Neue Blicke auf die alte EsoterikOzeanische Gefühle

Trotz des gewachsenen Interesses an den großen Weltreligionen hat sich die Esoterik in Europa dauerhaft festgesetzt und beherrscht nach wie vor einen Teil des Buch-, Weltanschauungs- und Gesundheitsmarktes. Die in den letzten Jahren aufgekommenen Tendenzen sind durch einen hohen Grad an Individualisierung gekennzeichnet. Ein Blick auf das Phänomen mit Hilfe religionswissenschaftlicher Methodik wirft Fragen an Theologie und Verkündigung auf.

Die Ereignisse des 11. Septembers 2001 haben nicht nur die öffentliche Wahrnehmung der monotheistischen Weltreligionen – vor allem des Islam – entscheidend verändert. Auch das Feld der so genannten Esoterik ist von ihnen nicht unberührt geblieben. Seine noch in den achtziger und neunziger Jahren zu beobachtende Offenheit für neue Entwicklungen und die starke Zunahme des Interesses schien zunächst gar einem deutlichen Rückgang der Begeisterung für diese Strömung „alternativer“ Religiosität gewichen zu sein – einige Esoterik-Messen mussten zu Beginn des Dezenniums mangels Masse gar abgesagt werden. Inzwischen lässt sich zwar mit einer gewissen Klarheit eine offenbar länger andauernde Stagnation des ideengeschichtlichen Entwicklungspotentials der Esoterik diagnostizieren. Gleichwohl bleiben jene Angebote, die man sich esoterisch zu nennen angewöhnt hat, vor allem unter den zwischen 1945 und 1970 Geborenen ein nicht zu vernachlässigender Wirtschaftsfaktor: Nach wie vor sind etwa 20 Prozent der deutschsprachigen Neuerscheinungen diesem Sektor zuzurechnen und nicht wenige ehemals als „esoterisch“ eingestufte Heilverfahren wie Homöopathie, Bach-Blüten-Therapie und Akupunktur werden von einer steigenden Zahl von Zeitgenossen genutzt oder inzwischen gar von den Krankenkassen erstattet. Die neu entdeckte Wellness-Mode wird ebenfalls zu einem wahrnehmbaren Prozentsatz aus esoterischen Ressourcen wie der indischen Ayurveda-Medizin bestückt.

Trotz des erneut gewachsenen Interesses an den großen Weltreligionen – vor allem am Islam und neuerdings auch am US-evangelikalen und am katholischen Christentum – hat sich Esoterik also nicht nur als Haltung zu Welt, Selbst und Sinn bei einer großen Zahl von Zeitgenossen in Europa dauerhaft festgesetzt, sondern beherrscht nach wie vor auch einen nicht zu unterschätzenden Teil des Buch-, Weltanschauungs- und Gesundheitsmarktes. Trotz der hohen internen Pluralität kommt also der frühen Selbstbeschreibung der Theosophin Alice Ann Bailey (1880–1949), die die Esoterik als „neue Weltreligion“ bezeichnet hat, auch religionwissenschaftlich eine Berechtigung zu.

Pseudepigraphische Selbstrechtfertigung als Gemeinsamkeit

Was aber ist Esoterik eigentlich? Alle Versuche, das 1828 erstmalig so benannte Phänomen in einem Wurf zu definieren, haben sich als unbefriedigend erwiesen. Ob man Esoterik eindimensional als monistische Geheimlehre, als antirationalistische Religion der Innerlichkeit, als Methode des privilegierten Zugangs zur Erkenntnis höherer Welten, als Bewegung der gleichzeitigen Psychologisierung der Religion und Sakralisierung der Psychologie, als Protest gegen die Plattheit des säkularistischen Weltbildes oder einfach als westliche Gerinnungsform ostasiatischer Religionen versteht – alle Definitionsversuche greifen zu kurz oder bekommen nur einen Teil des Phänomens in den Blick. „Die Esoterik“ gibt es so wenig wie „den Hinduismus“ oder „die Philosophie“. Vielmehr ist das Phänomen zunächst mit Hilfe religionswissenschaftlicher Methodik in seiner Pluralität zu erschließen, bevor eventuelle lehrhafte Gemeinsamkeiten kondensiert werden können.

