Die römische Gemeinschaft Sant’Egidio – ein Beispiel zeitgenössischen Christentums„Türen und Fenster offen halten“

An Christi Himmelfahrt erhält Andrea Riccardi, Gründer der römischen Gemeinschaft und Bewegung Sant’Egidio, den Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen. Seit über 40 Jahren steht diese inzwischen weltweit vertretene Gemeinschaft für gelebtes Christsein in einer globalisierten Welt.

Bei der Rede über moderne geistliche Bewegungen hat es sich mancherorts eingebürgert, diese im Wesentlichen als theologisch konservativ, an gesellschaftlichen Fragen desinteressiert und in ihrem Verhalten dem Vatikan gegenüber als weithin unkritisch einzustufen. Wie oberflächlich solche Charakterisierungen im Einzelnen sein können, zeigt eine Gemeinschaft, von der bereits seit Jahren erstaunlicherweise gerade auch außerhalb von Kirche und Katholizismus gesprochen wird: die römische Bewegung Sant’Egidio mit ihren – nach eigenen Angaben – weltweit rund 50000 Anhängern in rund 70 Ländern.

An Christi Himmelfahrt verleiht die Stadt Aachen dem Gründer und „spiritus rector“ dieser Bewegung, dem Historiker Andrea Riccardi, den Internationalen Karlspreis. Und zwar mit der Würdigung seines – wie es in der offiziellen Begründung heißt – „herausragenden Beispiels zivilgesellschaftlichen Engagements für ein menschliches und – innerhalb wie außerhalb seiner Grenzen – solidarisches Europa, für die Verständigung von Völkern, Kulturen und Religionen und für eine friedlichere und gerechtere Welt“.

Der konziliaren und nachkonziliaren Aufbruchstimmung kommt große Bedeutung zu

Träger des Karlspreises der letzten Jahre waren der italienische Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi (2005), der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker (2006), der spanische EU-„Außenminister“ Javier Solana Madariaga (2007) sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel (2008). Andrea Riccardi in die Reihe der bisherigen Träger des Karlspreises zu stellen, zeigt bereits die außergewöhnliche Rolle, die dieser Mann und zusammen mit ihm die Bewegung Sant’Egidio in den letzten Jahrzehnten gespielt haben.

Die Beschreibung von Sant’Egidio mit der Benennung ihres heutigen kirchenrechtlichen Status (nämlich als „öffentlicher Verein von Gläubigen“) zu beginnen, trifft im Grunde nicht die Eigenart und vor allem auch nicht die Genese dieser Bewegung. Sant’Egidio entstammt nicht zufälligerweise dem zeitlichen und geistigen Umfeld von 1968. Italien gehörte zu den Ländern innerhalb der Weltkirche, in denen Ende der sechziger Jahre und noch im Schwung nachkonziliaren Reformwillens besonders zahlreiche neuartige christliche Gruppen entstanden, „Spontangruppen“, „Basisgemeinden“ oder wie man sie im Einzelnen nannte. Die formelle kirchenrechtliche Einbindung erfolgte im Fall von Sant’Egidio erst sehr viel später.

Mit dem Datum 1968 verbindet man bei Sant’Egidio bis heute eine durchaus positiv empfundene Aufbruchstimmung – man ist weit davon entfernt, es vor allem kulturpessimistisch beziehungsweise kulturkritisch einzustufen (siehe auch das Interview mit Andrea Riccardi in: HK, März 1998, 127ff.). Der konziliaren und nachkonziliaren Aufbruchstimmung kommt dabei große Bedeutung zu – in einem Buchinterview aus dem Jahre 1996 charakterisiert Andrea Riccardi den damals empfundenen „Geist des Konzils“ positiv mit der „Notwendigkeit von Veränderungen und Reformen“ in der Kirche, der „Kirche der Armen“ und dem „Primat des Wortes Gottes“ (Sant’Egidio, Rom und die Welt, St. Ottilien 1998).

Sant’Egidio entstand aus einem akademischen Jugendverband heraus. Den ersten Aktivisten ging es darum, eine neue Form zeitgenössischen Christentums für Laien zu leben. Man distanzierte sich damit von den überkommenen Formen des Kircheseins und dessen gesellschaftlicher Einbindung. Das richtete sich eben so gut gegen das traditionelle katholische Verbandswesen Italiens („Azione cattolica“) wie auch gegen die „Democrazia cristiana“ (DC) und ihr kirchennahes Milieu. Sant’Egidio ist der Versuch, im herrschenden Pluralismus auch innerhalb der Kirche (Riccardi: „Die katholische Welt in Italien ist pluralistisch geworden“) dem Glaubenszeugnis ein neues, unverwechselbares Gesicht zu geben.

