Der Schriftsteller Arnold Stadler im InterviewSingen und spielen, solange ich da bin

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„Ich fahre jetzt von Rast los“, sagt Arnold Stadler, als er gut zwei Stunden vor dem vereinbarten Interviewtermin noch einmal anruft. Nach wie vor lebt der Schriftsteller auf dem elterlichen Hof in Rast, einem Ortsteil von Sauldorf, „über“ dem Bodensee. Der nächstgrößere Ort ist Meßkirch, wo Stadler geboren wurde und zur Schule ging. Zu seinem 65. Geburtstag in wenigen Tagen werden ihm beide Gemeinden – Meßkirch und Sauldorf – die Ehrenbürgerwürde verleihen.

CHRIST IN DER GEGENWART: Sie haben nie einen Hehl aus Ihrer Herkunft vom Land gemacht. Sie haben das in Ihren Büchern ausdrücklich thematisiert. Was bedeutet es Ihnen, dass Sie nun von Ihren Heimatgemeinden geehrt werden?

Arnold Stadler: So ist es halt. Und doch, das freut mich natürlich auch. Ich bin 1954 am Schmerzensfreitag in Meßkirch geboren worden. Der Schmerzensfreitag, das ist der Freitag vor Karfreitag. Jetzt ist es wieder der Schmerzensfreitag, an dem ich Ehrenbürger werde… Das Wort Schmerzensfreitag passt zu meinem Leben und Schreiben. Und wenn ich mir dann noch den Ort vorstelle: Die Auszeichnung wird im Schloss Meßkirch vergeben. Genau unter dem Veranstaltungssaal war einst unser Klassenzimmer. Da hab ich manches Mal zum Fenster rausgeschaut, und wäre oftmals lieber anderswo gewesen. Heute befindet sich dort das Martin-Heidegger-Museum und -Archiv.

War Ihnen stets klar, dass das dann auch in weiten Teilen die Welt Ihrer Bücher werden sollte?

Die meisten Schriftsteller fangen mit dem an, wovon sie ausgehen – also mit ihrer „ersten Welt“. Das habe auch ich so gemacht. „Ich war einmal“ heißt das Buch. Es erschien 1989 und ist genau dort im badisch-schwäbischen Mesopotamien angesiedelt. Das heißt, eigentlich spielt es ja im Raum der Erinnerung, die dann zu meiner zweiten Gegenwart geworden ist. Ich verstehe mein Schreiben auch als Übersetzen: meiner Welt in meine Sprache.

Diese Form des Schreibens, die vom eigenen Leben ausgeht, dennoch aber immer ein literarisches Schreiben ist, kam in der Heimat zunächst gar nicht gut an …

Die Leute waren sogar empört, und – was noch schmerzlicher ist für mich – Sie waren gekränkt, weil sie glaubten, ich hätte mich über sie lustig gemacht. Und das hat dann wiederum mich gekränkt. Schließlich wollte ich gerade ihnen wirklich ein kleines Denkmal setzen. Theologisch gesprochen, könnte man geradezu sagen: Ich habe mich ihrer erbarmt. Das ist vielleicht der größte Impuls von der Theologie auf mein Schreiben hin. Wer schreibt sonst schon über sie? Über die Ferkelhändler, über den „Moschd-Onkel“ … Im Mainstream der Literatur ist es doch normalerweise so, dass nur das große Personal zählt – und das ist dann selbstverständlich auch städtisch –, das in allen Dingen die Definitionshoheit zu haben glaubt. Das grundsätzliche Missverständnis vor Ort, also auf dem Land, war, dass meine Bücher gewissermaßen als Sachbücher gelesen wurden. Menschen vor Ort meinten, sich darin wiederzuerkennen, und ärgerten sich darüber. Ich kann das nicht verhindern. Ich kann nur darauf hinweisen, dass ich literarisch schreibe, dass es also immer auch um Verarbeitung, um Übersetzung geht. Und eher um „wahr“ als um „richtig“. Beides scheint bei vielen Menschen von heute zusammenzufallen. Es ändert sich ja nichts an meinen Büchern nur deshalb, weil jetzt ein Symposium über sie im Meßkircher Schloss stattfindet und ich Ehrenbürger werde. Deshalb: Gerade in und um Meßkirch wurde mein erstes Buch gekauft, ja. Und wie ein Sachbuch gelesen, und dann hörte ich: „Das stimmt alles gar nicht!“

