SchweizDer Heilige der Schweiz

Ein Jahr lang wird er gefeiert, vor 600 Jahren wurde er geboren: Nikolaus von Flüe. Der spätmittelalterliche Mystiker, Asket, Friedensstifter und Menschenfreund hat in konfliktreichen Zeiten weiterhin Bedeutung für die politische Kraft des Glaubens.

Der heutige Mensch ist breiter“, diese merkwürdig klingende Formulierung findet sich in dem Roman „Der Idiot“, an dem Fjodor M. Dostojewski (1821–1881) vor 150 Jahren arbeitete. Was zunächst etwas rätselhaft klingt, wird im Roman näher erläutert: „In früheren Zeiten wohnte dem Menschen eine einzige Idee inne, jetzt ist er nervöser, höher entwickelt, sensibler und hängt gleichzeitig zwei, drei Ideen nach… Das ist es, ich schwöre es, was ihn daran hindert, ein so monolithischer Mensch zu sein wie in jenen (früheren; d. Red.) Jahrhunderten.“

Diese Entwicklung, die der russische Dichter 1867 äußerte, ist seither munter fortgeschritten. Vor allem in den letzten Jahren hat der Mensch durch Globalisierung, Informationstechnologie, Mobilität und anderes beständig zugenommen, ist immer noch „breiter“ geworden. Mit zwei, drei Ideen ist es längst nicht mehr getan. Vieles möchte man ausprobieren: einen anderen Partner in den Beziehungen, eine neue Partei bei den Wahlen, ein immer exotischeres Urlaubsziel, eine immer extremere Sportart, eine alternative Medizin, eine fernöstliche Spiritualität. Man darf sich nichts entgehen lassen, nichts verpassen. Positiv ausgedrückt: Pluralität ist angesagt, für alles offen sein. Der in die Breite gewachsene Mensch erscheint wie von barocker Statur: Er interessiert sich für alles und erfreut sich an allem – und dann? Dann wird ihm auf einmal alles zu viel.

Ein Therapeut Europas

Stimmt man Dostojewskis Befund zu und beginnt unter der eigenen Breite zu leiden, sucht man sich vielleicht einen guten Therapeuten, am besten einen von denen, die Dostojewski „monolithische Menschen“ nennt. Das ist dann einer, der beseelt ist von einer Idee; einer, der nicht in die Breite wächst, sondern in die Höhe und in die Tiefe. Ein „gotischer Mensch“ also. Ein solcher kam 450 Jahre vor Dostojewski im Jahr 1417 zur Welt, zur Zeit der Hochgotik, mitten in der heutigen Schweiz, im Dorf Flüeli-Ranft (Kanton Obwalden): Nikolaus von Flüe. In der Schweiz und darüber hinaus feiert man heuer seinen 600. Geburtstag mit vielen Veranstaltungen, Ausstellungen, Theater und Musik.

So wie man im 4. Jahrhundert den ersten Eremiten Antonius den „Arzt Ägyptens“ nannte, so könnte man heute von Nikolaus, dessen Heiligengedenktag der 25. September ist, als einem „Therapeuten Europas“ sprechen. Er therapiert nicht mit vielen Worten in langen Sitzungen, sondern vor allem durch seine herausfordernde Existenz. Manches in seinem Leben wirkt dabei auf den heutigen Menschen wie eine Schocktherapie.

Im Leben des Nikolaus von Flüe lassen sich grob drei Phasen unterscheiden: seine Kindheit und Jugendzeit (1417–1446), sein Wirken als Ehemann, Vater von zehn Kindern, Bauer, Politiker und Laienrichter (1446–1467) sowie das letzte Lebensdrittel als Eremit (1467–1487). Zusammengehalten wird diese Existenz von der Sehnsucht nach dem „Einig-Wesen“.

Bereits als Sechzehnjähriger sieht Nikolaus in einer Vision „einen hohen schönen Turm an der Stelle, wo jetzt sein Häuslein und die Kapelle stehen. Daher sei er auch von jung auf willens gewesen, ein ‚Einig-Wesen‘ zu suchen, wie er es denn auch getan habe“. Mit diesen Worten beschreibt ein Freund aus Kindertagen den roten Faden im Leben des späteren Eremiten. Das „Einig-Wesen“ also und nicht die vielen Ideen. Darunter versteht Nikolaus einen Namen Gottes und zugleich eine Beschreibung der Lebensform des Einsiedlers. Diese Sehnsucht nach dem Einssein mit Gott und sich selbst führte ihn weder am Leben in Gemeinschaft vorbei noch in die Isolation.