Kocku von Stuckrad hat dies jüngst in einer eindrücklichen deutschsprachigen Monographie zum Thema und ausdrücklich im Anschluss an den Nestor der europäischen Esoterik-Forschung, den Pariser Lehrstuhlinhaber Antoine Faivre, getan (Was ist Esoterik? Eine Geschichte des geheimen Wissens, München 2004). Hier wird zunächst deutlich, dass Esoterik nur als konstitutiver, wenn auch immer wieder marginalisierter Bestandteil abendländischer Ideengeschichte angemessen benannt werden kann. Der Einfluss esoterischen Gedankengutes auf die Entstehung moderner Wissenschaft in der Renaissance und etwa der Geheimgesellschaften auf die (vor allem französische) Aufklärung sowie auf holistische Konzepte der Naturphilosophie im deutschen Idealismus werden bis heute unterschätzt. Darüber hinaus macht Stuckrad deutlich, dass das Auftreten alternativer Religiosität im Abendland jeweils an hoch spezifische historische und religionspolitische Bedingungen geknüpft war. Was sich heute dem kundigen Blick auf dem Markt alternativer Religiosität offenbart, kann zu einem gewissen Anteil als Nachhall und Aktualisierung dieser historischen Phänomene verstanden werden. Mit Stuckrad müsste also en detail von Pythagoreismus, Hermetik, Gnosis, Orphik und Stoa in der Antike, von Hekhalot-Mystik und Kabbalah im Mittelalter, von christlicher Kabbalah, Apokalyptik, Alchemie und esoterischer Naturforschung, von Geheimgesellschaften wie etwa den Rosenkreuzern und Freimaurern in der frühen Neuzeit, von der Theosophischen Gesellschaft an der Schwelle zur Moderne sowie von New Age und – so möchte man ergänzen – einer marktförmigen Gebrauchs-Esoterik in den vergangenen Jahren gesprochen werden (vgl. HK, Januar 1999, 33 ff.).

Der Bezug zur Historie stellt sich allerdings nicht nur im Auge des kritischen Betrachters her. Die Berufung auf das Alter der Quellen wird auch von den Vertretern der jeweiligen Richtungen selbst als quasiideologische Autorisierung des eigenen ungetrübten Zugriffs auf überzeitliche Wahrheiten verwendet, ja diese oft pseudepigrahische Selbstrechtfertigung könnte geradezu als weitere Gemeinsamkeit vieler esoterischer Strömungen quer durch die Epochen benannt werden: Nicht nur die im 13. Jahrhundert in einem antikisierten Aramäisch verfasste Gründungsurkunde der Kabbalah (so genannte jüdische Mystik) wurde von ihrem Verfasser Mose de Leon als Schrift des Simon bar Jochai (zweites Jahrhundert n. Chr.) ausgegeben. Auch Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891), die zentrale Gründungsgestalt der Theosophischen Gesellschaft und damit der modernen, stark auf asiatische Religiosität ausgerichteten Gerinnungsform der Esoterik, präsentiert ihre bis heute wirkungsvolle dreibändige Geheimlehre (1888–1897) als Übersetzung eines uralten Dokumentes asiatischer Geheimliteratur, in das sie mit Hilfe ihrer geistlichen Mentoren, der so genannten Mahatmas, Einblick erhalten habe. Rudolf Steiner (1861–1925), ehemals Theosoph und bis heute verehrter Gründer der Anthroposophischen Gesellschaft, wollte die Grundlage seiner Lehre gar mit Hilfe unmittelbarer Schau in die so genannte Akasha-Chronik erhalten haben, dem Versammlungsort des gesamten Weltwissens und aller historischen Ereignisse – ein aus der indischen Kosmologie entlehntes Konzept.

