Intergenerationale TraumataErschüttert bis ins vierte Glied

Kinder und Jugendliche, die Kriege nur aus den Nachrichten kennen, zeigen mit einem Mal ähnliche Psychosen wie Soldaten im Schützengraben. Über einen genetischen Effekt und seine Folgen – auch für die Kirche.

Ein Krieg in Europa, Bilder von toten Zivilisten in den Nachrichten und jetzt ein Winter, in dem uns die schlimmste Energiekrise seit Jahrzehnten trifft. Ein Winter, in dem manche nicht wissen, wie sie sich warmhalten sollen. Wenn bald die alljährlichen Jahresrückblicke anlaufen, schauen wir auf ein düsteres Jahr zurück – und in eine Zukunft, die so ungewiss scheint wie lange nicht mehr. Dass sich die Weltlage auch aufs Gemüt niederschlägt, ist bekannt und wird immer wieder in dramatischen Statistiken ins Gedächtnis gerufen: So hat sich die Zahl der Menschen mit Schlafstörungen und Panikattacken nach einigen Untersuchungen in den letzten Jahren verfünffacht. In einer Studie der Universität Krems erzählte die Hälfte der befragten Schülerinnen und Schüler von starken Ängsten, Einschlafproblemen oder depressiven Gedanken.

Manche Kinder, die in absoluten Friedenszeiten aufgewachsen sind, zeigen dabei psychologische Symptome, die man sonst nur von Menschen in Kriegsgebieten kennt. So ungeheuerlich es klingt, spricht vieles dafür, dass in den Kindern von heute die schrecklichen Kriegserfahrungen ihrer Großeltern und Urgroßeltern nachwirken. „Selbst Traumata, über die nie gesprochen wurde, werden an die nächste Generation weitergegeben“, schreibt die Sozialarbeiterin Regina Smrcka in der österreichischen Wochenzeitung Die Furche. Gefühle von Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein und Todesangst hinterlassen ihre Spuren in der DNA. So werden sie an die Kinder und Kindeskinder der Kriegsgeneration vererbt und können jederzeit wieder geweckt werden. „Der Bezug zum gegenwärtigen Moment geht dabei verloren. Ohnmacht, Angst und Panik gewinnen die Oberhand“, schreibt Smrcka. „Bis zu vier Folgegenerationen empfinden die gleichen Symptome wie ihre Ahnen, als hätten sie selbst das Trauma erlitten.“

Wer sich in biblischen Texten auskennt, dürfte bei dieser Zahl aufhorchen. Denn die Passage erinnert an die Warnung, die Gott Mose mitgibt, als der auf dem Sinai die Tafeln mit den Zehn Geboten erhält. Wenn sich das Volk nicht an Gottes Friedensweisungen hält, wird es „bis ins dritte und vierte Glied“ von den Folgen heimgesucht, heißt es in der Lutherbibel (Ex 20,5). Die Einheitsübersetzung spricht direkt von „Generationen“. Die Erfahrung, dass die Traumata von Vorfahren, die man nie persönlich gekannt hat, Schatten über das eigene Leben werfen können, ist offenbar so alt wie die Menschheit und unauslöschlich tief in der jüdisch-christlichen Erzähltradition verankert.

Trotzdem hat man das Gefühl, dass die Konsequenzen dieser Erkenntnis auch in der Kirche noch nicht wirklich angekommen sind. Wer tatsächlich in den Zeiträumen von Generationen denkt, käme nicht auf die Idee, dass die aktuelle Kirchenkrise etwas ist, das man aussitzen kann. Wenn heute traumatisierte Menschen alleingelassen werden, wenn Hierarchien wichtiger scheinen als schnelle Aufarbeitung, entstehen Brüche, deren Wirkung noch in ferner Zukunft zu spüren sein wird. Ein weiterer Grund, gerade die Menschen bei der Traumabewältigung zu unterstützen, die in der Kirche schreckliche Erfahrungen machen mussten. Ehrliche Verarbeitung sei der einzige Weg, den genetischen Teufelskreis zu durchbrechen, schreibt Regina Smrcka. Noch ist in vielen Fällen eine Versöhnung möglich. Aber das Zeitfenster schließt sich. Und die DNA vergisst nicht.

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