Rechtspopulismus in Kitas„Bestimmte Themen werden bewusst für rechte Mobilisierung genutzt“

Im Dezember gerät eine der Finkenau-Kitas in Hamburg wegen eines Weihnachtsbaums unter massiven Druck und in einen waschechten rechten Shitstorm. Das kann jede Einrichtung treffen, ist sich Vorstand Marko Bleiber sicher.

Im Dezember gab es in einer Ihrer Kitas einen Vorfall, der medial hohe Wellen geschlagen hat. Was ist passiert?
Die Kita hatte sich, so wie in vielen Jahren zuvor, dafür entschieden, keinen Tannenbaum aufzustellen. Wie immer wurde im Team gemeinsam entschieden, welche weihnachtlichen Bräuche stattfinden sollten – so gab es einen Adventskalender, ein Wichtel zog ein, es gab Dekorationen und ein Weihnachtsfrühstück, aber eben keinen Tannenbaum. Dagegen sprachen unter anderem praktische Gründe: Gerade bei jungen Kindern kann ein Baum ja auch ein Hindernis und eine Gefahrenquelle sein, wenn viel gerannt wird in den Gängen. Die Kolleg:innen haben dann der Elternschaft kommuniziert, welche weihnachtlichen Bräuche es dieses Jahr geben würde.

So weit, so normal. Wie kam es dann zum vermeintlichen Skandal?
Es gab eine Anfrage aus der Elternschaft, ob es einen Weihnachtsbaum geben würde. Diese wurde von der Leitungskollegin unglücklicherweise etwas missverständlich beantwortet – in ihrem Schreiben, das wohl auch zwischen Tür und Angel aufgesetzt wurde, war von Religionsfreiheit die Rede, was faktisch nicht der Grund war, warum es keinen Tannenbaum gab. Dieses Schreiben wurde an eine Hamburger Tageszeitung weitergegeben.

Hat sich die Zeitung daraufhin bei Ihnen gemeldet?
Ja, wir waren tatsächlich im Dialog mit der Zeitung und hatten auch erklärt, welche Bräuche es in der Kita gibt, um die Vorweihnachtszeit für die Kinder erlebbar zu machen. Umso mehr hat es uns überrascht, am Tag darauf auf der Titelseite zu lesen, dass es in der Kita keinen Weihnachtsbaum gibt, weil christliche Traditionen abgeschafft werden sollten. Aus diesem Bericht entstand eine Dynamik, mit der wir nicht gerechnet haben.

Welche Auswirkungen hatte die Berichterstattung konkret?
Von Tag eins an erhielten wir sehr viele Mails und Anrufe. Uns wurde gedroht, das Team wurde beschimpft. Nach dem ersten Bericht griffen zahlreiche andere Medien das Thema auf, von Focus bis zu NTV, und wir konnten quasi minütlich mitverfolgen, wie sich die Berichterstattung verselbstständigte. In den Kommentarspalten lasen wir zahlreiche Hassbotschaften. Schließlich drang in der Nacht ein Mann auf das Gelände der Kita ein und kettete vor der Tür einen Weihnachtsbaum an, unter dem Geschenke lagen. Nach dem Hass, der uns mehrere Tage entgegengeschlagen war, konnten wir das nur als Provokation auffassen. Der Vorfall hat vielen Mitarbeiter:innen Angst gemacht. Aus diesem Grund haben wir zunächst auch Anzeige gegen Unbekannt erstattet.

Wie hat die mediale Aufmerksamkeit Ihre tägliche Arbeit beeinflusst?
Die Kita wurde zeitweise regelrecht belagert. Die Kinder mussten das Gebäude über den Hintereingang betreten, und wir ließen alle Jalousien herunter, damit nicht in die Räume fotografiert oder gefilmt werden konnte. Zum Glück ist es uns aber gelungen, das Thema von den Kindern weitestgehend fernzuhalten, und das liegt vor allem auch an der guten Arbeit der Kolleg:innen vor Ort. Besonders geärgert hat uns tatsächlich der Versuch, die Kinder über das ungebetene Aufstellen eines Tannenbaums mit Geschenken zu instrumentalisieren.

