griechischsprachige Gemeinde einen engen Austausch mit den kleinasiatischen Heimatgemeinden ihrer Mitglieder.

Als Irenäus von der Rommission in seine Zweitheimat zurückkehrte, war der Bischofssitz verwaist. Aufgehetzte Mitbürger, der Befehlshaber der städtischen Kohorte und schließlich der sadistische Statthalter hatten selbst den greisen Bischof Pothinus nicht verschont. 150 Jahre später schrieb Eusebius von Caesarea in seiner Kirchengeschichte über diesen Märtyrer: „Ein Mann von mehr als neunzig Jahren, körperlich ganz geschwächt und infolge dieser körperlichen Gebrechlichkeit schwer atmend, wurde dank seiner Sehnsucht nach dem Martyrium durch die Kraft des Geistes gestärkt … War sein Körper durch Alter und Krankheit gebrochen, so war doch seine Seele noch so frisch, dass Christus in ihr triumphieren konnte.“ Zwei Tage nach den Misshandlungen während der öffentlichen Gerichtsverhandlung starb Pothinus im Gefängnis.

Irenäus wurde zu seinem Nachfolger gewählt. Werbung in eigener Sache musste er nicht betreiben. Die Märtyrer von Lyon hatten dem ehemaligen Schüler Polycarps von Smyrna in ihrem Friedensbrief das beste Zeugnis ausgestellt: „Eifer für den Bund Christi“. Und weiter: „Wenn wir wüssten, dass der Stand einem Mann Gerechtigkeit gebe, dann hätten wir ihn vor allem als Presbyter, was er tatsächlich ist, empfohlen.“ Den Tod vor Augen hatten die Eingekerkerten ihrer Gemeinde noch den Weg in die Zukunft geebnet.

Gut 23 Jahre saß Irenäus auf dem Lyoner Bischofsstuhl. Als er starb, hinterließ er ein beeindruckendes theologisches Schrifttum. Sein Hauptwerk sind die fünf Bücher Adversus haereses – „Gegen die Häresien“. Dem forschenden Bischof war ein Standardwerk gelungen, auf das sich namhafte Theologen der Alten Kirche bezogen: von Tertullian über Hippolyt bis zu Theodoret und Augustinus. Hieronymus hat ihn einmal einen vir apostolicus genannt.

Das zweite Jahrhundert war die Hochzeit der Gnosis, und Irenäus wurde Zeitzeuge des Konflikts zwischen der neuen, nichtchristlichen Erlösungsbewegung und der Kirche. Auf den Punkt gebracht geht die Gnosis davon aus, dass der geistbegabte Mensch seine Erlösung selbst bewerkstelligt: durch Erkenntnis. Die Lehre der „Erkenntnis“ kannte verschiedene Lehrsysteme und schmarotzte von den religiösen, philosophischen und mythischen Traditionen ihrer Zeit. Meisterhaft deuteten die Gnostiker auch christliche Lehren und Bilder in ihrem Sinn um. Sie vertraten ein dualistisches Gottesbild: auf der einen Seite der gute geistige Gott und auf der anderen der böse Weltschöpfer, der Demiurg mit dem Kosmos und dem Irdischen.

Das Vorgehen der Gnostiker empfand Irenäus als verwerflich, und es ist sein Verdienst, die Argumente der christlichen Spielart der Gnosis entlarvt und die Kirche mit scharfsinnigen Gegenargumenten ausgestattet zu haben. Er war überzeugt, dass in der genauen Darlegung ihrer Lehren bereits deren Widerlegung innewohne: „Das ist, wie wenn ein wildes Tier im Wald verborgen haust und von da angreift und viele Menschen umbringt. Wer den Wald aushaut und lichtet, so dass man das wilde Tier nun sehen kann, der gibt sich keine Mühe mehr, es einzufangen, da ja ohnehin jeder sieht, dass die Bestie eine Bestie ist, denn man kann die mörderische Bestie jetzt ja sehen und sich vor ihren Angriffen schützen.“ Die drastische Wortwahl zeigt, wie gefährlich, ja traumatisch die Gnosis für die Kirche war. Umso großzügiger lobte Eusebius den Streiter für die Wahrheit: Irenäus habe sich „energisch einen Weg durch den unermesslichen Abgrund der vielen Irrtümer“ gebahnt.

Die Irrlehre verunsicherte vor allem die Christen, die nur über eine schmale theologische Bildung verfügten. Auf ihrer Seite stand Irenäus. Die Beschäftigung mit den elitären Gnostikern ließ ihn skeptisch gegen allzu ausgefeiltes theologisches Denken werden. Für ihn war der Glaube ausschlaggebend, der letztlich alle Fragen beantwortet. „Schlichtheit und Einfachheit in Theologie und Bekenntnis“ sind dem Kirchenhistoriker Norbert Brox zufolge Empfehlungen, die Irenäus seiner Kirche hinterlassen hat.

Die Warnung des Irenäus vor „theologischer Hybris“ dürfte Papst Franziskus aus dem Herzen sprechen. Gut 1800 Jahre nach seinem Tod hat er den Gelehrten unter die Kirchenlehrer erhoben. Irenäus, der als Begründer der Dogmatik gilt, ist das 37. Mitglied dieses illustren Kreises. Zu ihm gehören Glaubensgrößen wie Augustinus, Hildegard von Bingen, Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Franz von Sales und Therese von Lisieux. Unter diesem Aspekt spielt die ungeklärte Frage, ob der Neuling das Martyrium erlitten hat, keine Rolle mehr, zumal Papst Franziskus ihn noch mit dem Titel Doctor universitatis – „Lehrer der Einheit“ – geehrt hat. Denn Irenäus habe eine „geistliche und theologische Brücke zwischen den Christen des Ostens und Westens“ geschlagen. Was hätte dieser Anwalt der Wahrheit wohl selbst zu den späten Ehren gesagt?

 

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