Mit der Bibel und der Zeitung in der Hand, wie man damals sagte, wollte man für Veränderung arbeiten. Von Anfang an prägten Sant’Egidio drei Themen und Anliegen: zum einen die Beschäftigung mit der Bibel sowie Gebet und Gottesdienste, zum zweiten soziale Dienste, Friedensengagement und Einsätze für Menschenrechte, und drittens die ökumenische Ausrichtung und der interreligiöse Dialog. Die späteren kirchlich approbierten Statuten unterscheiden als Hauptaufgaben „Evangelisierung“ (Artikel 2), „Dienst an den Armen“ (Artikel 3) sowie „Einheit und Brüderlichkeit mit Andersgläubigen und den anderen Kirchen der Welt“ (Artikel 4). Von Kardinal Carlo M. Martini, dem früheren Erzbischof von Mailand sowie Freund und Förderer der Gemeinschaft, stammt der Ausspruch über Sant’Egidio: „Hier betet man ernsthaft, hier wird die Bibel ernst genommen, hier werden die Armen ernst genommen.“

Mit seinem „Dienst an den Armen“ knüpft Sant’Egidio ausdrücklich bei der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ an. Das soziale Engagement unterscheidet Sant’Egidio einerseits von den charismatischen Bewegungen, die zeitlich parallel in verschiedenen Teilen Europas entstanden. Es verbindet die Gemeinschaft zugleich aber auch mit jenen basisgemeindlichen Aufbrüchen der 68er Jahre, die, freilich in reformerischer und nicht revolutionärer Form, das persönliche Handeln des Einzelnen betonen.

1986 folgte die kirchenamtliche Anerkennung

Zum Namen der Bewegung („Sant’Egidio“) kam es auf ebenso zufällige wie für die Entstehung der Gemeinschaft kennzeichnende Weise. Die Gruppe um Riccardi bezog Anfang der siebziger Jahre ein seit kurz nach dem Konzil leer stehendes früheres Karmelitinnenkloster mit der Kirche Sant’Egidio im volkstümlichen römischen Stadtteil Trastevere – und dabei blieb es bis heute (der Mietvertrag folgte erst einige Jahre später). Der Name bezeichnet den Ort, an dem die Gemeinschaft sich niedergelassen hatte. Bis 1974 hatte man sich ohne weiteren Zusatz „communità“ (Gemeinschaft) genannt. Der Name „Ägidius“ geht zurück auf einen aus Athen gebürtigen Eremiten des 6. Jahrhundert, dessen Grab sich in Saint Gilles-du-Gard in Südfrankreich befindet.

Typisch für die Entwicklung der Gemeinschaft: ihr erstes Auftreten auf kirchenoffizieller Ebene innerhalb der Diözese Rom sowie erste Begegnungen mit Johannes Paul II., kurze Zeit nachdem er die Nachfolge von Paul VI. angetreten hatte. Im Zusammenhang der Umsetzung der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils lud Kardinalvikar Ugo Poletti 1974 zu einer Konferenz mit dem Thema „Die Verantwortung der Christen angesichts der Hoffnung auf Nächstenliebe und Gerechtigkeit in der Diözese Rom“ ein. Die Mitglieder der „communità“ betrachteten diese Konferenz als Chance, sich in diesen ortskirchlichen Prozess aktiv einzubringen – und wohl auch, auf sich aufmerksam zu machen. Man bereitete ein Dokument vor, das – so berichtet Riccardi Jahrzehnte später – „zu einer besonderen Verbundenheit mit den Armen einlud“.

Zu einem ersten Kontakt mit Johannes Paul II. kam es im Dezember 1978 am Rande eines der Pfarreibesuche, die der polnische Papst zu Beginn seiner Amtszeit unternahm. Riccardi schildert die Begegnung als zufällig. Als der Papst vorbeigefahren sei, habe man ihm zugerufen: „Heiliger Vater, kommen Sie, treten Sie hier ein.“ Der Papst habe den Wagen anhalten lassen und sei zu einem Gespräch erschienen. Einige Monate später wurde Sant’Egidio, obwohl kirchlich damals noch nicht anerkannt, zu einem Treffen kirchlicher Laienverbände mit dem Papst eingeladen. Riccardi berichtet von einer sinngemäßen Äußerung des Papstes: „Ihr seid jung und habt die Kraft der Begeisterung.“ Im Sommer 1979 lud Johannes Paul II. die Gruppe zu einer Begegnung nach Castel Gandolfo ein.