Wie erklären Sie sich, dass ein so kleiner Anlass wie die Dekorationswahl einer Kita die Menschen so emotionalisiert?
Dieses Thema setzt sich aus unterschiedlichen Facetten zusammen. Medien wissen natürlich, womit sie viele Klicks generieren können. Die Weihnachtszeit in Kombination mit Kindern, denen vermeintlich etwas vorenthalten wird – dieses Narrativ emotionalisiert die Menschen und spricht viele an. Deshalb wurden vermutlich die Informationen, die wir weitergegeben haben, größtenteils ignoriert und in der Überschrift suggeriert, man habe hier einen handfesten Skandal entlarvt: „Jetzt werden sogar schon Kindern Weihnachtsbäume vorenthalten! Wo kommen wir denn da hin?“

Es ist nicht das erste Mal, dass eine Kita in den Fokus einer solchen Debatte gerät, oder? 
Es gibt es mittlerweile eine Vielzahl an Beispielen aus dem Kita-Bereich, wo Einrichtungen aufgrund einer angeblichen Entlarvung und deren Skandalisierung massiv angefeindet wurden, um für rechte Themen zu mobilisieren. Beispielsweise wurde von einer „Unterwerfung des Abendlandes“ berichtet, als eine Kita in Leipzig 2019 Schweinefleisch vom Speiseplan nahm, oder die „Frühsexualisierung“ von Kindern angeprangert, als eine Kita 2024 ihren Kindern im Sinne eines, wie ich finde, fachlich überzeugenden, Schutzkonzepts Möglichkeiten zu Körpererkundungen anbot.

Welche Mechanismen stehen dahinter?
Mein Eindruck ist, dass es bestimmte Themen gibt, die sich im Zusammenhang mit Kita-Kindern besonders für Empörung und damit auch für eine Verschiebung der Debattenkultur eignen. Dies ist auch in der aktuellen Fachliteratur zum Thema Rechtspopulismus herausgearbeitet worden. Denn Kinder haben eine gewisse Symbolik, sie stehen für die Zukunft und gelten als besonders schützenswert. Deshalb werden Themen wie Traditionen, aber auch sexuelle Bildung und Prävention, Partizipation, kultur- und vielfaltssensible Materialien oder Ernährung immer wieder und gezielt für große Aufregung instrumentalisiert. Die eben erwähnten angeblichen Skandale, die in der Regel keine sind, werden bewusst von rechten Gruppierungen und Parteien wie der AfD gekapert. Es geht um eine vermeintliche Entlarvung und deren Skandalisierung. Sie möchten vermitteln: „Wir decken diesen ‚Skandal‘ auf, und das geht zu weit, die Kinder müssen geschützt werden.“ Das gelingt dann nur mit der vermeintlichen Lösung, nämlich indem man rechte Parteien wählt. Was natürlich in keiner Weise der Wahrheit entspricht.

Was Ihnen passiert ist, wird also kein Einzelfall bleiben?
Nein, mit Sicherheit nicht. Die gezielte Strategie, Kinder, Kindheiten und Erziehung als emotionale Themen zu nutzen und gegen Pluralisierung, den Islam und Migration unter dem Deckmantel des Schutzes der Kinder zu mobilisieren, wird noch zunehmen. Aus aktuellen Forschungen weiß man, dass es sich hierbei nicht um Zufälle handelt, sondern dass bewusste Strategien dahinterstecken, um Diskurse zu verschieben. Hinzu kommen die aktuellen Umfragewerte. Ich denke, wenn eine extrem rechte Partei wie die AfD bei 20 Prozent steht, bestärkt das sicherlich auch einige Personen, sich laut zu empören, wo sie sich bis jetzt nicht getraut haben. Und rechte Strömungen sind wie gesagt nur zu gerne bereit, diesen Skandalisierungsversuchen eine Bühne zu geben und sie für sich zu nutzen.