Eigentlich wäre Arnold Stadler gar nicht Schriftsteller geworden. Seit der Ministrantenzeit, so erzählt er, habe er den Wunsch gehabt, Priester zu werden. Das „Messespielen“ gehört zu seinen frühen Erinnerungen. Stadler hat Kirche immer als Heimat-Raum erfahren, nie als „Täterorganisation“.

Arnold Stadler: Mit der katholischen Welt bin ich sehr früh in Verbindung gekommen. Wir haben nach den kirchlichen Festzeiten gelebt. Das hat mich geprägt, wie auch das Erleben der Jahreszeiten unter offenem Himmel, wie es eben so ist, wenn man auf einem Hof groß wird. Sonst war da ja nichts. Das heißt aber nicht, dass es ein Mangel gewesen wäre. Ich empfinde es heute als Reichtum. Bücher gab es freilich auch in unserem Haus, da habe ich auch den Roman „Der Nachsommer“ von Adalbert Stifter gefunden – und gelesen, wohl im Winter von 1967 auf ’68.

Wie war das konkret bei Ihnen zu Hause mit dem Glauben?

Wir haben zum Beispiel selbstverständlich zusammen gegessen, und das Essen wurde vom Tischgebet eingerahmt. Das ist heute nicht mehr so. Irgendwann hat man auch bei uns nicht mehr zusammen gegessen, nur noch am Sonntag. Schade! Dann gab es Personen im familiären Umfeld, eine Tante, die Ordensfrau war, Vinzentinerin: Schwester Maria Roberta hieß sie, eine wunderbare Frau. Ein Großonkel von mir war Priester… Aber auch darüber hinaus war ich eingewoben in einen vorgegebenen kirchlichen Zusammenhang: Wir sind in den Kindergarten gegangen zu Schwester Maria Radegundis. Schwester Verana war die Krankenschwester und machte jeden Tag ihre Runde. Wenn jemand krank war, kam sie ins Haus. Etwas Großartiges, heute unvorstellbar.

Sie haben bei anderen Gelegenheiten auch von Ihrem Pfarrer erzählt …

Andreas Dahringer, ein toller Priester und Pfarrer. Er kam ursprünglich aus Muggensturm bei Rastatt. Ich erfuhr gerade, dass er schon als Seminarist von der Gestapo überwacht wurde. Unser Pfarrer – als wir noch einen eigenen in der uralten Pfarrei Sankt Michael zu Rast hatten – in der Nazizeit hieß Joseph Bernhart. Er musste die arischen Stammbäume für das örtliche Meldeamt aus den kirchlichen Büchern herausschreiben… Weil er den Missbrauch der Jugendlichen in der sogenannten HJ durch die Naziideologie öffentlich anprangerte, landete er in Dachau, wo er auch gestorben ist. Ich möchte über ihn bald einmal schreiben. Als Kind und Jugendlicher, über zwanzig Jahre meines ersten Lebens in Rast, habe ich gar keinen anderen Pfarrer als Andreas Dahringer erlebt. Bei ihm hatte ich auch meine erste Beichte und vorher den Beichtunterricht. Aber was soll ein Elfjähriger schon groß beichten? Alle hatten ja denselben verbindlichen Beichtspiegel, bei dem es vor allem um das sechste Gebot ging. War ich unkeusch? War ich unschamhaft? Das haben wir doch gar nicht verstanden! In Erinnerung geblieben ist mir auch, dass unser Pfarrer in seinen Predigten den Himmel nie konkret ausgemalt hat – auch wenn die Leute genau das hören wollten. Dahringer hat konsequent immer nur vom Jenseits gesprochen. Und er hat betont: „Wir wissen nicht, wie es ist. Aber es ist was Gutes.“

