Plädoyer für eine entwicklungsgerechte Medienerziehung„Früh übt sich ist überholt“

Kinder im Umgang mit Smartphone, Tablet & Co. fit machen – das ist heute eine Anforderung an die Kitas. Eine Perspektive, die sich darauf konzentriert, Medien lediglich bedienen zu können, ist aber kein akzeptables Erziehungsziel. Das jedenfalls sagen Carola Kammerlander und Marcus Rehn.

Für einen souveränen und aufrechten Gang durch die digitale Welt ist es für junge Kinder entscheidend, die dafür nötigen Vorläufererfahrungen – entwicklungspsychologisch in der frühen Kindheit angesiedelt – zu machen. Diese erworbenen Kompetenzen sind sinnlich sowie sozial-emotional geprägt. Kinder entwickeln sich sowohl im eigenen Tun als auch in der Auseinandersetzung mit anderen und der Umwelt. Sie benötigen dafür Zeit und Spielräume für reale Erfahrungen, in denen Handlungen mit natürlichen Konsequenzen verknüpft und überprüfbar sind.

Dazu kommt die systematische Förderung der Fähigkeiten zum Umgang mit verschiedenen Medien im jeweils angemessenen Alter. Um dies anschaulich zu machen, entwickelte die Medienpädagogin Paula Bleckmann den „Turm der Medienmündigkeit1. Dies ist ein passendes und einprägsames Bild. Der Turm wächst Stock für Stock. Je höher er werden soll, desto breiter und stabiler muss die Basis sein. Ein undifferenziertes „Früh übt sich ...“ ist also überholt: Wir stellen Kleinkinder auch nicht auf die Füße, bevor sie sich nicht selbst hochziehen und aufrichten können.

Reale Sinneserfahrungen machen

Die Basis des Medienmündigkeitsturms bildet die sensomotorische Integration, also die Zusammenführung von Sinneseindrücken und Bewegung. Kinder müssen erst lernen, die Informationen, die sie durch unterschiedliche Sinneskanäle empfangen, so zusammenzufügen, dass ein stimmiges Gesamtbild entsteht. Kleine Kinder sind zum Beispiel nicht in der Lage, ein klatschendes Publikum, das sie im Fernsehen sehen, mit dem Geräusch des Klatschens – das aus neben oder hinter ihnen stehenden Lautsprechern ertönt – in Verbindung zu bringen. Damit sich eine sensomotorische Integration vollziehen kann, sind möglichst vielfältige, real erlebte Sinneserfahrungen wichtig.

Andere wahrnehmen und verstehen lernen

Kommunikation ist grundlegend für viele weitere anstehende Entwicklungs- und Lernprozesse. Kommunikationsfähigkeit gelingt ausschließlich über zwischenmenschliche Interaktion und korreliert mit Bindungserfahrungen. Durch den Hautkontakt mit Mutter beziehungsweise Vater und deren Gestik, Mimik und Ansprache entwickeln Säuglinge Schritt für Schritt ihre Fähigkeit zu verstehen und selbst zu kommunizieren. Ein Spracherwerb zum Beispiel durch Fernsehen ist dagegen nicht möglich, weil sowohl die direkte Interaktion als auch der emotionale Part der Kommunikation fehlen. Die beiden ersten „Turm-Stockwerke“ sind somit gar nicht zu trennen: Ohne menschliche Begegnung würde ein Kind nicht lernen, seine Sinne zu gebrauchen, und ohne diese wäre es nicht in der Lage, andere wahrzunehmen und zu verstehen.

Die Welt selbst gestalten

Je mehr ein Kind hinaus in die Welt geht, desto mehr gestaltet es diese mit. Es entwickelt ganz nebenbei die Fähigkeit, mit einfachen Dingen etwas zu produzieren. Wenn es beispielsweise eine Collage herstellt, kann es in der spielerischen Auseinandersetzung Frustrationstoleranz und Durchhaltevermögen entwickeln: In spannenden Momenten lernen Kinder dabeizubleiben, etwas wieder oder anders zu versuchen, weil die Collage vielleicht nicht ganz der eigenen Vorstellung entspricht, der Kleber aber bereits getrocknet ist. Das entstehende Produkt ermöglicht gelingende Selbstwirksamkeitserfahrungen und (Produktions-)Stolz.
Digitale Produktionen dagegen sind in ihren Wahrnehmungsdimensionen klar begrenzt, die Relevanz für die eigene Konstruktion der Welt von vorneherein beschränkt. Auf dieser Stufe der Erziehung zur Medienmündigkeit haben Medien ihren Nutzen als Erinnerungs- und Reflexionshilfe. Mit Kamera, Video und Aufnahmegerät können Kinder eigene Erfahrungen, Geschichten, Erkundungen und das eigene Spiel aufnehmen, dokumentieren und präsentieren.
Was Kinder selbst (mit-)produziert haben, werden sie sehr viel aufmerksamer, bewusster und aktiver aufnehmen. Für die Medienrezeption im realen Leben heißt das: Erzieher/-innen können die Äußerungen der Kinder in den Vorleseprozess einbeziehen, die Zeichnungen in einem Bilderbuch gemeinsam betrachten und würdigen oder eine eigene kleine Theateraufführung anschauen.

