Die Rede von der Sünde hat dem Christentum eine Hypothek beschert, die kaum noch abzugleichen ist. In „Die fröhliche Wissenschaft“ hat Friedrich Nietzsche über den „ehrsüchtigen Orientalen im Himmel“ gespottet, dem es um nichts anderes zu tun sei als um die Wiederherstellung „seiner göttlichen Ehre“ (Kritische Studienausgabe, 2. Aufl., München 1988, 486). Dieser Gott zwingt den Menschen in die Knie. Für Nietzsche war das damit verbundene „Sich-im-Staube-wälzen vor Gott“, diese „erste und letzte Bedingung, an die seine Gnade sich knüpft“, das Grundübel, das die Menschheit erfasst hatte.
Man mag von Nietzsche halten, was man will. Er ist und bleibt eine hoch ambivalente Figur der Moderne, die faktisch ihren Beitrag zur Legitimierung faschistoider Gewalt geleistet hat. Aber dass das Leben erstickt, wenn es sich nur noch damit konfrontiert sieht, sündig vor Gott zu sein, hat Nietzsche völlig zu Recht gebrandmarkt.
Die zutiefst biblische Idee von Freiheit und Selbstbestimmung
Denn der Fall des Menschen wurde als so unendlich tief begriffen, dass der Mensch sich bis in die letzten Fasern seiner Existenz nur noch als Sünder verstehen konnte. Alles war von der Sünde erfasst, von ihr verdorben. Wenn überhaupt, so konnte allein Gott dem Menschen Erlösung verschaffen. Zwar gehörte auch zum Glaubensbestand, dass Gott gehandelt habe, ihm im Kreuzesopfer Jesu eine Sühneleistung erbracht worden sei, die genügte. Aber: Die Annahme, dass die allermeisten Menschen dennoch das Ziel, ihre Seligkeit, verfehlen würden, hat die Frömmigkeitsgeschichte zutiefst geprägt. Die Hoffnung auf Rettung aller, auf einen grenzenlos gnädigen Gott überlebte nur in Seitenarmen der christlichen Überlieferungsströme. Vor allem aber war die Rede von der Erlösung nun vollständig auf die Sünde fixiert. Warum wurde Gott Mensch? Weil alle in der einen Tat Adams schuldhaft gesündigt hatten.
Dass man gegen diese gnadenlose Weltverdunkelung schließlich revoltierte, kann nicht überraschen. Die Ahnung, dass der biblisch beschriebene Gott ein Gott ist, der die Freiheit des Menschen sucht, war zu wirkmächtig. Zu unterdrücken war sie nicht, brach immer wieder neu an den Rändern des institutionellen, kirchlich reglementierten Glaubens auf und hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Idee von Selbstbestimmung und Freiheit, das Subjektsein des Menschen und die darin begründete Würde geistesgeschichtlich und politisch immer wirksamer wurden.
Der Ballast theologischer Traditionen und auch von Denkverboten war groß. Und dennoch geriet die zumal von Augustinus geprägte Erbsündentheorie schließlich unter Druck. Der Zusammenhang von Schuld und persönlicher Verantwortlichkeit war auseinandergerissen – das wurde auch bemerkt. Tragisch war nur, dass theologisch nicht entschieden genug aufgeräumt wurde mit dem historischen Ballast. Was einsetzte, war vielmehr ein stiller Exodus aus der Sündenrhetorik, der sich vermutlich seiner Gründe häufig genug nicht einmal bewusst war. Und wenn heute immer wieder von einer Glaubenskrise gesprochen wird, die hauptverantwortlich sei für die Erosionsphänomene des Christlichen in den westlichen Gesellschaften, dann muss man auch fragen, ob es nicht dieser theologische Ballast ist, der mit dafür verantwortlich zeichnet.