So beeindruckt Sie von Ihrem Pfarrer waren, so wenig scheint Sie das Theologiestudium erfüllt zu haben. Gerade in Ihren späteren Büchern gehen Sie mit den Theologen hart ins Gericht …

Was wäre ich denn für ein größenwahnsinniger Idiot gewesen, hätte ich die Theologie schlechtmachen wollen! Ich weiß sehr wohl um ihre Verdienste. Insbesondere der Alten Kirchengeschichte, der Fundamentaltheologie, der Dogmatik und der alttestamentlichen Exegese, gerade der Gattungsforschung, wenn sie ihre Aufgabe auch als Literaturstudium versteht, verdanke ich viel. Fünf Jahre meines Lebens wurden mir für das Studium des einen Buches geschenkt. Und ich habe ja auch wunderbare theologische Lehrer gehabt in München und Freiburg. An erster Stelle möchte ich den Alttestamentler Alfons Deissler nennen, ein sehr sprachbegabter Mann, auch eine Art Literaturmensch. Seine Vorlesungen und Seminare werde ich nie vergessen. Auch Karl Lehmann nicht, der ja wohl die größte Privatbibliothek hatte, von der man weiß. Und schließlich habe ich auch selbständig theologische Literatur gelesen, dabei auch Hans Urs von Balthasar und andere mehr, im Grenzbereich von Theologie, Glaube und Literatur, lachen Sie nicht, die wunderbare Thérèse von Lisieux, auch Reinhold Schneider, immer noch. Sein „Winter in Wien“ ist eines der wichtigsten Bücher meines Lebens. Ich habe ja auch im Freiburger Kaufhaussaal darüber gesprochen um seinen 100. Geburtstag herum, und dann erschien eine Neuausgabe bei Herder, herausgegeben von Michael Albus, mit einem wunderbaren Text von Wolfgang Frühwald, der gerade gestorben ist, und auch mit einem von mir.

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Nein, wenn ich die Theologie kritisiere, dann meine ich eine ganz spezielle: jene, die technisch über das Buch der Bücher hinweggelesen und entsprechende Schlüsse gezogen hat, die sogenannte historisch-kritische Exegese, mit der ich es damals reichlich zu tun bekam. Das war für mich Literaturmensch einfach zu wenig, dass von der Frohen Botschaft, zum Beispiel, nicht viel mehr an sogenanntem Authentischen übrig blieb als „Abba“ und „Amen“. Das war, wenigstens für mich, der auch lesen konnte, ein uninspiriertes, literarisch unbegabtes Lesen. Aber gerade die Bibel ist doch ein Buch, das zuerst die Leser meint, die lesen können, ja hören, was das für ein Buch ist. Die wissenschaftliche Lektüre von Büchern war und blieb zweitrangig für mich. „Wissenschaftlich“! Die Bibel wurde da gelesen als Sachbuch, wie eine Information, mit den entsprechenden Schlüssen und Konsequenzen – nicht wie eine Frohe Botschaft. Und dann kommt als sogenanntes Forschungsergebnis, dass nichts übrig bleibt, das ist auch etwas. Aber wenigstens für mich ist das nichts. Der alte verfügende, kirchenrechtskompatibel gemachte Umgang mit diesem Buch war und ist freilich auch nichts für mich. Die historisch-kritische Exegese war oder ist eine Konstruktion. Da stimmt dann alles – aber das Entscheidende ist verloren gegangen

Was ist denn das Entscheidende?