Die religiöse Patchworkidentität als historisches Phänomen

Antoine Faivre hatte immerhin noch eine allgemeine Charakterisierung esoterischer Sinnsysteme mit Hilfe von vier Primär- und zwei Sekundäreigenschaften versucht. Auch wenn ihm nicht ohne Grund eine allzu akademische, ja reduktionistische Herangehensweise an sein Forschungsobjekt vorgeworfen wurde, sind diese nach wie vor erwähnenswert. Faivre führt hier erstens ein letztlich monistisches Denken in Entsprechungen zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt auf, zweitens soll die in allen Teilen lebende Natur wie ein Buch gelesen werden. Drittens gehören in esoterischen Strömungen Imagination und Meditation eng zusammen. Rituale, Mandalas, vermittelnde Geister und andere Produkte der menschlichen Einbildungskraft fungieren als Übersetzer. Viertens nennt Faivre die Erfahrung der Transmutation. Sekundäre Eigenschaften sind Konkordanzbildung (charakteristisch für den Beginn der Neuzeit), also die Respektierung aller Religionen als Ausfluss einer wahren und wieder zu entdeckenden Urreligion, die alle Religionen übersteigt sowie Transmission: Esoterisches Wissen wird in der Regel von einem Lehrer auf einen Schüler übertragen. Kocku von Stuckrad dagegen teilt zwar Faivres Kategorien, spricht aber lieber von esoterischen Diskursfeldern, genauer von der „Auskristallisierung esoterischer Diskurse in immer wieder neuen Konstellationen“ (22) der Gedächtnisgeschichte (Dan Diner/Jan Assmann) und lenkt so den Blick weg von einem objektivistischen Geschichtsverständnis hin zur kulturwissenschaftlichen Vorstellung einer „Konstruktion von Vergangenheiten im Lichte gegenwärtiger Interessenlagen“ (15). Ein solches Modell legt es nahe, die Grenzen der großen Weltreligionen zu überschreiten und etwa bezüglich Phänomenen wie Gnosis oder Kabbalah transreligiöse Übereinstimmungen bestimmter zeitgenössischer Weisen der Welterschließung zu erarbeiten. Die gerne als typisch für die Moderne apostrophierte religiöse Patchworkidentität erscheint dabei plötzlich als historisches Phänomen, welches das Abendland bereits seit der Antike begleitet zu haben scheint. Über das Gewicht, das Stuckrad solchen Borderline-Existenzen (Stuckrad spricht von „Alterität“ oder „Devinanz“) in seiner Darstellung verleiht, kann man allerdings streiten, wenngleich eine wahrnehmbare ideengeschichtliche Wirksamkeit des hermetischen und alchemistischen Denkens in der Renaissance und den Geheimgesellschaften in der Aufklärung sicher nicht von der Hand zu weisen ist.

Fortschreitende Individualisierung, Pluralisierung und Medialisierung

In den letzten Jahren aufgekommene Tendenzen drohen allerdings auch den von Stuckrad entwickelten Kategorisierungen zu entgleiten und bringen durch den hohen Grad ihrer Individualisierung wissenschaftliche Beobachter zwangsläufig an den Rand auch kulturwissenschaftlicher Methodik: Einerseits schreiten Pluralisierung und Medialisierung fort, wie etwa die Entwicklung der Basler Psi-Tage – seit ihrer Gründung im Jahre 1982 eine wichtige Drehscheibe alternativer Religiosität, aber auch der Parapsychologie – ebenso zeigen, wie der Erfolg des Senders Astro-TV, der seit 1. Juni 2004 bundesweit über Satellit und in einigen regionalen Kabelnetzen gezielt „Frauen ab 30“ mit telefonisch abrufbaren astrologischen Informationen versorgt. Eine weitere originelle zeitgenössische Ausprägung stellt die von „Vicarius“ Thorwald Dethlevsen seit 1996 vorbereitete Kawwana (hebr. für Hingabe im Gebet) – Kirche des Neuen Aeon dar. Zwischen 1999 und 2003 führte Kawwana insgesamt neun halböffentliche Großveranstaltungen in München und Wien durch. Dort nahmen zwischen 300 und 900 angemeldete Gäste und einige spontane Besucher teil. Schätzungsweise 1000 Personen traten mit der „Symmachia“, einem Tauf-Ritual, der „Kirche“ bei und blieben ihr auch nach 2003 verbunden. Wenn auch die aus kabbalistischen und esoterischen Elementen amalgamierte Lehre Kawwanas hier nicht dargestellt werden kann, fasziniert doch der Versuch, in Zeiten der Individualisierung eine esoterische Kirchengründung im großen Stil und mit wirkungsvoller medialer Präsentation besonders im Internet (www.kawwana.de, inzwischen nicht mehr zugänglich) zu initiieren. Die Tatsache, dass Dethlevsen selbst das Projekt inzwischen beendete, lässt allerdings darauf schließen, dass die gewählte Organisationsform beim angesprochenen Klientel offenbar nicht die erwartete Resonanz hervorrief. Drei jüngst ins mediale Rampenlicht getretene „erwachte“ Meister von internationalem Ruhm entsprechen dem vereinzelt lebenden und Erlösung suchenden Zeitgenossen offenbar schon eher: Thomas Hübl, (Meister) Eckhart Tolle und Paul Lowe, ehemaliger Assistent von Bhagwan Shree Rajneesh, verbindet Einiges. Nicht nur gehört keiner von ihnen einer organisierten Bewegung, ja nicht einmal einem konkreten religionssoziologisch bestimmbaren Hintergrund an. Alle drei leugnen, Heilsversprechen, Utopien oder eine feste Lehre zu vertreten, wenn sie auch eine subtile Abneigung gegen jede Art von universaler Moral – verstanden als Konditionierung durch Kirche und Staat – verbindet. Sie suchen Es, das Eine und dezidiert keinen personalen Gott. Jede Art der Differenz, sei sie historisch, systematisch oder mental, gilt es zu überwinden. Besucht man die homepages der drei Herren, fällt das unterschwellige Plädoyer auf, die eigene Geschichte zu vergessen und nur „im Jetzt“ zu leben. Wo wie hier das sanfte Erwachen aus spätkapitalistischer Selbstentfremdung propagiert wird, scheint doch immerhin noch eine ideengeschichtliche Wurzel durch: Das nichtdualistische Advaita Vedanta des indischen Theologen Shankara (788–820 n. Chr.), eine vor allem im Buddhismus wirkmächtige, letztlich aber hinduistische Alleinheitslehre, die einerseits dem religiös und moralisch zerfaserten Pluralismus die Geborgenheit einer Einheit (Brahman) entgegensetzt, aber andererseits auf der Höhe des Individualismus auch die Aufgabe des Ichs auf ihre Fahnen schreibt. Nach den Managertrainings der Neunziger, die sich in Leistungsforderungen („werde vom Huhn zum Adler“) überschlugen, bestimmt offenbar nun der ruhige Blick nach Innen beziehungsweise der „Schrei nach Stille“ das Feld (vgl. zum Thema ausführlich: Zeit Dossier 24.6.2004).