Die Idee von Freiheit und Selbstbestimmung vermochte sich durchzusetzen. Dass diese aber zutiefst biblisch ist, ging in den geschichtlichen Prozessen unter und wurde von Kirche und Theologie zunächst auch nicht als das eigene Erbe reklamiert, im Gegenteil sogar. In weiten Teilen der Gesellschaft, längst auch in innerkirchlichen Kreisen kam es darüber zu einer weitgehenden Entfremdung zwischen dem, was als kirchliche Lehre gilt oder auch gemutmaßt wurde, und dem, was man tatsächlich lebte. Solange diese Entzweiung nicht aufgeklärt, auf ihre Gründe hin befragt wird, wirkt eine energisch betriebene Sündenrhetorik nicht nur seltsam hilflos, sondern verspielt Kirche zugleich die Möglichkeit, auf eine theologisch einsichtige Weise lebenspraktisch relevant zu werden.
Es ist in der Tat zu befürchten, dass es eine massive Glaubenskrise gibt, welche den eigentlichen Kern der Kirchenkrise darstellt. Viele Menschen dürften hilflos sein, wenn sie erklären sollten, was sie mit der Formel „Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken“ verbinden. Gleichwohl drängt sich immer mehr der Eindruck auf, dass der hartnäckige Hinweis auf die Glaubenskrise (und dieses betrifft keineswegs nur das Sündenverständnis) auch ein Ablenkungsmanöver darstellt. Produktive Versuche, dieser Glaubenskrise kirchlich etwas entgegenzusetzen, indem man sich intellektuell offen und redlich mit dieser Entzweiung und ihren Konsequenzen für den Glauben der Einzelnen auseinandersetzt, sind jedenfalls kaum zu beobachten.
Oder aber man betrachtet das Freiheitsideal der Moderne tatsächlich als Irrweg. Dagegen wäre aber ein Wort von Dietrich Bonhoeffer zu setzen: „Das Prinzip des Mittelalters (…) ist die Heteronomie in der Form des Klerikalismus“ (Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Gütersloh 1998, 533). Bonhoeffer wusste, wovon er sprach. Aus theologischen Gründen akzeptierte er nicht nur die Autonomie der Gesellschaft und der Einzelnen, sondern bejahte sie.
Als Sünde in Schuld überging
Jürgen Habermas, den Thomas Assheuer anlässlich seines 80. Geburtstages als einen entschiedenen „Vorwärtsverteidiger der Moderne“ bezeichnet hat, hat in seiner Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels davon gesprochen, dass etwas verloren gegangen sei, als Sünde in Schuld überging (Glauben und Wissen, Frankfurt 2001, 24 f.). Aber was ging eigentlich verloren?
Zunächst einmal wurde etwas gewonnen. Fjodor Dostojewski darf zweifelsohne bis heute als einer der Literaten gelten, die messerscharf in die Abgründe der menschlichen Seele zu schauen vermochten. Allerdings hat er ein Wort in die Welt gesetzt, das bis heute gerne zitiert wird und dennoch grundfalsch ist. „Wenn Gott nicht existiert“, hatte er notiert, sei „alles erlaubt“. Wirklich?
Die Gegenthese lautet: Um schuldig werden und ein Bewusstsein davon haben zu können, schuldig geworden zu sein, bedarf es keines Gottes. Kant hat deshalb vom Gewissen als dem inneren Gerichtshof des Menschen gesprochen, freilich das Gewissen aber nicht mehr als Ort der Gottesgewissheit begriffen. Das Gewissen funktioniert autonom, ja es muss sich sogar selbst Gesetz sein und darf sich nur aus eigenem Willen bestimmen, damit Moralität sein kann. Denn nur weil ein Mensch womöglich aus Angst vor einem geglaubten Imperativ Gottes handelt, ist er ja noch nicht moralisch. Zudem können, wenn nachmetaphysische Denkbedingungen vorausgesetzt und akzeptiert werden, normative Konflikte nicht mehr unter Berufung auf eine übermenschliche, absolute Größe, den Willen Gottes etwa, entschieden werden. Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass man sich in Fragen der gesellschaftlich verhandelten Ethik oder der individuellen Lebensgestaltung nicht am Glauben orientieren kann – diesen gibt es aber nur noch als eine Überzeugung, von der zugegeben werden muss, dass sie ins Leere gehen kann. Vielleicht wäre ja dieser Streit endlich auszutragen: ob es für die Theologie und den Glauben noch einen philosophisch gangbaren Weg zurück hinter das Fraglich-Gewordensein der Existenz Gottes gibt. Entscheidet man sich in dieser Frage für ein Nein, so ist zugleich akzeptiert, dass im öffentlichen Raum ethische Konflikte ausschließlich durch allgemein rationalisierbare Gründe entschieden werden können.