Das Jenseits. Das hat in der bürgerlichen Saturiertheit keinen Platz mehr. Der konkrete Glaube an „Ich bin die Auferstehung und das Leben“, dieses Credo und die Hoffnung, dass es nicht umsonst war, und gäbe es jene Hoffnung nicht, die im Wort „Adieu“ aufgehoben ist. Und dass, nach meinem Glauben, der Friedwald keine Zukunft hat. Dass das ein falscher Traum ist. Ich bin nämlich – so sehr ich Bäume liebe, und zwar wohl mehr als die meisten meiner Mitmenschen – kein Baum, sondern ein Mensch, unterwegs von hier nach dort.

Ich bin kein Theologe. Ich war noch nie ein Theologe, wollte ja nur Priester werden, Seelsorger sagte man früher noch; und Theologie habe ich studiert als Voraussetzung dafür. Lachen Sie nicht, ich wollte nicht nur mich retten, sondern auch noch möglicherweise die Welt und ihre Menschen durch den Glauben. So dummverträumt konnte nur ein Kind sein... Nachdem ich auch diesen Glauben für eine Zeit verloren hatte, bin ich nun längst bei einer Art Kinderglauben, angereichert und konturiert durch mein Leben und Schreiben. Das lasse ich mir nicht mehr nehmen: Ich glaube schlicht an Gott, ich bete und singe das Credo. Ich habe eine unerschütterliche Hoffnung, die ich auch nicht bis ins Letzte begründen kann. Das ist eher eine Mitgift, ein Geschenk.

Arnold Stadler schloss das Theologiestudium zwar ab, aber er wurde nicht Priester, ließ sich nicht weihen. Nach dem Grund gefragt, hat er immer wieder unterschiedliche Antworten gegeben: mal nennt er den Zölibat, mal das Gefühl der Überforderung … Sicher kam vieles zusammen, und es führte zu einer längeren, großen Lebenskrise.

Arnold Stadler: Ich habe Theologie ja nur studiert, weil ich Priester werden wollte. Dann zu merken, dass ich nicht der Richtige dafür bin – da hatte ich eine schwere Krise. Man hört ja immer wieder von den Glaubenskrisen der Heiligen. Ich denke an Thérèse von Lisieux, die ich liebe, an Mutter Teresa oder Ulrika Nisch. Ich bin gewiss kein Heiliger, aber in dieser Hinsicht fühlte und fühle ich mich ihnen ganz nah.

Meine Krise wurde ausgelöst durch Bücher. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich dazu brachte, die „Kriminalgeschichte des Christentums“ von Karlheinz Deschner zu lesen. Das hat großen Schaden bei mir angerichtet. All die Verfehlungen der Kirche, die er aufzählt… Natürlich ist das ernstzunehmen. Und ich habe es ja ernstgenommen. Aber letztlich ist es so doch nur eine Aufzählung des Schreckens. Da bleibt dem Leser am Ende nichts anderes übrig, als „Nein“ zu sagen. Das ist nichts für mich. Es gibt eben auch die h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach, es gibt das „Ave verum“, wie es Mozart vertont hat… Ich sehe da noch einen anderen roten Faden in der Geschichte der Kirche: die Präsenz des Heiligen. Es gibt vor allem die Menschen, die Glaubenszeugen, die mich glauben lassen.

Deshalb führte Ihre Erschütterung, Ihre Lebenskrise auch nicht zum Abschied vom Glauben. Wie kam es aber dazu, dass Sie Schriftsteller wurden?

Auch da kam Verschiedenes zusammen. Geschrieben habe ich schon sehr früh. Ich erinnere mich, dass ich während der Arbeit im Kuhstall angefangen habe zu dichten. Da war ich wohl sechs Jahre alt und konnte noch nicht einmal schreiben. Das ging dann genau so, wie es der archaischen Tradition entspricht: Erst kam der Gesang, die Partitur folgte später. Bald schon merkte ich, dass ich mich damit im Blick auf den Mainstream als Außenseiter profilierte. So etwas wird nicht ernstgenommen. „Dichter“ war schon damals fast ein anderes Wort für „Spinner“. Es hat ja auch so einen antiquarischen Klang… Dabei war es in unserer Familie nicht einmal so unüblich. Schon mein Urgroßvater hat gedichtet. Eines seiner Gedichte steht auf einem Feldkreuz, das kann man heute noch lesen.

