Gefälschte ReportagenDichtung und Wahrheit

Ein Reporter des "Spiegel" hat das sogenannte Storytelling mehr als übertrieben. Dies lenkt den Blick auf eine fragwürdige Entwicklung im Journalismus überhaupt. Aber auch im Glauben kann man fragen: Was macht die Wahrheit eines Textes aus?

Wieviel Dichtung verträgt die Wahrheit? Darüber wird heftig diskutiert, seit bekannt wurde, dass ein Journalist beim „Spiegel“ und anderswo Reportagen veröffentlicht hat, die zum Teil auf dem freien Spiel der Phantasie beruhen. Das ist ein schwerer Schlag nicht nur für die Betroffenen, sondern für alle, deren journalistisches Ethos es ist, wahrheitsgemäß zu berichten, auch wenn Tatsachen und Ereignisse lesepsychologisch dramaturgisch aufbereitet, in Zusammenhänge eingeordnet, gedeutet, analysiert oder kommentiert werden. Die nackte Wahrheit gibt es nicht. Niemand weiß dies besser als jene, die sich – manchmal unter Lebensgefahr – unangenehmen Wahrheiten aussetzen, um nach bestem Wissen und Gewissen Dinge aufzuklären und Menschen zu informieren. Der Mensch will in der Wahrheit leben – ganz gewiss auch der aufrechte journalistische Mensch.

Nicht zu beschönigen ist, dass sich die Medien im harten Wettbewerb manche Blöße gegeben, auch manchem Herdentrieb nachgegeben haben. Jeder Erkenntnis wohnt zudem ein Vorverständnis inne. Das neutrale Erkunden gibt es nicht. Wie in den Wissenschaften ist jedes Suchen interessegeleitet. Journalisten sollen Geschichten erzählen, gut recherchierte Geschichten. So wollen es die Kunden lesen. So lehren es die Journalistenschulen. Am Storytelling hängt die Attraktivität des Mediums. Möglicherweise hat sich der Journalismus damit aber aufs Glatteis begeben, weil Wahrheit nicht immer literarisch genial, sondern oft nüchtern trivial ist. Schon früher konnte man skeptisch sein, welche Einzelheiten erzählt wurden von Personen, die niemals Augen-, Ohren- oder Riechzeugen gewesen sein konnten, aber fast bis auf die Minute genau schilderten, als seien sie mit dem Mörder, dem Opfer, dem Model oder den Benzinabzapfern der von Taliban entführten, stecken gebliebenen und unter Feuer genommenen Tanklaster unterwegs gewesen.

Und wieviel Dichtung verträgt der Glaube? Auch die Evangelisten waren laut historisch-kritischer Forschung keine Zeitzeugen. Sie erzählen – in theologischer Deutungsabsicht – erst Jahrzehnte später Einzelheiten, zum Beispiel wie Jesus seine Mutter anraunzt, wie bei der Verleugnung des Petrus ein Hahn kräht, was der Sterbende am Kreuz sagt… Die Widersprüche in den Ostererzählungen sind nicht zu harmonisieren. Alles erfunden, erdichtet? Solche Skepsis hat nicht wenigen Menschen den Glauben ausgetrieben. Andere sehen gerade darin die Wahrheit von Offenbarung, dass sie nicht glättet, was war oder ist. Gottes Wort bleibt Menschenwort, auch im Christentum. Es ist wie bei der Reportage: Wahrheit erschließt sich tief drinnen, durch die Dramaturgie des Textes, eine Wahrheit, die bewegt, weil sie sich selber bewegt.

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