Ein Interview mit Ulli FreundSexuelle Übergriffe unter Kindern

Hinsehen und Reagieren schützt betroffene und übergriffige Kinder, meint unsere Interviewpartnerin, mit der wir uns zu einem Gespräch über ein schwieriges Thema ins Freie begeben haben.

Kindergarten heute: Was ist ein sexueller Übergriff unter Kindern?

Ulli Freund: „Ein sexueller Übergriff unter Kindern liegt dann vor, wenn sexuelle Handlungen durch das übergriffige Kind erzwungen werden bzw. das betroffene Kind sie unfreiwillig duldet oder sich unfreiwillig daran beteiligt. Häufig wird dabei ein Machtgefälle zwischen den beteiligten übergriffigen und betroffenen Kindern ausgenutzt, indem zum Beispiel durch Versprechungen, Anerkennung, Drohung oder körperliche Gewalt Druck ausgeübt wird.“ So lautet die Definition. Ein typisches Machtgefälle ist der Altersunterschied, der es älteren Kindern erlaubt, jüngere unter Druck zu setzen. Ein Alters- und Reifegefälle kann auch dazu führen, dass jüngere sich an sexuellen Entdeckungen beteiligen, weil sie es genießen, dass die „Großen“ und „Wichtigen“ mit ihnen spielen. Aber eigentlich begegnen sie sich nicht auf Augenhöhe. Oft kann man ein Machtgefälle auch an der Position innerhalb der Gruppe erkennen: Machen beispielsweise Kinder, die (noch) wenig integriert sind, bei „Doktorspielen“ mit, weil der beliebteste Junge der Gruppe oder der „Bestimmer“ sie dazu auffordert? Machtgefälle zu erkennen, verlangt von den Erzieherinnen und Erziehern eine gute Kenntnis der Gruppe und Gruppendynamik. Und es erfordert pädagogischen Mut, die eigene  Einschätzung der Situation zum Maßstab zu nehmen und nicht die der beteiligten Kinder. Denn gerade schwächere, jüngere Kinder behaupten auf Nachfrage oft, dass sie freiwillig mitgemacht haben. Ihnen ist der auf sie ausgeübte Druck nicht bewusst.

Und was ist eine Grenzverletzung unter Kindern?

Ulli Freund: Bei Kindern ist die Unterscheidung zwischen Grenzverletzungen und Übergriffen weniger üblich als bei sexueller Gewalt, die von Erwachsenen ausgeht. Dort steht der Begriff „Grenzverletzung“ für Handlungen, die im Gegensatz zu „Übergriffen“ eher versehentlich passieren – wo die Absicht, dem anderen zu nahe zu treten, nicht oder nur wenig ausgeprägt ist. Bei Kindern kann man auf die Unterscheidung verzichten, denn eingreifen muss man immer. Ich bevorzuge für Situationen, in denen es Kindern nicht darum geht, ihre Überlegenheit auszuspielen, den Begriff „Sexuelle Übergriffe im Überschwang“. Das sind Übergriffe, die passieren, weil ein junges Kind im Eifer der sexuellen Erkundungen die Grenzen des anderen Kindes übersieht, seine Impulse aufgrund seines Alters noch nicht ausreichend kontrollieren kann. Übergriffe im Überschwang entwickeln sich meist aus einverständlichen sexuellen Aktivitäten, die aus den genannten Gründen zu Übergriffen werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sexuelle Übergriffe im Überschwang geschehen, sinkt mit zunehmendem Alter, denn ältere Kinder wissen längst, dass sie andere verletzen, wenn sie rücksichtslos ihren Willen durchsetzen. Außerdem möchte ich noch ergänzen, dass alle Formen erwachsener Sexualität wie vaginaler oder analer Geschlechtsverkehr oder das Lecken oder Saugen an Penis oder Scheide ebenfalls als Übergriffe zu werten sind.

Warum?