Aber wie kam es dann dazu, dass Sie Ihre Existenz aufs Schreiben setzten?

Ich habe jahrelang gehört, wie Menschen um mich herum den Satz sagten: „Darüber müsste ich mal ein Buch schreiben.“ Und so viele haben ihr Buch nicht geschrieben, sondern sind gestorben! Mein Erweckungserlebnis, wenn Sie so wollen, hatte ich in Bonn bei einer Lesung. Die war sehr schön, hat mich angeregt. Ich ging nach Hause und hab mir gesagt: „So, und jetzt schreibst du dein Buch.“ Das war dann das bereits erwähnte „Ich war einmal“. Der Verlag hat das Manuskript ohne die geringste Änderung angenommen. Das war einem Lottogewinn vergleichbar. Nur der ursprüngliche Titel „Schmerzensfreitag“, auch das erste Kapitel und das erste Wort all meiner Bücher, wurden durch „Ich war einmal“, eine Überschrift, die auch von mir war, ersetzt. Mein Leben als Schriftsteller hätte freilich auch schiefgehen können.

Mit Verleger Manuel Herder (2.v.l.), CIG-Chefredakteur Johannes Röser (r.) und Stephan Langer (l.)
Mit Verleger Manuel Herder (2.v.l.), CIG-Chefredakteur Johannes Röser (r.) und Stephan Langer (l.)© Foto: Eggstein

Genau dreißig Jahre ist es her, dass „Ich war einmal“ erschienen ist. Viel hat Arnold Stadler seither veröffentlicht, oft wurde er ausgezeichnet, 1999 mit dem Georg-Büchner-Preis. In seinem Werk gibt es einige Konstanten: Die Bücher sind allesamt nichts für Leser, die an einer spannenden, leichten Handlung interessiert sind, die möglichst schnell wissen wollen, „wie es ausgeht“. Stadlers Bücher sind stattdessen eine große Einladung, sich gemeinsam mit dem Autor auf eine meditative, assoziative Reise einzulassen, langsam, vielleicht wiederholend zu lesen.

Sie schlagen in Ihren Büchern oft einen melancholischen Ton an, schildern eine Welt, die verloren, untergegangen ist. „Rückspiegelschmerz“ heißt das in Ihrem jüngsten Roman „Rauschzeit“…

Das ist meine Lebensempfindung in der Welt von heute. Und war es in meinem Leben immer schon, neben der sehr ausgeprägten lebenslustigen, gesellig-barocken Komponente in meinem Leben. Es ist wie im schönen Kölner Lied „Am Aschermittwoch ist alles vorbei“, das Dur und Moll zu sein scheint, wie ich auch … Ich komme schließlich aus dem badischen Teil von Oberschwaben, wo in herrlichen Barockbauten dem Tod wie dem Leben ein Denkmal gesetzt ist. Und vergessen darf ich auch nicht die Literatur, die da entstand, die immer beides ist: Manifestation des himmlischen Jubels und der ebenerdigen Vergänglichkeit in ihrer Drastik.

Ich vergleiche unsere Zeit manchmal mit dem 5. Jahrhundert, das ja alles andere als im Zeichen des Aufbruchs stand, ganz im Gegenteil. Auch heute frage ich mich, wo das gute Neue denn sein soll, das immer beschworen wird. Der Mensch auf der Welt ist geschundener als jemals zuvor. Etwa seit der Säkularisation heißt es, dass wir im Zeitalter des Fortschritts leben. Wohin hat das geführt? Zur rein technischen Aneignung der Welt und der Menschen, zu Kolonialismus, Imperialismus, zur Versklavung der Welt. Ist das Fortschritt? Der heißt heute „Globalisierung“ und „Digitalisierung“ und so fort. Es ist aber der alte Imperialismus, der Versuch, den Menschen zu unterwerfen, um ihn auszubeuten und zu missbrauchen, und wäre es nur die Weise, wie er in der digitalen Zeit als unmündiger Mitläufer durchs Spaßleben geschleust wird, dabei hochvernetzt und hochverstrickt ist und um das Leben betrogen wird, auch um den Himmel und das Leben unter freiem Himmel entlang der Jahreszeiten. Der Wetterbericht zum Beispiel, wie er in der Glotze oder im Smartphone kommt, ist wichtiger als das, was der Mensch auf der anderen Seite seiner Augen wahrnehmen könnte.

