FastenzeitAlles vorbei?

In der Pandemie, die uns belastet und an die Grenzen bringt, ist vielleicht das ein angemessener Vorsatz für die Fastenzeit: Verzeihen üben.

Alles vorbei? Schön wäre es, der bekannte Fastnachtsschlager könnte sich in doppelter Hinsicht bewahrheiten. Aber zum Leidwesen der Karnevalisten konnten Sitzungen und Umzüge in der sprichwörtlichen fünften Jahreszeit diesmal gar nicht stattfinden. Und die seit einem Jahr andauernde Fastenzeit, die uns allen Verzicht und Abstand, Einschränkungen und Beschneidung unserer Freiheiten abverlangt, ist auch noch nicht vorbei. Ihr Ende ist nicht absehbar. Braucht es überhaupt eine Bußzeit und Fastenvorsätze, wo wir aus Solidarität mit anderen und um uns selbst zu schützen, jeden Tag kleine und große Opfer bringen?

Alles vorbei? Selten war so klar wie dieses Jahr, dass der Aschermittwoch keinen Schlussakkord setzt, sondern einen Startpunkt markiert. Heute fängt etwas an. Heute beginnt eine neue Zeit. Heute vergewissern wir uns darüber, in welche Richtung wir unterwegs sind und ob nicht doch vielleicht eine Kehrtwende nottut. Denn wir fassen den „Tag der Tage“ ins Auge, für den wir gerüstet sein wollen: Ostern, das Fest der Auferstehung; den Anfang einer neuen Zeit und einer neuen Welt, in der der Tod und alles, was zu ihm hinführt, bereits der Vergangenheit angehört.

Gut gerüstet für Ostern

Womit aber könnten wir anfangen, um für diesen Wendepunkt gut gerüstet zu sein? Mir kommt in den Sinn, was der Bundesgesundheitsminister während einer Regierungsbefragung bereits im letzten April selbstkritisch vermutet hat: Noch nie in der Geschichte unseres Landes hätten Politiker mit so vielen Unwägbarkeiten so tiefgehende Entscheidungen treffen müssen. Deshalb würden wir „in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen“. Vielleicht ist das ein angemessener Vorsatz für diese Fastenzeit: Verzeihen üben.

Denn diese so noch nie dagewesene Lage bringt uns an die Grenzen. Sie belastet viele. Sie reißt Spannungen auf weit über das übliche Maß hinaus – zum Beispiel in überforderten Familien oder zwischen denen, deren Arbeitsroutinen nahezu ungestört weitergehen, und solchen, die seit Monaten pausenlos in Pflege- und Betreuungsdiensten am Anschlag schuften. Als jemand in einer privilegierten Wohnsituation ahne ich doch nur, zu wie viel Aggression, Streit und Gewalt beengte Wohnverhältnisse jetzt führen. Wer monatelang überhaupt nicht arbeiten kann und um seine Existenz bangt, wie sollen den nicht die Sorgen erdrücken und isolieren?

Die Lage der freischaffenden Künstler ist schon in normalen Zeiten prekär, wer schaut nach ihnen, dass sie als Menschen jetzt nicht untergehen? Es gibt so viele großartige Beispiele gelebter Solidarität, aber der Eingriff in die Freiheitsrechte und in die offene Gesellschaft – mag er auch unumgänglich sein, um das Virus mit seinen verheerenden Folgen einzudämmen – verschärft die Spannungen und die Kluft im sozialen Miteinander, die sich bereits lange abzeichnete, in der Bevölkerung unseres Landes, international und global.

Das Dilemma ist erheblich: Der Abstand, der hier das Leben schützt, hat woanders gravierende Auswirkungen auf Zukunft und Perspektiven. Darauf müssen wir hinweisen. Wir müssen es immer wieder ins Wort bringen und Brücken bauen, die zusammenführen, damit wir mehr zusammenhalten hier und in der Einen Welt.

Verzeihen lässt nicht unberührt

Verzeihen und versöhnen. Ganz konkret in alltäglichen Kleinigkeiten und bei denen, mit denen ich arbeite, die um mich sind, für die ich Verantwortung trage, die nah oder fern zu mir gehören als Fremde, Freunde oder Familie. Verzeihen und um Verzeihung bitten: für gereizte Stimmung, ein unbedachtes Wort, die Unausgeglichenheit, Antriebslosigkeit, mangelnde Aufmerksamkeit, Rückzugstendenzen, ungebührliche Gedanken – und alles, was sich so eingestellt hat. Heute könnten wir damit anfangen, wenn wir es nicht schon versuchen.

Verzeihen und versöhnen. Für mich ist es hilfreich, dabei auf Gott zu schauen, „denn er ist groß im Verzeihen” (Jes 56,7), weiß der Prophet Jesaja aus eigener Erfahrung. Und Paulus, der in seiner Glaubenseinsicht bekanntermaßen eine radikale Wende vollzogen hat, bittet im Namen Christi: „Lasst euch mit Gott versöhnen! Er hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden“ (2 Kor 5,20–21).

Verzeihen und versöhnen. Prophet und Apostel lassen ahnen, dass dies nicht ein Projekt ist, das mich unberührt lässt und aus dem ich ungeschoren herauskäme. Wer es ernst meint, wird bei sich selbst anfangen und die Einsicht reifen lassen, die den Dichter Rainer Maria Rilke beim Anblick eines Kunstwerkes im Louvre geradezu überfallen hat: „Du musst dein Leben ändern.“

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