Wie modern ist die Esoterik?

Das Christentum könnte hier einerseits lernen, dass religiöse Traditionen durchaus antizyklisch zum Zeitgeist erfolgreich sein können. Es vertritt schließlich ebenfalls die Aufforderung zur Selbstaufgabe, allerdings ist diese an eine klare Anerkennung der Differenz gebunden: der des Individuums nämlich gegenüber einem liebend-gebietenden personalen Gott und einem bedürftigen Anderen. Gleichzeitig entbehrt sie der esoterischen Radikalität in der Selbstaufgabe ins All-Eine – für den Christen bleibt immer klar, welches Ich handelt und für seine (auch vergangenen) Handlungen verantwortlich gemacht werden kann. Auch wenn die christlichen Kirchen die Moderne mit ihren zentralen Trends Individualisierung, Konsumorientierung, Machbarkeit, Technikgläubigkeit, Evolutionismus, Feminismus oder Ökologie immer wieder verpasst zu haben scheinen, während die Esoterik angeblich genau deren Spur folgt, sind das Christentum und die moderaten Traditionen der anderen monotheistischen Religionen mindestens in diesem Punkte der Esoterik überlegen: Sie anerkennen ausdrücklich Differenz (und damit Pluralität und Historizität) innerhalb der Menschheit, der Welt sowie zwischen Immanenz und Transzendenz als konstitutiv und bejahen damit eine Grunderfahrung, die mit der Moderne unweigerlich ins Bewußtsein vieler Menschen getreten ist. Diese Tatsache kann man fliehen oder sie negieren; ein christlicher Weg bestände dagegen darin, sich ihr auszusetzen in der Spur eines Gottes, dessen Inkarnation genau das spannungsvolle Ineinander von Welt und Gott, Materie und Geist, Immanenz und Transzendenz manifestiert. Gemeinsam mit dem Inkarnationsgedanken scheint analog die traditionelle Lehre eines untrennbaren Ineinanders von Leib und Seele im Sinne des thomanischen anima forma corporis in Vergessenheit geraten zu sein. Sie könnte den für so manche Predigt und auch manchen theologischen Traktat nicht unzutreffenden Dualismusvorwurf entkräften, den esoterische Kritiker gegen das Christentum immer wieder erhoben haben.

Kommt Esoterik also doch nicht so modern und gleichzeitig so unschuldig daher, wie ihre Künder gemeinhin vermuten lassen? Ergibt sich aus der Absage an ein göttlich-personales Gegenüber und eng damit verwoben aus der Absage an Schuld und Verantwortung sowie aus der starken Betonung eines Einheits- und Vollendungsstrebens nicht die Marginalisierung des anderen Menschen und der eigenen Leiblichkeit? Es ist jedenfalls einfacher, die Einheit mit „der“ Natur und „der“ Menschheit zu meditieren und das konkrete Gegenüber lediglich als Ferment und Mittel des eigenen Heilsweges zu betrachten, als den anderen Menschen in seinen Ansprüchen wirklich ernst zu nehmen, ja als für die eigene Existenz konstitutiv zu verstehen. Damit steht der Gedanke im Raum, dass Esoterik keineswegs nur schlüssige Lösungen für die Aporien der Moderne anzubieten scheint, sondern deren Grunderfahrung bisweilen auch entweder schlicht leugnet oder aber doch in ihren Problemsträngen verstrickt bleibt. Zur Lösung brennender gesamtgesellschaftlicher Probleme, die allesamt die Wahrnehmung und Vermittlung von Differenzerfahrungen ohne Abgleiten in einen wohlfeilen „Oberflächenpluralismus“ (Wolfgang Welsch) erfordern, kann die individualisierte Esoterik sicher wenig beitragen. Das in ihr durchgängig präsente Modell der Selbsterlösung wirft als Vulgärversion indischer Erlösungslehren sogar ernsthafte ethische Probleme auf, wenn etwa behinderte und kranke Menschen oder die Opfer der Shoa für ihr Leiden selbst verantwortlich gemacht werden („schlechtes Karma“). Ein weiterer Schatten fällt auf die propagierte Unschuld der Esoterik, wenn man die offene Abwehr vieler „Erwachter“ gegen monotheistische Religionen betrachtet: Unter dem Deckmantel der nicht selten unausgewiesenen Ideologiekritik wird hier ohne viel Sanftheit und nicht selten recht unentspannt ausdrückliche Intoleranz gepredigt.