Die Mehrheit der Leute sagt heute, sie will im weltweiten Wettbewerb „den Anschluss nicht verlieren“. Und so sollen zum Beispiel auch die Kinder möglichst schnell ihre Muttersprache aufgeben und schon im Kindergarten Hochdeutsch oder am besten gleich Englisch lernen. Das ist doch verrückt! Das ist darwinistisch. Struggle for life, survival of the fittest. Daher schon möglichst früh die Totaldigitalisierung. Das ist die Forderung des Utilitarismus im Gewand von 2019. Und ich bin ja auch nur einer von ihnen, die es aushalten mussten. Am Ende wurde auch mir ein Computer aufgeschwatzt. „Was du damit alles machen kannst“, hat man mir gesagt. Ich will aber gar nichts damit machen. Diese Freude am Funktionieren, auch am Funktionellen des Lebens, die teile ich nicht. Was wollen wir denn mit der Digitalisierung? Mir scheint, oftmals ist das nur eine Hülse für den eigenen Leerlauf im Leben.

Auf einer existenziellen Ebene geht es bei Ihnen einerseits um die Sehnsucht, auf der anderen Seite um die Vergänglichkeit. In einem Gesprächsbuch mit Michael Albus („Was ist Glück? Nachher weiß man es“, Ostfildern 2018) sagen Sie, Sie schreiben „gegen den Tod“. In einem Band über ein Symposium zu Ihrem Werk („Auch der Unglaube ist nur ein Glaube“, hg. von Jan-Heiner Tück, Freiburg 2017) erklären Sie, ein Schreibender werde sich nie mit der Kontingenz arrangieren. Wie meinen Sie das?

Ich würde bei „Sehnsucht“ und „Vergänglichkeit“ nicht von „Einerseits – Andererseits“ sprechen. Im Gegenteil ist der Motor meiner Sehnsucht ja die in meinem Fall früh gemachte Erfahrung der Vergänglichkeit. Das Motiv der Vergänglichkeit als roter Faden meines Lebens und Schreibens hat damit zu tun, dass ich irgendwann, und das war sehr früh, einmal auf meine eigene Kontingenz gestoßen bin und darauf, dass ich auch nicht sein könnte. Dass ich also auf den sogenannten Tod gestoßen bin. Ein für alle Mal, möchte ich sagen. Vielleicht sind wir im Meßkircher Raum ja auch in besonderer Weise damit infiziert. Denken Sie an Martin Heidegger, 1889 in Meßkirch geboren, wie er am Anfang von „Sein und Zeit“ den „Ackermann aus Böhmen“ des Johannes von Tepl zitiert: „Kaum ist der Mensch geboren, so ist er alt genug zu sterben.“ Aber ich muss da eigentlich gar nicht die Literatur bemühen, um etwas zu diesem sprachverschlagenden Thema zu sagen. Ich denke auch an Schwester Maria Radegundis aus meinem Kindergarten. Sie war wohl auch künstlerisch begabt und hatte – fast möchte ich „also“ sagen – einen Sinn für die Vergänglichkeit. Am letzten Tag meiner Kindergartenzeit haben wir einen Gipsabdruck unserer Händchen gemacht. Den habe ich heute noch.