Ulli Freund: Weil sie die Entwicklung der betroffenen Mädchen und Jungen beeinträchtigen – selbst wenn sich die beteiligten Kinder einig sind. Der Grund dafür ist, dass diese Handlungen ja eigentlich Ausdruck von sexuellem Begehren sind, das Kindern aufgrund ihrer sexuellen Entwicklung noch fehlt. Die eigene Qualität der kindlichen Sexualität als sinnliches Erleben wird durch solche Erfahrungen eingeschränkt oder sogar beendet. Entwicklungsschritte der Sexualität werden ausgelassen beziehungsweise extrem vorweggenommen. Formen erwachsener Sexualität überfordern die kindliche Psyche, Kinder können sie nicht in ihr Erleben integrieren. Etwas anderes gilt natürlich, wenn Kinder Erwachsene imitieren, also beispielsweise Mutter-Vater-Kind spielen und – weil sie davon gehört oder es in einem Aufklärungsbuch gesehen haben – sich zum Babys- Machen aufeinanderlegen. Das ist unproblematisch, denn es ist ein Spiel, das mit der Realität erwachsener Sexualität nichts zu tun hat.

Wie oft kommen sexuelle Übergriffe unter Kindern in Kitas vor?

Ulli Freund: Ich gehe davon aus, dass es in jeder Einrichtung mal zu sexuellen Übergriffen kommt, wie auch zu anderen Formen von Gewalt. Die Gründe sind teilweise dieselben. Wenn Kinder sich über andere ärgern, sich zurückgesetzt fühlen, andere gerne dominieren, aggressiv sind, dann wählen sie auch den sexuellen Bereich, um sich durchzusetzen und andere abzuwerten. Es gibt aber auch viele Situationen, in denen Kinder ein sexuelles Motiv haben, also beispielsweise wissen wollen, wie die Scheide oder der Penis eines anderen Kindes aussieht. Eigentlich ein legitimes Anliegen, aber sie sind nicht bereit zu fragen oder ein Nein zu akzeptieren. Sie bedrängen, manipulieren und bestechen das andere Kind. Mir ist wichtig, dass man sich klarmacht, dass nicht jeder sexuelle Übergriff eine Katastrophe ist. Übergriffe werden dann zum Problem, wenn sie nicht erkannt und gestoppt werden, sodass sie einfach fortgesetzt und gesteigert werden können. Dann besteht auch die Gefahr, dass ein von einem Übergriff betroffenes Kind seinerseits ein ihm unterlegenes Kind mit Übergriffen traktiert und so weiter, weil es keine andere Möglichkeit sieht, um diese Erfahrung von Schwäche und Unterlegenheit loszuwerden. Dadurch können regelrechte Dominoeffekte entstehen.

Wie können Erzieherinnen und Erzieher Übergriffe verhindern?

Ulli Freund: Es kann realistischerweise nicht darum gehen, jeden Übergriff zu verhindern. Dafür müsste man Kinder lückenlos kontrollieren und sich von Konzepten der Erziehung zur Selbstständigkeit verabschieden. Prävention von sexuellen Übergriffen fängt da an, wo sexualpädagogisch gearbeitet wird, wo mit Mädchen und Jungen über Regeln für Doktorspiele gesprochen und Kinder in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt werden. Die große Herausforderung besteht darin, sexuelle Übergriffe als solche richtig zu erkennen und fachlich angemessen mit den beteiligten Kindern, aber auch mit ihren Eltern und in der Kindergruppe umzugehen – und den Kindern so Orientierung zu geben.

Warum ist es so essenziell, dass Fachkräfte auf Übergriffe, die sie beobachten oder die ein Kind anzeigt, reagieren und nicht weggucken?

Ulli Freund: Zum einen bewahrt das Hinsehen und Reagieren betroffene Kinder vor weiteren Übergriffen. Sie lernen, dass das andere Kind das nicht durfte. Sie lernen auch, dass es gut ist, wenn man Bescheid sagt, dass es sich lohnt, Hilfe zu holen. Das sind präventive Erfahrungen für das weitere Leben. Und sie erhalten die Bestätigung dafür, dass sie ganz allein über ihren Körper bestimmen dürfen – kein anderes Kind und auch sonst niemand. Zum anderen hilft Hinsehen und Reagieren auch dem übergriffigen Kind, denn es wird gestoppt und lernt, dass sein Verhalten nicht akzeptiert wird. Es braucht diese Intervention, denn sonst erlebt es sein Verhalten als legitim, als Möglichkeit, sich mit sexuellen Mitteln durchzusetzen oder die Befriedigung der sexuellen Neugier mit Gewalt oder Manipulation zu erreichen. Und diese Erfahrung kann sich sehr negativ auf seine Entwicklung auswirken. Beide Kinder profitieren also davon, wenn Erzieherinnen und Erzieher einschreiten und fachlich angemessen handeln.

