Bestattungskultur im WandelPietät und Prosecco

Der gesellschaftliche Säkularisierungsschub hat nicht zu einer Vernachlässigung oder gar zu einem Verlust der Trauerkultur geführt. Doch die Wünsche, wie Tote bestattet werden, sind vielfältiger geworden. Friedhöfe und Kirchen stellen sich vermehrt auf die veränderten Bedürfnisse ein.

Beerdigung
© Hans-Peter Reichartz / pixelio.de

Geht man auf Fachtagungen der Friedhofsverwalter, Bestatter oder anderer einschlägiger Berufsgruppen, so steht der Wandel der Beerdigungs- und Friedhofskultur im Mittelpunkt. Die Entwicklungen werden meist negativ gesehen, manchmal ist gar von einem „Verfall der Bestattungskultur“ die Rede. Die Kriterien dafür sind sinkende Umsätze bei den Bestattungen, geringere Gebühreneinnahmen auf den Friedhöfen und weniger verkaufte Grabsteine.

Die Ursache für den vermeintlichen Kulturverfall ist schnell ausgemacht: Den Angehörigen und Hinterbliebenen sei die Pietät abhanden gekommen. Auch die angeblichen Totengräber der Friedhofskultur sind schnell benannt. Da stehen mit Friedwald und Ruheforst vor allem die Anbieter von Waldbestattungen im Fokus, nicht minder die Reedereien an Nord- und Ostsee, die ihre Schiffe mit Urnen zur Seebestattung auslaufen lassen.

Wer nicht zu den genannten Gruppen gehört, wird in diesem sogenannten Wandel der Bestattungskultur eher einen Fortschritt und eine Befreiung aus überholten Zwängen sehen. Immer mehr Menschen beklagen den de jure immer noch bestehenden Friedhofszwang und greifen auf die sich bietenden Alternativen der Natur- und Seebestattungen zurück. Selbst Politiker, die sich beim Thema Friedhof parteiübergreifend eher konservativ verhalten, suchen nach Wegen, um die strengen Gesetze zu lockern. Bremen war der Vorreiter und hat das Verstreuen der Asche im eigenen Garten unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Es ist also tatsächlich etwas im Wandel.Was ist geschehen?

Statistiken belegen, dass sich das Verhältnis von Erd- zu Feuerbestattungen von etwa 70 zu 30 in den vergangenen 25 Jahren ziemlich genau umgekehrt hat. Dabei hat sich diese Tendenz zur Feuerbestattung lautlos und unaufgeregt vollzogen.

Freilich fließen nun die im Gebiet der ehemaligen DDR deutlich höheren Anteile der Feuerbestattung, die regional 90 Prozent und mehr betragen können, in die Statistiken mit ein. Doch auch die Krematorien in den alten Bundesländern verzeichnen deutliche Zuwächse. Man kann darüber spekulieren, ob mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland ein Säkularisierungsschub verbunden war. Auf jeden Fall würde das als Erklärung nicht ausreichen.

Wachsende gesellschaftliche Mobilität seit den Achtzigerjahren

Die Gründe liegen tiefer und reichen bis in die Achtzigerjahre zurück. Seit dieser Zeit hat die Nachfrage nach alternativen Grabstätten zugenommen, da eine wachsende Zahl von Angehörigen die Grabpflege nicht mehr übernehmen konnte oder wollte. Das hat weniger mit einem Pietätsverlust zu tun als mit der wachsenden gesellschaftlichen Mobilität.