Es gibt die einen, die angesichts der Vergänglichkeit ins Zweifeln, ja ins Verzweifeln kommen. „Es ist ja doch alles sinnlos.“ Etliche werden zum Zyniker. Sie aber haben dazu einmal gesagt: „Das schaff ich nicht!“

Vielleicht würde ich es schaffen. Dazu muss man sich ja gar nicht anstrengen. Man muss sich heute eher anstrengen, kein Zyniker zu werden. Aber ich will es gar nicht „schaffen“. Das hilft ja nicht weiter. Der Zyniker sagt „Nein“. Ich sage: „Ja, trotz allem.“

Und wie kommt man, wie kommen Sie zu diesem „Ja“?

Das Wort „Hoffnung“ ist ein roter Faden für mich. Ich fühle mich aufgehoben in einem größeren Zusammenhang. Ich bin der Auffassung, das kommt vom Vorzeichen des Glaubens, dass ich eben dergestalt „musikalisch“ bin. Die Vergänglichkeit ist für mich in jedem Fall nur eine Vorstufe, etwas Vorläufiges.

So gelangt man im Gespräch mit Arnold Stadler immer wieder zum Glauben. Sein ganzes Schreiben ist „durchtränkt von der religiösen Dimension“, hat er einmal gesagt.

Den „Rückspiegelschmerz“ haben Sie auch, wenn Sie auf den Glauben in der Welt von heute schauen …

Ich finde den Glauben schöner fürs Leben als den Unglauben, der auch nur ein Glaube ist. Aber viele Menschen haben kein Sensorium mehr dafür, selbst bei Grabreden darf man manchmal nicht mehr von Gott sprechen. Und im Literaturbetrieb auch nicht. Da schreibt man sich um den sogenannten Kopf und Kragen, wenn man schreibt: Der Unglaube ist auch nur ein Glaube. Der Glaube aber ist schöner. Und „Ja“ ist ein schöneres Wort als „Nein“. Mein großes Missbehagen ist der Utilitarismus. Die Menschen heute wollen von allem etwas haben, auch vom Glauben. Ich will vom Glauben nichts haben – außer der Hoffnung, die mich weiterträgt.

Wie meinen Sie das?

Der frühchristliche Apologet Lactantius hat um 300 den christlichen Glauben einmal so beschrieben: „Der Glaube ist eine Wahrheit, die das Leben leichter und das Sterben sanfter macht.“ Das ist auch utilitaristisch gedacht. Aber so ist der Mensch, so war er schon immer. Wenn Sie ins Alte beziehungsweise Erste Testament schauen: Irgendwann kam der Auferstehungsglaube auf. Die Menschen haben Glaube und Unsterblichkeit zusammengedacht, gewissermaßen fast schon als einklagbare Forderung an Gott: Ich glaube, wenn es meine eigene Auferstehung gibt. Von dieser Art bin ich nicht. Es ist mir doch egal, ob ich ewig lebe. Wenn es so kommt, ist es wunderbar – und ich glaube es ja auch. Aber das ist keine Bedingung für meinen Glauben. Näher sind mir in diesem Moment jene Psalmen, die zeitlich vor dem Auferstehungsglauben angesiedelt sind. Wenn es heißt „Ich will singen und spielen, mein Leben lang. Möge ihm mein Lied gefallen“ oder „Auch wenn ich sterbe, Gott bleibt mein Herzfels …“ Singen und spielen, solange ich da bin; möge ihm mein Lied gefallen. Das ist eigentlich mein Glaube. Der Dank für das Leben, „gracias a la vida“, wie auch gesungen von Mercedes Sosa.

Und wie geht es Ihnen, wenn Sie auf die Kirche schauen?

