IkonenMutter Gottes des Erbarmens

Zum Wesen einer Ikone gehört, dass sie unter Fasten und Beten nach einem kirchlich anerkannten Bild gemalt, dass sie beschriftet und von einem Priester gesegnet ist. Die abgebildete Ikone, die aus Konstantinopel über Kiew nach Wladimir und Moskau kam, ist ein Bildzeugnis der Marienverehrung in den orthodoxen Kirchen, Zeugnis einer Kulturwanderung von Byzanz nach Norden und der Bildung von Staaten im Norden des Schwarzen Meeres.

Gottesmutter von Wladimir – „Wladimirskaja“ (Eitempera auf Lindenholztafel 104x69 cm, Bildfeld 78x55 cm)
Gottesmutter von Wladimir – „Wladimirskaja“ (Eitempera auf Lindenholztafel 104x69 cm, Bildfeld 78x55 cm)© Foto: akg-images

Das Konzil von Ephesus 431 versuchte theologisch das Wesen Jesu Christi zu bestimmen: seine zwei Naturen als wahrer Mensch und wahrer Gott. Dabei kam heraus, dass Maria nicht nur einen Menschen, sondern auch Gott geboren habe und sie deshalb als Gottesgebärerin (Theotokos) verehrt werden dürfte. In Rom wurde damals die große Marienkirche Santa Maria Maggiore erbaut. Das Mosaik am Chorbogen zeigt den kindlich kleinen Christus mit Nimbus auf einem großen Thron sitzend; neben dem Thron steht seine Mutter, zwar kostbar gekleidet, aber zeremoniell getrennt.

In der hier abgebildeten Ikone gibt es keinen Abstand mehr. Das Kind sitzt auf dem rechten Arm der Mutter, greift nach ihrem Hals, schmiegt seine Wange an die ihre. Der Bildtyp ist seit dem 7. Jahrhundert nachweisbar, unter anderem in Fragmenten in Santa Maria Antiqua in Rom. Er wird Eleousa („die Erbarmende“, russisch: Umilenje) genannt. Im Griechischen ist auch der Titel Glykophilousa („die Süß-Liebende“) verbreitet. Unsere Abbildung zeigt die „Wladimirskaja“, die Fürst Andrej Bogoljubski 1155 aus Kiew nach Wladimir gebracht hatte, von wo sie 1395 nach Moskau und 1926 in die dortige Tretjakow-Galerie kam. Maria trägt ein blaues, heute schwarz erscheinendes Kleid mit einem doppelten Goldsaum an Ärmeln und Halsausschnitt, darüber ein Tuch in gleicher Farbe, das sogenannte Maphorion, das den Kopf verhüllt und auf den Schultern anliegt. Es ist mit zwei goldenen Sternen bestickt. An seinen Enden hängen über den Armen Goldfransen herab. Sie sind wie die Säume aus Blattgold geschnitten und auf der Malerei angebracht. Der Hintergrund war ebenfalls vergoldet, Kleid und Umhang (Pallium) des Kindes sind es noch.

Gold, Glanz des Ewigen

Gold, das wir heute zuerst als materiellen Wert schätzen, ist in der alten Kunst ein optischer Wert. Es steht für Licht, und zwar, weil es nicht oxidiert, für unvergängliches, ewiges Licht. Durch gerade, parallele rote Pinselstriche sind auf die Goldfläche Falten gezeichnet. Sie deuten das Volumen des Körpers unter dem Gewand an, wie schon in der klassischen griechischen Kunst des 5. Jahrhunderts v. Chr., aber hier würdevoll abstrahiert. Dort, wo das Tuch über Schenkel und Hüfte des Kindes straff gespannt ist, tritt die spiegelnde Goldfläche zu Tage. Zwischen dem Gold des Hintergrundes und Goldapplikationen auf den Tüchern, die metallisch, geometrisch strukturiert sind, sind Gesichter und Hände organisch weich modelliert (mit Ausnahme der großen eingetönten Fehlstelle am Hals). Die durch Tradition geheiligte Form ist Gefäß für Zärtlichkeit.

Der Kopf des Kindes ist klein, aber ohne kindliche Züge, der Kopf der Mutter groß mit großen Mandelaugen unter einem fast geraden Brauenbogen, die Nase sehr schmal und lang. Die Lippen der Mutter und des Kindes berühren sich an den Mundwinkeln. Maltechnik und Stil erlauben eine Lokalisierung nach Konstantinopel und eine Datierung bald nach 1100. Damals versuchte Kaiser Alexios I. aus der Dynastie der Komnenen (1081–1118) das Oströmische Reich gegen Seldschuken und Petschenegen aus Asien, Normannen und Kreuzritter aus Westeuropa zu verteidigen und zu regieren.

Das Wort Rus kommt vermutlich vom altnordischen Wort für Rudern und bezeichnete ursprünglich Leute–Wikinger oder Waräger genannt –, die als Händler von der Ostsee über die Flüsse Weichsel, Bug und Dnjepr bis zum Schwarzen Meer und nach Konstantinopel ruderten. Sie begründeten Siedlungen und Städte und herrschten in der Dynastie der Rurikiden bis zur Invasion der Mongolen 1240 in Kiew und bis 1598 in Moskau, das seither als drittes Rom propagiert wurde. Die Kiewer Rus hatte 988 unter Fürst Wladimir dem Heiligen das Christentum in seiner griechisch-orthodoxen Form angenommen und orientierte sich seither an Ritus und Kunst der Kirche von Konstantinopel. Man führte Ikonen und liturgische Gewänder und Geräte aus Konstantinopel ein und rief griechische Bauleute ins Land, die Kirchen und Klöster bauten. Da die Gottesdienste in der Landessprache gehalten wurden, für welche die Missionare Kyrill und Method die kyrillische Schrift entwickelt hatten, entstand bald eine ostslawische Schriftkultur.