Die geographische Distanz erlaubte eine Grabpflege nicht oder ließ sie nicht mehr sinnvoll erscheinen für den, der das Grab aufgrund der Entfernung ohnehin nicht mehr besuchen konnte. Auch finanzielle Fragen hielten Einzug in die Überlegungen zur Grabwahl. Wie wichtig ist ein Grab für die Trauer? Gibt es einen reellen Kosten-Nutzen-Faktor zwischen den Aufwendungen und dem Ertrag für die Trauerarbeit? Angesichts einer über Generationen tradierten Bestattungskonvention war das Kalkül der vernünftigen Überlegung etwas Neues. Die Friedhofsverwaltungen reagierten auf diese Bedürfnisse mit dem Angebot der sogenannten anonymen Beisetzung unter der grünen Wiese, noch nicht wissend, wie erfolgreich es sein würde. Spätestens seit der Jahrtausendwende besteht die Sorge um ungenutzte Friedhofsflächen – nahezu alle Friedhöfe sind heute zu groß.

Man hat heute also eine Wahl, man kann über Bestattung und Grabwahl nachdenken, und man darf wieder über den Tod sprechen. Die Ursachen für diesen Wandel sind ebenfalls in den Achtzigerjahren zu verorten. In dieser Zeit entstand in Deutschland die Hospizbewegung, die sich zu einer segensreichen Institution für schwerstkranke und sterbende Menschen entwickelte und die Themen Sterben, Tod und Trauer in die Gesellschaft trug.

Zur selben Zeit schlossen sich Mütter und Väter zusammen, denen es bis dahin verwehrt war, ihre nicht lebensfähigen Frühgeburten unter 1000 Gramm zu bestatten. Sie forderten ein Recht auf Trauer für diese kleinsten Toten ein, wollten ihnen einen Namen geben und sie in Gräbern bestatten, statt mit dem Klinikabfall entsorgen zu lassen.

Beide Initiativen entstanden unabhängig voneinander und erreichten es, den Tod zu enttabuisieren. Als Sterben und Trauer immer häufiger in den Medien thematisiert und sogar von Kabarettisten auf die Bühnen geholt wurden, schien der Tod sogar ins Unterhaltungsfach zu wechseln. Seit Mitte der Neunzigerjahre erhält man bei einer Internetrecherche zum Stichwort Tod ähnlich viele Treffer wie bei „Sex“ oder „Liebe“.

Mit der Möglichkeit, sich im Internet umfassend über Friedhöfe, Bestattungsinstitute, Selbsthilfegruppen oder Trauerportale zu informieren, entwickelten Angehörige von Verstorbenen eigene Bestattungskompetenz, die bis dahin fast ausschließlich beim Bestatter lag. In der Konsequenz resultierte daraus eine Bandbreite von der stillen, anonymen Bestattung bis zum Trauer-Event mit Jazzkapelle, einem Glas Prosecco am Grab und roten Luftballons.

Als die Medien die Veränderungen wahrnahmen, galt ihre Aufmerksamkeit diesen Extremen. Bei der Beurteilung der heutigen Bestattungskultur übersieht man deshalb häufig, dass ein Großteil aller Bestattungen immer noch in herkömmlichen Bahnen verläuft.

Um das Grab versammelt sich eine kleinere oder größere Trauergesellschaft, in der Regel dunkel oder mit gedeckten Farben bekleidet, ein Geistlicher – oder inzwischen auch einmal eine weltliche Trauerrednerin – spricht die letzten Worte. Der Sarg oder die Urne wird ins Grab versenkt, und man verabschiedet sich mit einer Schaufel Erde oder einem Blumengruß.

Wie es in den Menschen aussieht, lässt sich an ihrem Verhalten oft nicht ablesen. Doch lehrt die Erfahrung, dass das Spektrum weit ist und von tiefer emotionaler Erschütterung bis zum stillen Einverständnis mit dem Tod reicht. Wurde ein Mensch mitten aus dem Leben, aus dem Beruf, aus seiner Familie oder einer Liebesbeziehung gerissen, ist die Trauer nicht anders als vormals. Die Hinterbliebenen versuchen, die Art der Trauerfeier, der Bestattung und des Grabes zum Teil ihrer Trauerarbeit werden zu lassen.