Die Gesellschaft reagiert heute ja diffus auf die Kirche. Die Deutungshoheit hat sie, die Kirche, weitgehend verloren. Im Einzelfall gibt es noch Allianzen: Den Einsatz der Kirche, nicht zuletzt des Papstes, gegen den Kapitalismus zum Beispiel, den finden viele gut. Auch ihren sozialen Einsatz weltweit vom Evangelium her. Aber wenn sich der Papst zu anderem äußert, etwa zum Bösen als Realität mit ganz realen Eingriffsmöglichkeiten in unser Leben – Jesus war doch auch einer, der vom Teufel verführt werden sollte, ihn anzubeten –, das will man nicht hören. Und wenn der Papst zu sagen wagt, dass die Tötung des ungeborenen Lebens eher nicht zu den Menschenrechten gehört und keine gute Tat ist, dann erlebt er in der Mehrheitsgesellschaft von heute einen sogenannten Shitstorm. Die Kirche muss den Menschen auf seinem Weg zu Gott durch die Zeit im Blick haben. Mir geht es auch nicht um Paragrafen des Strafgesetzbuches, sondern um den Menschen, der in Not kommen kann. Und dann finde ich allerdings die Reaktion von „Donum Vitae“ (des von Katholiken getragenen Vereins zur Beratung von Schwangeren in Konflikten; d. Red.) angemessener als eine Sanktion aus Rom. Das liegt nun auch schon Jahre zurück, wird aber nicht unwahrer dadurch, dass es lange her ist oder heute keinen mehr interessiert. Oder dass etwas nicht verstanden wurde oder verstanden wird. Die Kirche in ihrer Ganzheit anzunehmen und zu verstehen, dazu sind viele gar nicht bereit. Da herrscht auch bei vielen Katholiken große Ahnungslosigkeit, was – zum Beispiel – die Sakramentalität der Kirche angeht und ihre „Heiligkeit“. Aber genau so ist die Kirche für mich Heimat, liegt sie mir am Herzen. Umso schlimmer ist es dann natürlich, was wir erleben mit dem Missbrauchsthema: Wenn man erfährt, welche Verbrechen – und Todsünden – auch von Priestern begangen wurden.

Muss sich die Kirche reformieren? Wo?

Ich bin sehr traurig darüber, dass das Modell Kirche heute so zeitgeistig verstanden wird. Die Menschen haben gar keine Geduld mehr mit der Kirche, selbst die Gutmeinenden. Manche Funktionsträger in der Kirche sind für mich wie Beamte, wie Architekten, die einen Plan umsetzen. Zeitgeistutilitaristen. Die verfolgen Themen, weil sie gerade „Mode“ sind, wie Mausi sagen würde (eine der Hauptpersonen in Stadlers jüngstem Roman „Rauschzeit“; d. Red.). Nehmen Sie zum Beispiel die Priesterweihe für Frauen … Natürlich darf es in der Kirche keine Vorherrschaft des Mannes über die Frau geben. Frauen – und Männer, die nicht geweiht sind, denn unter den sogenannten Laien sind die Männer genauso ausgegrenzt wie die Frauen und, was die öffentliche Aufmerksamkeit betrifft, dazu auch noch ausgeblendet – sollen selbstverständlich alle Ämter übernehmen können. Ich habe einmal einem hohen Geistlichen den Vorschlag gemacht, dass Frauen Kardinalinnen, meinetwegen Kardinalstaatssekretärin werden sollten. Und auch Männer, die nicht geweiht sind. Das ist kein göttliches Recht, das kann man kirchenrechtlich jederzeit ändern. Die Priesterweihe – das kann ich mir dagegen heute nicht vorstellen. Aber vielleicht doch einmal. Klar, dass ich damit schon wieder ein Außenseiter bin. Aber eigentlich bin ich nicht der Richtige, um diese Frage zu beantworten. Ich bin nur eine Einzelperson, ich bin kein Amtsträger, bin nicht als Lautsprecher befugt und bestellt. Wie bei meinem Schreiben bin ich fragend unterwegs – nicht antwortend. Meine Art des Zugangs zur Welt ist ja, dass ich gerade nicht weiß. Aber genau dazu habe ich ein Recht, ich bin Stellvertreter der Nichtwissenden, das heißt derer, die nicht so schnell wissen, wo’s langgeht.

Fragen: Stephan Langer

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