Nicht dass die Moral sich ihrer Autonomie vergewisserte, ist damit das Problem, wenn es um die Frage nach der Sünde geht. Ganz im Gegenteil sogar. Wer Autonomie verteufelt, wird sich die Frage gefallen müssen, was dann noch von der Möglichkeit der Sünde übrig bleibt, wenn die Sünde auch Schuld, also Selbstverfehlung sein soll. Von daher ist auch die Rede davon, dass es wahre Freiheit nur in Rückbindung an Religion, gemeint ist damit wohl an Gott, gebe, zumindest aufklärungsbedürftig. Dient sie nur dazu, moderne Lebenswelten zu verteufeln, weil diese Autonomie in der Lebensführung akzeptieren, und meint sie, diese nochmals durch ein Naturrecht (was immer das sei) reglementieren zu sollen, so dürfte sie nicht nur faktisch zum Scheitern verurteilt sein, sondern scheitert auch mit guten Gründen.
Die Entwicklungen sind fatal. Die von Habermas beschriebene Verlusterfahrung bezog sich darauf, dass dann, wenn nur noch Schuld ist, wenn kein Gott mehr geglaubt wird, die Melancholie unausweichlich ist. Denn dass es irreparable Schuld gibt, das menschliche Bemühen spätestens an der Todesgrenze scheitert, da kein Lebender über die Erinnerung hinaus den Toten noch Gerechtigkeit widerfahren lassen kann, bleibt dann nur traurig zu akzeptieren.
Es soll hier nicht die Frage gestellt werden, was dem Menschen abverlangt werden kann. Walter Benjamin hat angesichts dieses Dilemmas, in das sich der Mensch verstrickt sieht, davon gesprochen, dass es dem Menschen verboten sei, die Geschichte „prinzipiell atheologisch“ zu begreifen. Verloren ging die Hoffnung, dass Gerechtigkeit werde, auch die Hoffnung, dass das geglückte Leben vollendet werden könnte, nicht aber die Möglichkeit des Schuldigwerdens.
Wohlwollende Sicht auf den Menschen
Vor zwei Jahren erschien ein Erzählband, dessen Titel einen Theologen verwirren muss. „Lässliche Todsünden“, sieben Erzählungen der 1970 in Wien geborenen und inzwischen in Berlin lebenden Literatin Eva Menasse (Köln 2009). Die Zahl sieben überrascht nicht, schließlich sind der Todsünden exakt sieben: Trägheit, Gefräßigkeit, Wollust, Zorn, Hochmut, Neid und Habgier. Jedenfalls in der Volksfrömmigkeit und wohl nicht zuletzt auch in der kirchlichen Verkündigung wurden diese Neigungen immer stärker als Todsünden verstanden. Eine Seele im Zustand der Todsünde sei „wie ein krankender Körper, ein Stück Aas“, hatte der Pfarrer von Ars im 19. Jahrhundert zum Besten gegeben.