Immer mehr Menschen sterben in hohem Alter. Sie sind meist schon zu Lebzeiten seit Eintritt in den Vorruhestand, anlässlich runder Geburtstage jenseits der 60 oder beim Umzug ins Seniorenstift so oft verabschiedet worden, dass sie und ihre Angehörigen sich auf den Tod eher einstellen konnten. Wenn Menschen ihr hohes Alter in Einsamkeit erreicht haben, ist dagegen oft niemand mehr da, der um sie trauert.

Auch die Ordnungsämter der Kommunen verzeichnen einen Wandel der Bestattungskultur: Immer öfter müssen sie im Zuge der sogenannten Ersatzvornahme die Bestattung veranlassen. Sie tun es in der Regel mit einem möglichst geringen Aufwand, der den Haushalt finanziell möglichst wenig belastet.

Jene Menschen, die den Tod eines Angehörigen als schmerzlichen Verlust erleben und erleiden, haben einen Lernprozess durchlaufen. So wenig der Tod noch ein Tabu ist, so sehr hat sich die Trauer aus einer gesellschaftlich gebotenen Zurückhaltung heraus emanzipiert. Sie darf nun sogar für sich beanspruchen, ein sinnvoller Lebensabschnitt zu sein, der gefüllt und gelebt werden darf. Die Eltern verstorbener Kinder haben es vorgemacht.

Die Wald- und Naturbestattungen, die es seit 2001 gibt, erscheinen vielen Menschen als Ideal. Diese Form der Bestattung entspricht dem Wunsch nach pflegelosen Gräbern. Die Natur übernimmt hier die Grabpflege, wie die Anbieter gerne betonen. Die Beweggründe für ein Grab im Wurzelwerk alter Bäume liegen aber tiefer.

Der Wald und überhaupt die Natur sind positiv konnotiert und scheinen dem zu entsprechen, was man „letzte Ruhe“ nennt. Zieht es Großstädter in ihrer Freizeit zur Erholung in die Natur, erscheint sie ihnen im Fall des Todes ebenso als angemessen. Bei einer eher naturwissenschaftlichen Weltsicht muss einem die Vorstellung, der Verstorbene hätte etwas von seinem Grab in einer schönen Umgebung, zwar unvernünftig vorkommen, aber Trauer ist unvernünftig und gebärdet sich mitunter kitschig.

Trauernde besteigen wacklige Ballons und heben in die Lüfte ab, um aus großer Höhe die Asche des geliebten Menschen zu verstreuen. Oder sie reisen in die Berge, um die Asche einem rauschenden Gebirgsbach zu übergeben.

Es gehört zur heutigen Bestattungsvielfalt dazu, dass mit der hygienisch unbedenklichen Asche alles getan werden kann. Eine lauernde Bestattungsindustrie versucht, durch immer neue Angebote anderwärts verlorenes Terrain, etwa am teuren Eichensarg für Erdbestattungen, wettzumachen. Das Trauerverhalten entwickelt sich im Gleichklang der alten marktwirtschaftlichen Grundsätze von Angebot und Nachfrage, wobei die Angebote durchaus kreativer sind als die Nachfragen.

Schicksalsgemeinschaften lösen Familien bei der Grabpflege ab

Den Wünschen trauernder Eltern entsprechend sind auf vielen Friedhöfen Gemeinschaftsgräber für Früh- und Totgeburten entstanden, oft künstlerisch gestaltet und liebevoll gepflegt. Zwar bleibt ein Grab ein Ort des Todes, aber in der Gemeinschaft mit anderen Eltern erfahren die Betroffenen eine durchaus tröstende Solidarität.

Blickt man in die Zukunft, so werden die Gemeinschaftsgräber generell die herkömmlichen Reihen- und Familiengräber ablösen. Wo keine Verwandten sind, werden es Gruppen sein, die Bestattung und Grabpflege organisieren. Das geschieht etwa in Schicksalsgemeinschaften, die im Sinne einer Wahlfamilie die biologische Familie ablösen, die bis dahin für die Totenfürsorge zuständig war.