Dieser Annäherungsprozess endete 1986 mit der kirchenamtlichen Anerkennung als „öffentlicher Verein von Gläubigen“ (Can. 312) – 1994 in erneuerter, überarbeiteter Fassung. Die Sant’Egidio-Gemeinschaften in aller Welt verfügen jeweils über eine Anerkennung des Ortsbischofs. Die 1982 gegründete Würzburger Gemeinschaft St. Ägidius, neben Mönchengladbach eine der beiden deutschen Gemeinschaften, ist zusätzlich gesetzlich als gemeinnütziger Verein unter dem Namen „Menschen in der Stadt“ verfasst.

An der Spitze von Sant’Egidio steht der alle vier Jahre zu wählende Präsident – zur Zeit nimmt dieses Amt der Geschichtsprofessor Marco Impaggliazzo ein. Ihm steht ein Vorstandsrat zur Seite, dem auch ein geistlicher Generalassistent angehört, eine Funktion, die seit den siebziger Jahren der römische Diözesanpriester Vincenzo Paglia (geb. 1945) wahrnahm. Paglia war der erste Priester, der zu Sant’Egidio stieß. Von 1981 bis 2000 war er Pfarrer der Pfarrei Santa Maria di Trastevere. Dann ernannte ihn Johannes Paul II. zum Bischof von Terni-Narni-Amelia in Umbrien.

Ein geistliches Markenzeichen eigener Art sind seit Jahrzehnten die täglichen Gottesdienste der Gemeinschaft an der Piazza Sant’Egidio in Rom. Schon die Alterszusammensetzung lässt aufmerken: Durch die zahlreichen Studenten bekommen die abendlichen Gebete einen erstaunlich niedrigen Altersdurchschnitt. Auch für manchen Rombesucher gehören sie seit langem zu einem festen Bestandteil seines Aufenthaltes. Bei den Abendgebeten handelt sich um eine eigene Zusammenstellung aus Psalmen, Schriftlesungen sowie einer kurzen Auslegung. Aus der Praxis dieser täglichen Abendgebete heraus entstanden auch die Bände von Paglia unter dem Titel „Das Wort Gottes jeden Tag“ (zuletzt: 2008/2009, Verlag Echter, Würzburg 2008).

Das soziale Engagement ist nicht auf Rom oder Italien beschränkt

Weit über den kirchlichen Raum hinaus hat Sant’Egidio sich in Rom und in Italien einen Namen gemacht durch sein soziales Engagement. In der Gemeinschaft nannte man dies von Anfang an den Blick auf das „,andere Rom‘, das Rom der Armen, das die wohlhabenden Bewohner der Innenstadt und der Touristen nicht kennen“. Das ehrenamtliche Engagement richtet sich an alte Menschen und Kinder in sozialen Notlagen, man arbeitet mit Behinderten und kümmert sich um benachteiligte Minderheiten wie Ausländer, Obdachlose, Gefangene, Sinti und Roma sowie AIDS-Kranke. Den Namen des französischen Orientalisten und Islamwissenschaftlers Louis Massignon tragen Sprachschulen für Ausländer und interkulturelle Vermittler. Die Beachtung, die das soziale Engagement von Sant’Egidio fand, hat wohl auch damit zu tun, dass die katholische Kirche in Italien auf diesem Gebiet nicht so breit aufgestellt ist wie etwa die beiden großen Kirchen in Deutschland.

Ein eindrückliches Symbol der Verbindung aus sozialem Engagement und Verkündigung ist das schon zu einer Tradition gewordene Weihnachtsessen, das Sant’Egidio seit 1982 in der Basilika Santa Maria in Trastevere, unweit des Zentrums in Sant’Egidio für Obdachlose und Arme, Ausländer ohne Papiere und Kranke anbietet – jeweils am 25. Dezember und im eigentlichen Kirchenraum. Jeder soll sich beim Festmahl willkommen wissen: Die Geschenke sind mit persönlichen Namensschildern versehen. Ehrenamtliche Helferinnen und Helfer sorgen für das Essen und bedienen die Gäste. Zu Anfang war verschiedentlich die kritische Frage zu hören, warum das denn ausgerechnet in einem geweihten Kirchenraum stattfinden muss – inzwischen ist diese Kritik verstummt.