Auffällig ist, dass das Thema der Todsünden in der Gegenwart wiederkehrt (vgl. HK, Oktober 2007, 520 ff.). Ein glänzend aufgemachter Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in Bern „Lust und Laster. Die 7 Todsünden von Dürer bis Naumann“ (Ostfildern 2010; vgl. auch Aviad Kleinberg. Die sieben Todsünden. Eine vorläufige Liste, Berlin 2010) mag als Beleg hierfür gelten. Dabei wird man nicht behaupten können, dass das Thema nur noch in historisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive interessiere. Vielmehr lassen sich bis heute kulturproduktive Tendenzen ausmachen, in denen die conditio humana im Paradigma dessen gespiegelt wird, was als Todsünde beschrieben wurde.
Sünde oder gar die Todsünden werden allerdings nicht mehr als Sünden „vor Gott“ thematisiert, sondern zunehmend als Charakterzüge psychologisiert. Deshalb konnte die Rede von der Sünde in einer ihr – gemessen am traditionellen Sündenverständnis – entfremdeten Zeit auch ihre fröhliche Wiederauferstehung in der Sprache der Werbung finden.
An die Stelle der Sünde tritt die Schwäche, die freilich als extrem demütigend empfunden werden kann. Zumindest in nichttraditionalistisch verankerten Bevölkerungsschichten scheint die Tradition der Todsünde ad acta gelegt zu sein. Was einstmals massive Ängste auslöste, da das ewige Seelenheil bedroht schien, wird heute als psychische Mitgift oder als schlechte Charaktereigenschaft thematisiert. Dabei ist auch auffällig, dass der Blick auf den Menschen deutlich nachsichtiger wird.
Mit Kierkegaard denken
Sigmund Freuds in der berüchtigten Formulierung zusammengefasste psychoanalytische Einsicht, der Mensch sei nicht „Herr im eigenen Haus“, hat längst auch die Frage nach der Schuldfähigkeit des Menschen erfasst. Und es ist auch kaum zu bestreiten, dass die modernen humanwissenschaftlichen Forschungen immer nachdrücklicher zeigen, wie eng die Freiheitsräume des Menschen sind. „Was früher eine Sünde war, ist heute eine Peinlichkeit“. So hat Dieter Wellershoff das veränderte Bewusstsein in seinem Roman „Der Himmel ist kein Ort“ (Köln 2009, 249) treffend charakterisiert. Der Mensch spiegelt sich in der Tradition der Sündenrhetorik, sieht aber keine Sünde im ursprünglich theologischen Sinn mehr. Vom Schuldbewusstsein, vom Scheitern am eigentlich Gewollten und dem Zurückbleiben hinter den eigenen moralischen Erwartungen, weiß man sich gequält. Aber die ehemalige penible, äußerlich bleibende Sündenkasuistik hat ausgedient.
Was aber humanisierend wirkt, nämlich die Grenzen des Menschenmöglichen in den Blick zu bekommen, birgt auch die Gefahr in sich, ins Gegenteil umzuschlagen. Der Soziologe Gerhard Schulze hat in einem Beitrag, der sich ebenfalls im bereits genannten Katalog „Lust und Laster“ finden lässt, griffig formuliert, dass im „Verlauf der Moderne (…) aus begeisterten Befreiten nörgelnde Freie“ geworden seien (vgl. auch HK, Dezember 2005, 608 ff.). Befreit von der Religion wird die Freiheit sich nun selbst zum Problem. Zunächst einmal sei dies kein Widerspruch. Denn das Kernprinzip der Moderne sei es nun einmal, alles immer wieder neu „einreißen und verbessern zu wollen“. Deshalb muss immer wieder neu danach gefragt werden, wie frei die Freiheit in ihrem Selbstvollzug denn tatsächlich ist.
Doch Schulze weiß auch um die Gefahr einer solchen Moderne. Sie führt jedenfalls die Möglichkeit ihrer eigenen Diskreditierung in ihrem Programm mit (37 f.). Schnell kann die Freiheit als nur noch anstrengend erlebt werden – und ihre Naturalisierung könnte eine der wirkmächtigsten Entlastungsstrategien sein, die die Moderne hervorgebracht hat. Grummelte man zuvor, weil die Religion das Leben mit ihrem Moralkorsett einschnürte, so nörgelt man heute, überhaupt Verantwortung für das eigene Leben übernehmen zu sollen. In der Gegenwartsliteratur ist dieses Thema ständig präsent. Von Robert Musil angefangen, über die Romane des Amerikaners Philipp Roth bis zu den subtilen Erzählungen der deutschen Autorin Judith Hermann ist das Thema zu verfolgen.