Das Wort Ukraine bezeichnet ein Grenzland. Der Name ist verwandt mit dem Wort Grenze, das aus dem Altpolnischen entlehnt ist und ursprünglich nur die Grenze zwischen Polen und Deutschland bezeichnete. Die Ukrainer wurden von den Österreichern, als die Westukraine zum Habsburgischen Königreich Galizien-Lodomerien mit der Hauptstadt Lemberg gehörte, Ruthenen genannt. Die Großrussen in Moskau dagegen nannten sie Kleinrussen, im Gegensatz zu den Weißrussen (Belarus) im Westen. Die östliche Hälfte des Landes stand jahrhundertelang unter der Herrschaft der Tataren und der osmanischen Sultane, bis sie 1783 von den Armeen der Sophie von Anhalt-Zerbst, die sich seit ihrer Heirat mit Peter Romanow und ihrer Konversion zur russisch-orthodoxen Kirche Katharina nannte, erobert und Nowaja Russia (Neurussland) genannt wurde. Seit dem 18. Jahrhundert entfaltete sich ein ukrainisches Selbstbewusstsein und eine vom Polnischen und Russischen unterschiedene Schriftsprache. Der erste selbständige Staat wurde 1917 ausgerufen, 1922 zur sozialistischen Sowjetrepublik erklärt. Kiew „gehört“ historisch zu Russland, so wie Zürich zu Deutschland gehört; oder Verdun, Antwerpen, Breslau, Wien und Bozen. In blutigen Kriegen haben sich alle diese Städte aus den Vorgängern der heutigen Bundesrepublik, dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation bis 1806, dem Deutschen Bund bis 1871, dem Deutschen Reich bis 1945 gelöst oder sind gelöst worden. Nur ein geschichtsblinder Narr könnte ihre Rückkehr ins Reich fordern. Doch Narren gibt es überall.

Byzanz: Schule des Westens und des Ostens

Die Kultur von Ostrom wird im Deutschen byzantinisch genannt und überwiegend negativ konnotiert im Sinne von konservativ, verkrustet, bürokratisch. Auch dass Ikonen immer wieder dasselbe in ähnlichen Formen darstellen, wird von einer westlichen, auf Innovationen erpichten Kulturkritik als maniera greca („griechische Manier“) seit dem 16. Jahrhundert negativ beurteilt. Dabei setzte sich das Kopieren nach kultisch verehrten Vorlagen damals auch in der katholischen Kirche durch, zuerst bei Gnadenbildern, die Ziele von Wallfahrten waren. Die Kopien wurden als Andenken mitgenommen und immer wieder auch selbst zu Wallfahrtszielen, sogar wenn sie wie in Kevelaer nur ein kleiner Kupferstich waren. Im 19. und 20. Jahrhundert wurden von Visionen wie in Lourdes und Fatima Musterbilder angefertigt, die tausendfach kopiert und verehrt wurden, zuletzt von der Herz-Jesu-Vision der heiligen Faustyna Kowalska, die dank der Verehrung durch Papst Johannes Paulus II. zu einem „religiösen Hype aus Polen“ wurde (so der Titel des bedenkenswerten Buches von Wolfgang Brückner).

Vergessen wird bei uns, wie viel wir Byzanz verdanken: die Wurzel unseres Rechts, das Römische Recht, ist ein byzantinisches, zusammengestellt von Kaiser Justinian (527–565). Byzantinische Architektur war der westlichen jahrhundertelang Vorbild und ist bis heute in ihren Hauptwerken, wie der Hagia Sophia von 537, noch unerreicht. Byzantinische Dichter und Künstler haben die Germanen und Slawen gelehrt, Gefühle auszudrücken, in Gedichten, Hymnen und Ikonen. Marienverehrung gab es im Westen auch, aber wie starr und steif sind romanische Madonnen im Vergleich zu einer Glykophilousa, einer Mutter, die ihr Kind liebkosend umarmt. Den lateinischen, deutschen und slawischen Marienliedern gehen die byzantinischen um Jahrhunderte voraus. Aus dem um 600 entstandenen Marienhymnus, der im Stehen zu singen ist (Akathistos), seien einige Anrufungen der Muttergottes zitiert, die zum Verständnis der Ikone beitragen können: „Sei gegrüßt, durch dich leuchtet das Heil hervor; sei gegrüßt, du Stern, der die Sonne offenbart; sei gegrüßt, Mutter des allerheiligsten Sterns... Morgenglanz mystischen Lebens… Leuchtende Spur des Auferstandenen… Lichtträgerin des Allerheiligsten… schützendes Laubdach, darunter sich viele bergen; Sei gegrüßt, du Sieg der Gewaltlosigkeit.“

Anzeige: In der Tiefe der Wüste. Perspektiven für Gottes Volk heute. Von Michael Gerber

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