Sein soziales Engagement hat Sant’Egidio im Laufe seiner Entwicklung nicht auf Rom beziehungsweise Italien beschränkt, sondern ist damit weltweit an den unterschiedlichsten Orten präsent. In rund 70 Ländern lernen Kinder und Jugendliche in so genannten „Schulen des Friedens“ nicht nur Lesen und Schreiben, sondern auch Werte des Zusammenlebens auf der Basis des christlichen Glaubens. „Land des Regensbogens“ heißt eine weltweite Bewegung der Gemeinschaft, in der sich Kinder für die Rechte von Kindern einsetzen können. „Die Freude“ ist der Name einer Bewegung, die von Behinderten der Gemeinschaft getragen wird. Durch den Verkauf von Bildern, die im Rahmen einer eigenen Malschule selbst gemalt wurden, unterstützt man Programme von Sant’Egidio zur Bekämpfung von HIV/AIDS.

Besondere Aufmerksamkeit legt Sant’Egidio auf die Solidarität mit Afrika. In über 20 afrikanischen Ländern entstanden Gemeinschaften von Sant’Egidio. Diese unterstützen die vielfältigen Hilfsmaßnahmen – abgesehen vom Einsatz für von HIV/AIDS Betroffene – für Gefangene, Leprakranke, Obdachlose und Straßenkinder.

Im Mittelpunkt von Aktivitäten zur Bekämpfung von HIV/AIDS steht das Programm DREAM (Drug Resource Enhancement against AIDS and Malnutrition), das Sant’Egidio mit internationaler Unterstützung in zehn afrikanischen Ländern aufgebaut hat. Zur Zeit nehmen an dem Programm rund 65000 Personen teil. HIV-Kranke erhalten eine kostenlose antiretrovirale Therapie, weitere medizinische Hilfe und häusliche Krankenpflege. Ein Schwerpunkt des Programm liegt auf der Vorbeugung gegenüber der Mutter-Kind-Übertragung von AIDS.

Erfolgreiche Friedensinitiativen

Im Jahre 2004 wurde dieses Programm mit dem Balzan-Preis für Menschlichkeit, Frieden und Brüderlichkeit unter den Völkern ausgezeichnet. Bei seinem jüngsten Afrikabesuch traf Benedikt XVI. in Yaoundé (Kamerun) mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern eines DREAM-Kurses für das frankophone Afrika zusammen. Bei seiner Pressekonferenz auf dem Flug nach Afrika hatte er bereits auf dieses Programm im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zum Thema HIV/AIDS hingewiesen und es als vorbildlich gelobt (vgl. dieses Heft, 223ff.).

Zu weiteren humanitären Hilfen, die von Sant’Egidio organisiert werden, gehört das Projekt „BRAVO!“ (Birth Registration for all versus Oblivion). Es reagiert auf das wachsende Problem nicht registrierter Minderjähriger. „BRAVO!“ soll helfen, dass Kinder, die nicht offiziell registriert sind, lernen, ihre Rechte wahrzunehmen und sich besser zu schützen.

International bekannt wurde Sant’Egidio aber vor allem durch sein vielfältiges Friedensengagement. Am 4. Oktober 1992 wurde zwischen der Regierung von Mozambique und den Renamo-Rebellen ein Friedensvertrag unterzeichnet, der den 16 Jahre dauernden Bürgerkrieg beendete und bis heute Gültigkeit besitzt; der Bürgerkrieg hatte insgesamt über eine Million Menschenleben gefordert. Vorausgegangen waren dem Friedensvertrag zweijährige Bemühungen von Sant’Egidio und Andrea Riccardi, zwischen den Bürgerkriegsparteien des Landes zu vermitteln.

Im Zusammenhang mit den Friedensaktivitäten der Gemeinschaft stellt sich immer wieder die Frage, inwieweit Sant’Egidio in diesen Dingen über eine eigene Methode verfügt. Wenn dies der Fall sein sollte, dann ist es nicht die Nachahmung der einschlägigen Fachleute und Politiker. Die Rede von der „kleinen UNO“ von Trastevere, wie die Gemeinschaft angesichts ihres Friedensengagements gerne auch genannt wird, hört man in Sant’Egidio deshalb nicht gerne. Riccardi umschrieb die Arbeitsweise von Sant’Egidio einmal so: „Wir müssen die Türen und Fenster offenhalten, um die Schmerzensschreie dieser Welt in der Nähe und in der Ferne zu hören.“

Im Mittelpunkt steht insofern das Knüpfen von Kontakten, das Aufbauen gegenseitigen Vertrauens und einer interessierten und informierten Anteilnahme am Schicksal des jeweils anderen. Einerseits die sachliche und personelle Nähe zum Vatikan, andererseits aber auch die klare institutionelle Trennung vom Vatikan – die Kombination von beidem gehört gleichfalls zu den Rahmenbedingungen dieses Friedensengagements.