Welche Vorgehensweisen haben sich für Sie während des Shitstorms bewährt?
Zunächst einmal war es für uns hilfreich, einen kühlen Kopf zu behalten, uns zu besprechen und gleichzeitig schnell zu reagieren. Auch die Beratungsstelle Kinderwelten haben wir hinzugezogen, um eine externe, erfahrene Institution mit im Boot zu haben. Besonders gefreut hat es uns, dass sich auch der Elternrat mit einem offenen Brief hinter uns gestellt hat. 
Außerdem war es uns wichtig, die Kommunikation selbst zu gestalten. Wir hatten dutzende Anfragen von teilweise sehr unseriösen Blättern, die wir alle abgelehnt haben. Schließlich haben wir auf unserer Homepage eine Richtigstellung veröffentlicht, auf die sich dann viele der folgenden Berichte bezogen haben. Und wir haben uns dafür  entschieden, dass nur eine Person mit den Medien kommuniziert, und zwar unsere Vorständin Linda Köster. Es war wichtig, dass in dieser Krisensituation eine Person den Hut aufhatte. Wir haben uns dann bewusst für einige seriöse Medien entschieden, um unsere Sichtweise zu schildern. Danach haben wir erst mal alle Anfragen abgelehnt. Aber nun war es uns wichtig, noch mal im Nachgang mit kindergarten heute zu sprechen, damit andere Kitas von unseren Erfahrungen profitieren können.

Was würden Sie denn Kitas raten, die in eine ähnliche Situation geraten?
Zunächst ist es wichtig, sich bewusst zu sein, dass Kitas gezielt für eine solche Skandalisierung genutzt werden. Es kann hilfreich sein, schon frühzeitig zu recherchieren, also vor einer möglichen Krise, damit man vorbereitet ist und leichter kühlen Kopf bewahren kann. Einfach um ein Bewusstsein zu schaffen: Es kann passieren, dass eine Kita zur Zielscheibe rechtspopulistischer Mobilisierungsversuche wird, und diese Themen sind dafür möglicherweise besonders anfällig. Das bedeutet natürlich nicht, dass man sich Angst einjagen lassen sollte und auf sinnvolle pädagogische Maßnahmen, Selbstverständnisse und Konzepte verzichten sollte, nur weil man befürchtet, einen Shitstorm abzukriegen. Aber man kann sich vorbereiten, indem man reflektiert und sich bewusst vor Augen führt, warum man beispielsweise bestimmte Feste feiert, welches Schutzkonzept in der Kita gilt und warum man für Partizipation steht. Dann ist man gut für eine Kommunikation mit den Eltern gerüstet. 

In Ihrem Fall wurde der vermeintliche Skandal durch eine Person aus der Elternschaft ausgelöst. Ziehen Sie für sich Konsequenzen, was Ihre Zusammenarbeit mit Eltern angeht?
Zunächst einmal: Es ist absolut legitim, dass Eltern Fragen stellen und auch Entscheidungen der Kita hinterfragen. Das hat keine rechtspopulistischen Hintergründe, wir begrüßen das sogar. Es ist ganz normal, dass Eltern, die ja auch nicht immer das pädagogische Hintergrundwissen mitbringen, von bestimmten Entscheidungen überrascht sind: „Warum muss mein Kind das Gemüse nicht aufessen?“ – „Warum darf es bestimmte Dinge selbst entscheiden?“ Ich glaube, es hilft, wenn man mit den Eltern intensiv und offen über solche möglichen Streitpunkte spricht und die Kommunikation so transparent wie möglich ist. Nach Abklingen des Shitstorms haben wir die Vorfälle nachbereitet und mit unserem Leitungskreis zu den Hintergründen von derlei Skandalisierungsversuchen und zu einer gelingenden Eltern- und Teamkommunikation gearbeitet. 

Gab es bereits vorher Konflikte mit Eltern oder Kolleg:innen, die in eine ähnliche Richtung gingen?i
Nein, nicht in dieser Form. Natürlich gab es immer wieder Nachfragen, zum Beispiel wenn es um sexuelle Bildung ging. Aber wir konnten das bislang immer gut auffangen, haben unser Schutzkonzept und die Hintergründe der Prävention erklärt oder auch Themenelternabende abgehalten. Darüber hinaus bieten wir vertiefende Informationen zu unterschiedlichen Themen in unserem Finkenau-Podcast an. Auch für uns kam diese Intensität und die Dynamik, die sich da entwickelt hat, aus dem Nichts.

Das Interview führte Sofie Raff, Redaktion kindergarten heute. 

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