Sollten die anderen Kinder darüber in Kenntnis gesetzt werden?

Ulli Freund: Wünschenswert ist es, wenn auch die anderen Kinder der Gruppe, die nicht in den Übergriff involviert waren, erfahren, was vorgefallen ist, wer so mutig und schlau war, Bescheid zu sagen und wie damit umgegangen wird. Der Umgang mit sexuellen Übergriffen unter Kindern ist also immer zugleich eine „sexualpädagogische Chance“. Denn Kinder im Kita-Alter stehen am Anfang des sexuellen Lernens. Sie entdecken und entwickeln diesen Bereich ihres Lebens, ihrer Identität. Sie brauchen Eltern und Erzieher/-innen, die ihnen Orientierung geben, welche Rolle Sexualität im sozialen Kontakt spielt, wie sich sexuelle Neugier ausdrücken darf. Sie sind darauf angewiesen, dass wir sie begleiten und nicht sprachlos bleiben. Auf ihre Bezugspersonen kommt es an, ob sie Sexualität als einen Lebensbereich des Wohlergehens und der Lebensfreude erfahren und fühlen, ob sie Respekt vor den Grenzen des anderen entwickeln, ob sie den eigenen Körper und ihre Sexualität als etwas Wertvolles erleben und deshalb besser schützen können.

Sie beraten und bilden Kita-Teams fort. Was sind die Knackpunkte in den Fortbildungen?

Ulli Freund: Eine besondere Herausforderung stellt für viele Teams die Aufgabe dar, sich pädagogische Konsequenzen, also Maßnahmen, vorzustellen und zu entwickeln, die das übergriffige Kind einschränken und kontrollieren und die für eine bestimmte Zeit Anwendung finden sollen. Da gibt es wenige Ideen, die über die Entscheidung hinausgehen, dieses Kind stärker zu beobachten, damit es keine Übergriffe mehr begeht. Aber dieses Beobachten nutzt sich in der Praxis schnell ab und wird nach unbestimmter Zeit irgendwie aufgegeben. Für die Eltern betroffener Kinder bleibt diese Art der Intervention sehr unbefriedigend. Sie erwarten – zu Recht –, dass ein überzeugendes Konzept entwickelt wird, damit ihr Kind zukünftig geschützt ist. Nur so können sie wieder Vertrauen in die Kita entwickeln – Vertrauen, das nach einem Übergriff meist sehr ins Wanken geraten ist. Deshalb liegt auf dem Thema „Maßnahmen“ einer meiner Schwerpunkte in Fortbildungen, damit Teams peu à peu eine Palette von Maßnahmen erarbeiten und in ihrem sexualpädagogischen Konzept ausführen, auf die zurückgegriffen werden kann, wenn ein Übergriff stattgefunden hat.

Auch das Thema „Wie soll man mit Eltern umgehen?“ nimmt sehr viel Raum in Fortbildungen ein. Eltern werden oft als Gegner/-innen wahrgenommen, wenn Übergriffe in einer Kita stattgefunden haben. Am liebsten würde man sie außen vor lassen, denn ihre möglichen Reaktionen ängstigen viele Teams. Rollenspiele sind hier sehr hilfreich. Aber auch Sensibilisierungsübungen, die darauf abzielen, sich in die Situation von Eltern betroffener, aber auch übergriffiger Kinder hineinzuversetzen.

Ich ermutige die Erzieherinnen und Erzieher in den Fortbildungen dazu, sich stärker in der „Profi-Rolle“ wiederzufinden und sich ihrer Kompetenz, die ja durch die Fortbildungen gestärkt wird, bewusst zu werden – und wenn nötig, sich mit der einen oder anderen Fachliteraturempfehlung auseinanderzusetzen. Mir ist wichtig, dass sie Elterngespräche nicht wie am Küchentisch führen und den (notwendigerweise laienhaften) Einschätzungen der Eltern folgen oder andere fast genauso laienhafte Einschätzungen dagegenhalten. Ich möchte, dass sich Pädagoginnen und Pädagogen professionell zeigen, Fachwissen erwerben, dieses Wissen Eltern nahebringen und Eltern Orientierung geben in diesem hochemotionalen und verletzlichen Themenfeld. Ich denke, das dürfen Eltern erwarten, und nach meiner Erfahrung wächst mit der professionellen Haltung der Erzieher/-innen auch der Respekt der Eltern vor ihrem Beruf und ihrer Fachlichkeit.