Der frühere UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali nannte es eine Mischung aus „regierungsabhängigem und regierungsunabhängigem Engagement für den Frieden“, die die römische Gemeinschaft im Fall von Mozambique angewendet habe, „diskret und informell“. Mit der offiziellen Tätigkeit der Regierungen und der internationalen Organisationen hätte dies ein „harmonisches Zusammenspiel“ ergeben.

Mozambique blieb nicht das einzige Engagement dieser Art. Weitere Initiativen betrafen den Sudan, Burundi, Liberia, die Elfenbeinküste, Albanien, Uganda, Guatemala und den Kosovo. Auch die Erfahrung des Scheiterns und – damit verbunden – harscher Kritik von verschiedenen Seiten blieb der Gemeinschaft nicht erspart.

Ende 1994 brachte Sant’Egidio die wichtigsten politischen Parteiungen Algeriens an einen Tisch. Die so genannte „Charta von Rom“ von Januar 1995 fand jedoch nicht die nötige Akzeptanz durch Regime und Militär des nordafrikanischen Landes. Einerseits galt es als Erfolg, die oppositionellen Gruppen in den politischen Prozess einbezogen zu haben, andererseits wurde Sant’Egidio – auch von kirchlicher Seite – vorgehalten, umstrittene Gruppen dadurch unnötigerweise aufgewertet zu haben. Die Friedensaktivitäten brachten Sant’Egidio und Riccardi mehrfach eine Nominierung für den Friedensnobelpreis ein – außerdem zahlreiche weitere internationale Preise.

In engem Zusammenhang mit den weltweiten Friedensaktivitäten steht auch das Engagement von Sant’Egidio für den Kampf gegen die Todesstrafe. Seit 1998 setzt man sich für ein weltweites Moratorium der Todesstrafe ein. Bisher wurden mehr als fünf Millionen Unterschriften für dieses Anliegen gesammelt. Nach Auffassung von Sant’Egidio habe die Kampagne entscheidend dazu beigetragen, dass sich zahlreiche Staaten in den letzten Jahren für die Abschaffung der Todesstrafe entschieden hätten und es am 18. Dezember 2007 zu einer UN-Resolution für ein weltweites Moratorium der Hinrichtungen kam. Mit überraschend deutlicher Mehrheit sprach sich damals die UN-Generalversammlung für einen weltweiten Stopp von Hinrichtungen aus. Der Beschluss ist völkerrechtlich zwar nicht bindend, nach Ansicht von Experten besitzt er aber starken Signalcharakter.

Ein wichtiger Einschnitt für die Gemeinschaft Sant’Egidio bedeutete das interreligiöse Gebetstreffen, zu dem Johannes Paul II. im Herbst 1986 in die Franziskus-Stadt Assisi Vertreter der Weltreligionen einlud. Bereits am Zustandekommen dieses innerkirchlich bis heute nicht unumstrittenen Treffens soll der Anteil von Sant’Egidio groß gewesen sein. Seit 1987 organisiert die Gemeinschaft mit Unterstützung der internationalen Vereinigung „Uomini e Religioni“ interreligiöse und ökumenische Folgetreffen im Geist von Assisi 1986. Mit Anliegen und Inhalt von Assisi 1986 sowie den Nachfolgetreffen hat sich Sant’Egidio eng verbunden.

Riccardi hat wiederholt beteuert, dass er darin eine „kreative Umsetzung“ von „Nostra aetate“ sieht, dem Konzilsbeschluss über die Kirche und die nichtchristlichen Religionen. Thematisch wie in der personellen Zusammensetzung, zum Teil auch bedingt durch die Orte, an denen sie stattfinden, unterscheiden sich die Treffen voneinander. Das erste Treffen dieser Art in Deutschland fand 2003 in Aachen statt – der Aachener Bischof Heinrich Mussinghoff steht persönlich mit Sant’Egidio in enger Verbindung. An der Eröffnung des Treffens von Neapel 2007 nahm erstmals auch BenediktXVI. teil. Auf ökumenischem Gebiet gehört Sant’Egidio – zusammen mit der gleichfalls aus Italien stammenden Bewegung der Focolarini – zu den Hauptverantwortlichen des ökumenischen Annäherungsprozesses geistlicher Bewegungen, die sich bereits zweimal in Stuttgart in einem europäischen Rahmen trafen.