Doch nicht erst Musil war es, der in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ die Notwendigkeit der Wahl als Möglichkeitshorizont beschrieben hat. Wie kein anderer zuvor hat Sören Kierkegaard in „Die Krankheit zum Tode“ (Gesammelte Werke, 4. Aufl., Gütersloh 1992) in einer bis heute nachdenklich stimmenden Weise Größe und Elend der Notwendigkeit des Menschen, sich selbst zu wählen und so zu einer eigenen Identität zu gelangen, charakterisiert.
Zwar wird man auch Korrekturen an Kierkegaard vornehmen müssen. Denn wenn der dänische Philosoph, der die einzelne Existenz in den Mittelpunkt seines Nachdenkens rückte, über den Glauben spricht, so spielt die Geschichte kaum eine Rolle. Aber seine Definition des Wesens dessen, was Glaube ist, ist unübertroffen. Er spitzt dies auf einen einzigen Punkt zu: dass „alles möglich ist bei Gott“ (35). Der Möglichkeit dieses Glaubens „zu ermangeln“, bedeutet für Kierkegaard, dass „einem alles notwendig, oder dass einem alles zur Trivialität geworden ist“ (57). Ob dies zwangsläufig so sein muss, darf man bestreiten. Nicht alle, die sich sozial engagieren, couragiert Einspruch erheben gegen Gewalt und Ausgrenzung, tun dies aus einem sie motivierenden Glauben an einen Gott. Aber sich nur noch als Produkt vererbter Bedingungen zu verstehen oder aber sich mit dem Trivialtalk so mancher Fernsehsender zu begnügen, ist reale Möglichkeit.
Nochmals: Glaube ist Glaube an die Möglichkeiten Gottes, und das Gegenteil: die Sünde. Bei Kierkegaard geht es bei der Sünde somit nicht um Verstöße gegen irgendwelche Normen. Man kann die Sünde als Rückfall beschreiben. Wissend darum, dass ich in meiner ganzen Begrenztheit und Undurchsichtigkeit dennoch ein Leben von Gott her leben darf, autonom sein soll, ohne in die Falle der Selbstüberforderung zu laufen, dennoch wieder aus mir selbst heraus leben zu wollen, das ist für Kierkegaard Sünde. Entweltlichung christlichen Existierens wäre das Gegenprogramm zu dieser Weise. Denn ob ich glaube, was ich glaube, zeigt sich in der konkreten Praxis, mir selbst und den anderen Menschen gegenüber. Deshalb ist eine solche christliche Praxis immer auch politisch.
Begreift man auf dieser Linie die Sünde nicht mehr als Übertretung eines Verbotes, sondern als Rückschritt in den Unglauben, so hat sich die Frage, ob Sünde auch im strikten Sinn als Schuld zu begreifen ist, eigentlich schon erledigt (vgl. hierzu jetzt ausführlich: Thomas Pröpper, Theologische Anthropologie, Freiburg 2011, 716 ff.). Sünde ist dann Schuld, weil und wenn sie Selbstverfehlung ist. Aber was heißt schon Rückschritt? Nicht mehr glauben zu können, ist keineswegs notwendig, vielleicht sogar im seltensten Fall Sünde.
Auch Sünde als Schuld ist deshalb zunächst nicht als Übertretung einer Norm zu interpretieren, auch wenn sie diese Form selbstverständlich annehmen kann. Sondern sie ist Selbstverfehlung, die zumindest anfänglich den gefassten Glauben an den Gott, der bedingungslose Güte ist und der immer noch über alles Menschliche hinausgehende Möglichkeiten hat, bereits voraussetzt. Sünde wäre demnach „die Bestimmung und die Deutung ethischer Schuld von den Möglichkeiten Gottes her, sofern wir im Glauben Anteil an ihnen gewinnen könnten“ (720).