Suche nach dem „Einig-Wesen“

Die Biografie des Nikolaus von Flüe liest sich wie eine Bestätigung der beiden Grundsätze, die Dietrich Bonhoeffer in seinem Buch „Gemeinsames Leben“ anmahnt: „Wer nicht allein sein kann, der hüte sich vor Gemeinschaft“, und genauso umgekehrt: „Wer nicht in der Gemeinschaft steht, der hüte sich vor dem Alleinsein.“

Als junger Mann nahm der spätere Friedensheilige mit anderen Kameraden aus der Nachbarschaft auch an dem einen oder anderen Kriegszug teil. Er wollte sich diesen Pflichten nicht entziehen. Und doch schreibt ein anderer seiner Freunde, Nikolaus habe sich während der Feldzüge „allwegen nebent us zogen“, also sich oft neben hinaus verzogen, wie man diese schweizerdeutschen Dialektworte übersetzen könnte. Diese scheinbar widersprüchliche Haltung – Sinn für Gemeinschaft und Sehnsucht nach Abgeschiedenheit – prägt sein ganzes Leben.

Als Ehemann und Vater ist er ein gestandener Mann, der einem großen Hof vorsteht. Als Laienrichter und Politiker nimmt er seine Verantwortung für die Gerechtigkeit im Miteinander der Landbevölkerung wahr. Und doch kann er nicht „thun als ander lütt“ (sich so verhalten wie die anderen Leute). Es zieht ihn anderswohin. Je mehr Nikolaus Ungerechtigkeit, Heuchelei und Habgier in seinem politischen und richterlichen Handeln mitbekommt und nichts dagegen tun kann, umso mehr sucht er nach dem „Einig-Wesen“, und das „Einig-Wesen“ sucht ihn. Ausdruck dafür ist das im Spätmittelalter weit verbreitete Radbild. In der Mitte des Rades ist das gekrönte Haupt Christi. Davon gehen sechs Speichen aus zu sechs Medaillons mit Szenen aus der Heilsgeschichte.

In der vertrauten Familie wird Nikolaus von seinen Angehörigen zunehmend als schwierige Persönlichkeit erlebt. Der Ehemann und Vater ist aus ihrer Sicht in einer Art Depression gefangen. Er fastet immer radikaler, steht nachts auf, um stundenlang zu beten, und hat seltsame „Gesichte“. Dennoch verlässt er seine Familie nicht Hals über Kopf, sondern ordnet wohlüberlegt seinen Hof, den er den beiden älteren Söhnen übergibt. Zwei Jahre wartet er, bis seine Ehefrau Dorothea ihr Einverständnis zu seinem Weggehen gibt. Ohne ihre Zustimmung wäre er wohl nicht gegangen.

Einer seiner Jugendfreunde, der sein Leben lang mit Nikolaus Kontakt hielt, gab 1488, ein Jahr nach Nikolaus’ Tod, im Kirchenbuch zu Sachseln, der Pfarrgemeinde, zu der Flüeli-Ranft gehörte, etwas zu Protokoll: Er habe Nikolaus mehrmals sagen hören, dass es eine der großen Gnaden gewesen sei, die Gott ihm gewährte, von seiner Frau und seinen Kindern die Erlaubnis zum Einsiedlerleben erhalten zu haben.

Dann aber kommt es doch anders: Nikolaus wollte weit weg, vermutlich ins Elsass („ins ellend“), um sich dort lebenden Einsiedlern anzuschließen. Doch auf dem Weg dorthin kehrt er wegen innerer Unruhe wieder um. So fügt es sich, dass Bruder Klaus, wie er sich von nun an nennt und auch von allen genannt wird, ein Eremitenleben in einer Klause neben einer Kapelle führt, die ihm seine Landsleute beinahe in Rufweite zu seinem Familienhaus errichten. Die jugendliche Vision vom hohen und schönen Turm in der Schlucht nahe seinem Hof verwirklicht sich. Diese räumliche Nähe zur Familie macht es möglich, dass seine Frau und die Kinder ihn wie viele andere auch aufsuchen können.