Positiv zu werten ist sicher die Intention der Anbieter, vor allem aber der Konsumenten esoterischer Religiosität, Antworten auf die spirituelle Sehnsucht der Menschen zu suchen und zu finden. Hier ist schmerzhaft der Ausfall ganzheitlicher christlicher Gebets- und Frömmigkeitsformen zu vermerken. Auch die Anliegen, zu einem naturgemäßen Lebensstil beizutragen und ein einseitig rationalistisches Weltbild zu überwinden, sind angesichts der zu Recht angefragten Erklärungs- und Lösungskompetenz der Naturwissenschaften affirmativ aufzunehmen – hier kann und sollte immer wieder neu das „interreligiöse“ Gespräch mit Esoterikern auf der Basis solcher ausdrücklicher Gemeinsamkeiten gesucht werden.

Konstruktive Fragen an Theologie und Verkündigung

In diesem Kontext ergeben sich sogar konstruktive Anfragen an Theologie und Verkündigung: Haben sie nicht allzu lange einem instrumentellen Begriff von Schöpfung gehuldigt, der weder deren Eigenwert noch die Gegenwart des Geistes im Sinne einer creatio continua (Origenes) oder die seufzende Mitgeschöpflichkeit der Kreatur wahrhaben wollte, die Paulus noch kannte? Um der Attraktivität des weiterhin um sich greifenden westlich-evolutionär modifizierten Reinkarnationsglaubens zu trotzen, sollte darüber hinaus die Lehre von der Ewigkeit der Hölle auch in Predigt und Pastoral wieder aufgegriffen und überwunden werden. Damit würde nur endlich in der Breite verkündet, was theologisch im Rahmen einer wachsenden Akzeptanz der Allversöhnungs- oder Apokatastasislehre nicht zuletzt in den theologischen Schriften des gegenwärtigen und des jüngst verstorbenen Papstes bereits vorbereitet ist. Diese und andere Fragen reflektiert das überaus informative Positionspapier Jesus Christus, der Spender lebendigen Wassers. Überlegungen zu New Age aus christlicher Sicht, das 2003 von den Päpstlichen Räten für die Kultur und für den interreligiösen Dialog nach langer Konsultation publiziert wurde (vgl. HK, Mai 2003, 115 ff.). Schwierigkeiten bereitet hier allerdings die Engführung des Phänomens auf „New Age“, eine vor allem in den USA der siebziger bis neunziger Jahre verbreitete quasiutopische Unterströmung der Esoterik mit jüdisch/christlichen Wurzeln, die inzwischen angesichts des oben vermerkten „Endes der Geschichte“ in der Esoterik-Szene an Einfluss massiv verloren haben dürfte. Eine bleibende Aufgabe stellt darüber hinaus die mentalitätsgeschichtliche Erforschung einer inzwischen mehr als zweihundertjährigen, nicht immer sehr kenntnisreichen Begeisterung vor allem intellektueller Kreise (Arthur Schopenhauer, Hermann Hesse) im Westen für asiatische Religionen dar, die heute unter anderem im Kontext von Jan Assmanns Monotheismuskritik eine überraschende Aktualität gewonnen hat. Gerade weil es um esoterische Angebote angesichts der weltpolitisch brisanten Konfrontation von Abendland und Morgenland in den letzten Jahren stiller geworden ist, lohnt die Auseinandersetzung mit Grundannahmen wie der Reinkarnation, einem nicht-personalen Gott oder der Alleinheitslehre, die einer großen Zahl von Zeitgenossen längst zum nicht mehr reflektierten religiös-spirituellen Hintergrundrauschen geworden ist.

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