Zu den frühen Schicksalsgemeinschaften, die die Bestattungs- und Trauerkultur verändert haben, gehörten die Aids-Kranken, die fürchten mussten, dass ihre Angehörigen sie nicht bestatten würden. 1992 entstanden in Hamburg die ersten Aids-Gemeinschaftsgrabstätten, um die sich die Mitglieder einer Selbsthilfeeinrichtung kümmern. Aus der Notlösung wurde ein Programm: Gräber von HIV-Erkrankten sind inzwischen in vielen Städten ein Bekenntnis zur eigenen, oftmals schwulen Identität.

Wo die Zugehörigkeit zu einer Gruppe für den Lebensentwurf wichtiger ist als die Herkunft aus einer Familie, entsteht der Wunsch, dieser Gruppe über den Tod hinaus anzugehören. Dies mag für Außenstehende skurrile Formen annehmen, wenn es etwa – wie schon lange in England – nun auch in Deutschland eigene Gemeinschaftsgrabanlagen für Fußballfans des HSV oder von Schalke 04 gibt. Für die Fan-Gruppen, für die oftmals der Verein „ihr Leben“ darstellt, bedeutet diese Form der Bestattung die Festigung der eigenen Identität über den Tod hinaus.

Die gruppen- und geschlechtsspezifische Bestattungsfürsorge wird zunehmend die Familien und Angehörigen ablösen. Grabstätten werden immer seltener wohnorts- oder familienbezogen sein, und auch die Trauerarbeit wird immer mehr gruppenbezogen erfolgen. Für die Schicksalsgemeinschaft der Eltern von Totgeburten hat sich das „Worldwide Candle-Lighting“ als kollektiver Gedenktag etabliert; die Aids-Community trauert um ihre Toten am Welt-Aids-Tag.

Diese Gedenkformen erinnern an die christlichen Totengedenktage von Allerseelen und Totensonntag. Auch religionsbezogene Trauerformen werden ihren Stellenwert nicht verlieren. Hierzulande lebende Muslime pflegen ihre kulturellen Traditionen, daneben gibt es inzwischen Friedhöfe für Buddhisten und Hindus.

Die christlichen Kirchen stellen sich vermehrt auf die gewandelten Bedürfnisse ein. Seit 2005 entstehen in manchen Diözesen und evangelischen Gemeinden sogenannte Urnenkirchen, die über mangelnde Nachfrage nicht klagen müssen.

Zudem entdecken die Gemeinden ihre Verantwortung für die Trauerpastoral und machen sie bisweilen sogar zum Zentrum ihrer Gemeindearbeit: Sie kümmern sich um die Verstorbenen von Randgruppen und pflegen die Gräber von Vergessenen. Kirchliche Hospize bieten für ihre Bewohner sogar eigene Gemeinschaftsgräber an. Dieser Wandel der Bestattungskultur vollzieht sich allerdings viel stiller und mit weniger Medienaufmerksamkeit als die extremen Formen der eventartigen Bestattung.

Der Säkularisierungsschub hat nicht zu einer Vernachlässigung oder gar zu einem Verlust der Trauerkultur geführt. Vielmehr gewinnen selbst religiös nicht gebundene Menschen einer Art Transzendenz jenseits des Todes neue Aspekte ab. Der inzwischen viel zitierte Erinnerungsdiamant steht dafür, dass die sterblichen Überreste eines Verstorbenen mehr bedeuten als ein Häuflein Asche. Selbst ohne christliche Hoffnung auf Auferstehung bleiben die Toten gegenwärtig und haben mit den Hinterbliebenen eine gemeinsame Zukunft. So bleiben der Verstorbene, als Diamant im Ring gefasst, und der Fußballfan auf dem Fan-Friedhof in Verbundenheit mit ihrer Gemeinschaft. Den Verantwortlichen in Theologie und Kirche ist mehr Mut und Fantasie zu wünschen, den letzten Dingen neue Aufmerksamkeit zu widmen.

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