Der Vertrag von Stans

Ein Besuch wird für die ganze Schweiz von herausragender Bedeutung. Drei Tage vor Weihnachten 1481 eilt der Pfarrer von Stans, drei Wegstunden von Flüeli entfernt, in großer Sorge herbei. Die Eidgenossenschaft droht auseinanderzufallen. Nach mehrjährigen komplexen diplomatischen und bundesrechtlichen Verhandlungen wollten die politischen Vertreter der Städte und der Landorte sich endlich einigen und waren dazu nach Stans gekommen. Es ging um die Lösung eines Interessenkonflikts zwischen den ländlichen „Orten“ des eidgenössischen Bundes Uri, Schwyz und Unterwalden mit der Stadt Luzern. Darüber hinaus musste man Machtverhältnisse ausbalancieren zwischen Zürich, Bern und Luzern, die die Städte Freiburg und Solothurn gern mit in den Bund aufnehmen wollten. Die sogenannten Waldorte befürchteten, dadurch ins Hintertreffen zu geraten.

Als man sich wider Erwarten doch nicht auf den vorbereiteten Kompromiss einigen konnte und die abgesandten Unterhändler für den 22. Dezember ihre Abreise unverrichteter Dinge ankündigten, machte sich eben in diesem schicksalhaften Augenblick der Pfarrer von Stans auf den Weg zu Nikolaus. Am nächsten Morgen kehrte er zurück, eilte in die Gasthäuser des Orts und trommelte die bereits zusammenpackenden Delegierten noch einmal zusammen, um ihnen den Rat des Einsiedlers mitzuteilen. Man weiß nicht, worin dieser Rat bestand, doch der Kompromissvertrag wurde nun von allen unterzeichnet. Im Wesentlichen war es wohl die von allen anerkannte Autorität des heiligmäßigen Mannes, die den Frieden sicherte.

Eine später entstandene harmonisierende Legende besagt: Nachdem es mit der Hilfe von Bruder Klaus gelungen war, den Frieden für die Schweiz zu erhalten und einen möglichen Bürgerkrieg abzuwenden, habe Dorothea gesagt: Jetzt verstehe ich, dass ich wie eine Witwe werden musste, damit tausende Schweizerinnen keine Witwen werden müssen. Dennoch bleibt das Verlassen von Frau und Kindern, Haus und Hof und das Niederlegen aller Ämter und Ehren ein schockierender Schritt, von dem letztlich das Wort Jesu gilt: „Wer es fassen kann, der fasse es.“

Noch etwas Unfassbares kommt hinzu: Ohne es anzustreben, hatte Bruder Klaus kein Bedürfnis mehr nach Nahrung, und zwar fast zwanzig Jahre lang. Diese mehrfach von kirchlicher und weltlicher Seite überprüfte Abstinenz trug wesentlich zur Berühmtheit und zum wachsenden Ansehen des Einsiedlers schon in den ersten Jahren seines eremitischen Lebens bei. In seiner Klause suchten Kranke, Hilfe- und Ratbedürftige, aber auch Neugierige und Eitle ihr Heil. Nicht, wie es im Mittelalter üblich war, im Gebet vor Bildern, Statuen und Reliquien, sondern in der Begegnung mit einem „lebendigen Heiligen“. Bruder Klaus ertrug den Zustrom der Wallfahrer mit freundlicher Geduld. Bisweilen reagierte er auch schroff, wie Zeitzeugen berichteten, meistens war er wortkarg. Manchmal zog er sich weiter in den Wald zurück, um das „Einig-Wesen“ nicht zu verlieren. Ein Leben in Abgeschiedenheit und der Dienst an den Menschen mussten stets aufs Neue aufeinander abgestimmt werden.