Lernen, Distanz zu entwickeln

Kritische Reflexions­ und Selektionsfähigkeit beinhaltet, das Wahrgenommene oder Gesagte kritisch überprüfen und einordnen zu können: auf das eigene Medienverhalten „wie von außen“ zu schauen, es zu betrachten und einzuschätzen, zu einem Urteil zu kommen und daraus Konsequenzen für die eigenen Handlungen zu ziehen – eben zu reflektieren. Dazu gehört auch, Manipulation durch Werbung zu durchschauen und widerstehen zu können. Kinder erwerben diese Fähigkeiten erst Stück für Stück: durch die Gemeinschaft und durch den Austausch mit zugewandten Erwachsenen und anderen Kindern, durch vielfältige praktische sinnliche Erfahrungen mit ihrer Umwelt und durch zunehmendes Wissen.
Erst ein sorgfältiger Aufbau der vorangegangenen Stufen lässt die Reflexionsfähigkeit reifen, die in der Selektionsfähigkeit mündet. Eine mündige Entscheidung für oder gegen etwas setzt eine echte Auswahl voraus. Nur wer vielfältige Alternativen zum Medienkonsum kennen und schätzen gelernt hat, ist in der Lage, auswählen zu können. Das führt idealerweise dazu, auch später kritische Distanz wahren zu können. Es bedeutet, die vielfältigen Chancen und Möglichkeiten der Bildschirmmedien nutzbringend für sich verwenden und den Anforderungen der heutigen Zeit gerecht werden zu können – ohne sich zu leicht von digitalen Medienangeboten vereinnahmen zu lassen.

Medienerfahrungen Raum geben

Kinder bringen relativ viele Erfahrungen mit Medien beziehungsweise deren Inhalten mit in die Kindertageseinrichtung. Es geht darum, ihre Themen aufzunehmen und in den „analogen“ Alltag zu integrieren, um Kindern beim Verstehen von Medieninhalten zu helfen sowie sie aktiv in ihrer eigenen Medienfähigkeit zu unterstützen. So sollten sie lernen, unverständliche und werbliche von vertrauenswürdigen Angeboten zu unterscheiden. Das Ziel besteht darin, Kinder in ihrer Neugier beim Erforschen der Welt zu begleiten und aktiv ihre Themen zu verfolgen.
Außerdem brauchen Pokemons, Phineas und Ferb, Lillyfee und Co. ein fantastisches Zuhause, egal ob im Rollenspiel, Atelier, Bauzimmer oder im Erzählkreis. Es sind Dinge, die Präsenz in der kindlichen Erlebenswelt haben, reizvoll für sie sind und bei denen wir ihnen deswegen reale Impulse geben können, diese für sich und die eigene Entwicklung zu nutzen.

Fazit

Vernetzte Technik ist ein umfassend präsenter Bestandteil gesellschaftlicher Wirklichkeit. Wer vor diesem Hintergrund auf den Einsatz digitaler Medien in der Früherziehung blickt, sollte jedoch daran denken, dass die nützliche, verantwortungsvolle Verwendung dieser Instrumente auf realen, sozialen, sinnigen und stimmigen Erfahrungen beruht. Und ebendiese bilden auch im weiteren Lebensverlauf den Rahmen für einen gelingenden Einsatz digitaler Medien. Der Soziologe Bernhard Badura beschreibt dies wie folgt: „Nicht in der Technik liegt die Lösung unserer Probleme, sondern in der Kultivierung des uns von der Evolution in die Wiege gelegten sozialen Vermögens zu gegenseitiger Hilfe und friedfertiger Kooperation.“3
 Im Ergebnis ist für uns klar: Statt Laptops, Touchgeräten und Flatscreens braucht es Zeit und Raum für gelingende Beziehungen und für echte (Sinnes-)Erfahrungen in Kindergärten.

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