Was sind tolle Erlebnisse für Sie in den Workshops?

Ulli Freund: Ich bin immer wieder erstaunt darüber, dass nach der Vermittlung von etwas Basiswissen über kindliche Sexualität die Teilnehmenden sehr schnell in der Lage sind, anhand von Fallbeispielen zutreffend zwischen Übergriffen und Aktivitäten unterscheiden zu können. Vor allem wenn man bedenkt, dass diese Unterscheidung nicht nur zentral für eine fachlich angemessene Reaktion ist. In der Vorstellungsrunde zu Beginn der Fortbildungen wird diese Erwartung am häufigsten geäußert: zu lernen, was „normal“ unter Kindern ist und was nicht. Viele beschreiben das als die größte Schwierigkeit im Kita-Alltag. Und ich freue mich dann, zu sehen, wie wenig es braucht, um hier einen großen Schritt voranzukommen. Das weist sehr deutlich darauf hin, dass es in den Ausbildungen hier noch ein erhebliches Defizit gibt. Ein Defizit, das so schwer nicht zu beheben wäre.

Fortbildungen zu Themen der sexuellen Gewalt haben ja den Ruf, sehr belastend und ernst zu sein. Ich erlebe es als ausgesprochen wohltuend, dass in den Fortbildungen auch viel gelacht wird, dass die Beschäftigung mit kindlicher Sexualität vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern Freude und gute Laune bereitet. Ich vermittle sehr stark, dass die Verhinderung und Beendigung von sexuellen Übergriffen unter Kindern kein sexualfeindliches Anliegen ist, sondern im Gegenteil der kindlichen Sexualität einen geschützten Rahmen frei von Gewalterfahrungen bieten soll. Für viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist die Perspektive, durch eigene fachliche Reaktionen auf sexuelle Gewalt unter Kindern der kindlichen Sexualität einen Dienst zu erweisen, offensichtlich wohltuend und stimmt sie optimistisch. Und mich auch.

Womit beschäftigen Sie sich zurzeit? Was steht in nächster Zeit auf Ihrer Agenda?

Ulli Freund: Das Thema sexuelle Übergriffe unter Kindern bildet ja einen Schwerpunkt meiner Arbeit und ist auch nach über 15 Jahren, die ich inzwischen dazu arbeite, noch immer sehr stark nachgefragt. In den vergangenen Jahren habe ich häufig auch Teams zur Entwicklung sexualpädagogischer Konzepte geschult, also das Thema Übergriffe in einen größeren Kontext eingebunden. Ich komme von meinem beruflichen Werdegang ja eigentlich aus der pädagogischen Prävention von sexuellem Missbrauch an Mädchen und Jungen. Ein Thema, das mir noch immer sehr am Herzen liegt und über die Jahre immer neue Herausforderungen bereithält: Die Gesellschaft verändert sich, die Kinder auch und Präventionsarbeit muss darauf reagieren. Seit 2010 wird das Thema Missbrauch in Institutionen sehr stark diskutiert, hier entwickelt sich sehr viel und hier gibt es gesamtgesellschaftlich einen Aufbruch – so empfinde ich das, wenn auch noch sehr viel Arbeit vor uns liegt. Aber in diesem Bereich, in dem sich Einrichtungen und Organisationen um Schutz innerhalb ihres Verantwortungsbereichs bemühen und ihre Teams, ihre haupt- und ehrenamtlichen Beschäftigten, schulen lassen, bin ich derzeit und vermutlich auch in den kommenden Jahren sehr aktiv. Besonders spannend ist es, einzelne Einrichtungen beim Prozess der Entwicklung von institutionellen Schutzkonzepten zu begleiten.

Ulli Freund ist Dipl.-Pädagogin, arbeitet als freiberufliche Referentin, Fachberaterin und Autorin zu den Themen „Sexuelle Übergriffe unter Kindern“, „Pädagogische Prävention von sexuellem Missbrauch“ sowie „Schutzkonzepte für pädagogische Institutionen“ und hat langjährige Beratungs- und Fortbildungserfahrung als Mitarbeiterin einer Präventionsfachstelle. Seit 2013 ist sie in Teilzeit als Referentin im Arbeitsstab des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs beschäftigt. www.praevention-ullifreund.de

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