Wer ist Andrea Riccardi?

Und wer ist Andrea Riccardi? Viele seiner Biografien erzählen vor allem die Geschichte von Entstehen und Entwicklung von Sant’Egidio. Riccardi, Jahrgang 1950, ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der staatlichen Universität „Roma Tre“. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit sind die neuere Kirchen- und Christentumsgeschichte. Riccardi stammt aus einem katholischen, von ihm selbst als laizistisch-liberal bezeichneten Elternhaus. Er selbst beschreibt diese Art von Katholizismus als „wenig interessiert an innerkirchlichen Belangen“ und in Distanz zur damaligen „Democrazia Cristiana“ stehend. Er teilte durchaus das für die 68er Jahre typische Motiv, aus den bestehenden bürgerlichen Verhältnissen auszubrechen. Im Unterschied zu anderen Denkweisen, die sich auf 1968 zurückführen, betont er aber die persönliche Realisierung des Evangeliums: „Wie kann man die Gesellschaft ändern, wenn man den Menschen nicht ändert?“

Ein Blick auf die derzeit vorliegenden deutschsprachigen Veröffentlichungen von Riccardi sagt einiges über seine persönlichen thematischen Interessen, Argumentationsweisen und Schwerpunkte. Mit dem Buch „Salz der Erde, Licht der Welt“ (Freiburg 2002) hat er eine Bilanz des christlichen Martyriums des 20. Jahrhunderts vorgelegt – das Thema des Martyriums taucht in der Spiritualität von Sant’Egidio immer wieder auf. In „Gott hat keine Angst“ (Würzburg 2003) geht Riccardi der Frage nach, inwieweit sich in einer säkularisierten und globalisierten Welt, in der Begegnung zwischen Menschen und Völkern neue Möglichkeiten für die Religionen beziehungsweise die Christen auftun. Dabei geht er etwa dem nach, was er die christliche „Erfindung“ der Universalität nennt.

In „Die Kunst des Zusammenlebens“ (Würzburg 2008) wendet er sich gegen die These von Samuel Huntington vom angeblich unvermeidlichen „clash of civilizations“. Verschiedenheit müsse nicht unbedingt gewalttätige Konflikte bedeuten. Zwischen den vielen Akteuren der Welt müsse eine neue Kultur des Zusammenlebens begründet werden. Diese Kultur ist für ihn keine Utopie, sondern zum Teil schon Realität – wohl auch ansatzweise in den Aktivitäten von Sant’Egidio.

In „Der Präventivfriede“ (Würzburg 2005) geht Riccardi der Frage nach, inwieweit der Friede den Gläubigen ein Anliegen ist und sein kann, jedem auf seine Weise. In Überlegungen, die im Zusammenhang mit den Assisi-Nachfolgetreffen entstanden, kommt Riccardi zum Ergebnis, dass die Religionen eine entscheidende Verantwortung tragen, um Konflikte zu verhindern und globales Zusammenleben möglich zu machen. Bei allem Realismus in der historischen und politischen Analyse und bei aller Entschlossenheit, letztlich nicht „sentimentalen Illusionen“ zu folgen, plädiert Riccardo in Bezug auf die unterschiedlichsten Verhältnisse immer wieder für geduldige und ehrliche Dialoge.

Der Bielefelder Soziologe Franz-Xaver Kaufmann wies in den achtziger Jahren darauf hin, dass „die Glaubwürdigkeit eines zukünftigen Christentums“ davon abhänge, ob es gelinge, „neue Sozialformen explizit christlichen Lebens zu entwickeln“ (Kaufmann, Johann Baptist Metz, Zukunftsfähigkeit. Suchbewegungen im Christentum, Freiburg 1987). Sant’Egidio könnte eine solche neue Sozialform sein. Kaufmann legte damals an Sozialformen dieser Art ein bestimmtes sachliches Kriterium an: die Frage nämlich, inwieweit „die exemplarische Lösung sozialer Probleme“ gelinge. Kaufmann: „Glaubwürdigkeit ist auch heute zu erreichen, wo exemplarisch etwas Hilfreiches zustandegebracht wird.“ Nicht zuletzt die zahlreichen Ehrungen sowohl der Gemeinschaft als ihres Gründers gerade aus dem zivil-gesellschaftlichen Raum deuten darauf hin, dass auch dies Kriterium von Sant’Egidio erfüllt wird.

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