Sünde wird in diesem Denken zum mangelnden Glauben daran, dass Gott das Seine zu unserem Bemühen hinzutun wird. Und damit bildet der Glaube auch gerade keinen Gegensatz zum Autonomiewillen moderner Menschen. Denn die Frage lautet immer, zu welcher Autonomie. Dabei sollte akzeptiert werden, dass in den Ursprüngen der neuzeitlichen Reflexion des Freiheits- und damit Autonomieprinzips nachdrücklich herausgearbeitet wurde, dass dieses Prinzip gerade nicht auf eine Willkürfreiheit hinausläuft, der alles erlaubt ist.
Unhintergehbar ist diese in jedem Fall. Denn schon der empirische Blick zeigt, dass keineswegs einfach feststeht, was eine dem menschlichen Zugriff vermeintlich entzogene, objektiv gültige Sittlichkeit in der Form eines Naturgesetzes aussagt. Dass Mehrheitsmeinungen nicht notwendig richtig sind, ist sicherlich wahr. Aber genauso fraglich bleibt, ob unter gegenwärtigen Denkbedingungen eine andere Instanz zu benennen ist, welche den einzelnen Regeln in ihrer Lebensführung vorschreiben darf. Und auch der Einwand, dass sich der Mensch immer nur begrenzt durchsichtig wird, ist kein Gegenargument gegen das Autonomieprinzip. Denn eine sich selbst reflektierende Autonomie weiß darum, bleibt deshalb auch vorsichtig mit Urteilen gegenüber anderen.
Und gleichzeitig hebt sich der immer wieder behauptete Gegensatz zu einer Moderne, die auf Autonomie setzt, auf. Denn wer sich so im Glauben einübt, weiß um die radikale Geschichtlichkeit der Möglichkeit zu glauben: nicht nur, dass die Existenz Gottes strittig geworden ist und die Rede von einer schöpferischen Vernunft dieses Problem in einer Weise zu verdecken sucht, die eher einem philosophischen Suizid als der immer wieder beschworenen notwendigen Vernunftgemäßheit des Glaubens gleicht.
Es muss aber nicht mehr zuerst um Gott gestritten werden, wenn es um die Zukunft moderner, auf größtmögliche Freiheit und möglichst große Gerechtigkeit setzende Gesellschaft geht. Auch was gerecht ist, muss immer wieder neu gesucht und austariert werden. Eine ethisch verantwortliche Selbstbestimmung ist entscheidend. Daran kann auch kein Gottglaube etwas ändern – abgesehen davon, dass so mancher Gottglaube oder auch manche Religion alles andere als zur Befriedung einer Gesellschaft beigetragen hat. Dass Christgläubige sich immer auch vom Impuls Jesu, dem freiheitsliebenden und zur Gerechtigkeit zumal den Benachteiligten gegenüber aufrufenden Gott Israels bestimmt wissen, steht auf einem völlig anderen Blatt.
Aus der Perspektive eines so interpretierten Glaubens ist eine Kirche der Freiheit nach innen zu praktizieren, sind ihr dann auch entsprechende Strukturen zu geben, weil nur solche Strukturen diesem Glauben entsprechen und sie auch nur so zu überzeugen vermag. Und das Wort Sünde wäre in einer solchen Kirche nicht mehr das erste Wort über den Menschen. Sondern es würde zunächst einmal der Komplexität menschlichen Lebens Rechnung getragen, den Uneindeutigkeiten, unter denen Menschen existieren, den Brüchen, die unendliche viele Biographien durchziehen und die keineswegs immer als Schuld zu qualifizieren sind. Und es würde ein Gott gefeiert und praktiziert werden, der keinen anderen als den freien Menschen will.