Nikolaus von Flüe war wie der Großteil seiner Landsleute und Zeitgenossen Analphabet. Wollte er etwas lesen oder schreiben, benötigte er Hilfe. In einer Schrift über ihn heißt es: „Seine Stimme war männlich, seine Rede langsam. Wenn er von Gott redete, schien er alle Geheimnisse der Heiligen Schrift zu erfassen, obwohl er keinen Buchstaben lesen konnte.“ Oft waren die Antworten, die er neugierigen Besuchern gab, kurz und auf das Wesentliche beschränkt. Fragte ihn jemand nach dem Geheimnis der Nahrungslosigkeit, sagte Bruder Klaus: „Gott weiß es.“ Fragte ihn jemand nach dem Sinn eines Lebens in Abgeschiedenheit, antwortete er: „Gott will es.“ Musste er leiden oder Schmerzen ertragen, entgegnete er den Neugierigen: „Doch so wil’s villicht got also gehept han“ (Doch will’s vielleicht Gott so haben).

Alles in seinem Leben ist vom Glauben getragen. Nikolaus glaubte, dass Gott seine Hand auf ihn gelegt hatte. Und auf diese „Beschlagnahme“ antwortete er im Gebet: „Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu dir. Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich fördert zu dir. Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir.“ Gott, das „Einig-Wesen“, ist der Friede. „Friede ist allweg in Gott“, wird zu einem der meistzitierten Sätze aus dem Mund des Einsiedlers.

Die Menschen des 15. Jahrhunderts staunten über Bruder Klaus, und auch heute staunen Menschen über dieses steile, aufs Wesentliche konzentrierte, „gotische“ Leben, das in so deutlichem Kontrast zu einem Leben der Zerstreuung, der Unersättlichkeit, der Unruhe und Haltlosigkeit steht. Bruder Klaus seinerseits staunte ebenfalls über die Menschen in seiner Umgebung. Er würde wohl heute genauso über das Treiben so vieler „breiter Menschen“ verwundert sein.

Auf eindrucksvolle Weise kommt das in der bekanntesten seiner Visionen zum Ausdruck: Nikolaus von Flüe sieht einen Platz mit einer großen Menschenmenge. Alle Leute arbeiten ununterbrochen. Dann sieht er rechter Hand ein Gehäuse, das er „Tabernakel“ nennt. Man kann in diesen Tabernakel eintreten und findet innen einen Brunnen, aus dem unaufhörlich Wein, Öl und Honig überfließen, die Fülle des Lebens. Bruder Klaus „verwunderte sich sehr, … wie doch niemand hineinging, aus dem Brunnen zu schöpfen, was doch leicht gewesen wäre, da er doch allen gehörte“.

Als er die Stätte wieder verlässt, beobachtet er die rastlos arbeitenden Leute genauer und bemerkt, dass sich bei ihnen alles ums Geld dreht: „Sie heischen den Pfennig.“ Wächter, Handwerker, ja sogar Musiker – alle wollen von ihm „den Pfennig haben“. Zugleich beobachtet er, dass alle arm bleiben, weil sie das Wesentliche übersehen, obwohl es so nahe ist.

Die Vision endet mit einer überraschenden, unschuldig-kühnen Pointe: „Wie er so dastand, … erkannte er in seinem Geist, dieser Tabernakel wäre Bruder Klaus.“ Die unerwartete Selbstidentifikation des Heiligen mit dem Tabernakel lässt ein seltsames Gefühl bei uns Heutigen zurück. Ist Bruder Klaus jetzt zu weit gegangen? Vielleicht wusste er aber um das Jesuswort: „Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten; mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen“ (Joh 14,23). Vielleicht lebte er auch ganz intuitiv aus der Verheißung der ersten Seligpreisung Jesu: Selig die Armen, die einfachen, die alles loslassen können, denn in ihnen ist das Leben in Fülle.

Mit dem Leitwort „Mehr Ranft“ hat der Wallfahrtsort Sachseln die Feierlichkeiten zum Gedenkjahr überschrieben (www.mehr-ranft.ch). Auf der Website heißt es: „Als einer der wirkungsmächtigsten und identitätsstiftenden Leitfiguren der Schweiz ist Bruder Klaus Vorbild und weltweite Inspiration in Mystik und Spiritualität, Gesellschaft und Politik sowie als Mensch – mit seinen Stärken und Schwächen.“ Bruder Klaus verkörpere ein ausdrückliches „Weniger-ist-mehr“.

Der Heilige...

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